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Ein Kloster ersteht neu

Zwischen Toulouse und Montpellier, im französischen Departement Aveyron, liegt die ehemalige Zisterzienserabtei Sylvanés. Bis zur Ankunft des Dominikanerpaters André Gouze Anfang der Siebziger Jahre wurde sie als Stall benutzt. Mittlerweile ist Sylvanés ein Zentrum von Spiritualität und Ökumene.

Von Susanne von Schenck | 19.08.2007
    Das Aveyron im Süden Frankreichs ist eine ursprüngliche, fast wilde Gegend. Schafherden ziehen über die einsamen Hügel, ab und zu ein kleines Dorf. Karge Hochebenen, verlassene Täler, wenig Menschen.

    "Es ist immer noch eine ländliche Gegend, jedenfalls war das die Hauptprägung vor und kurz nach dem Krieg. Das äußerte sich auch in einer sehr starken Religiosität, die sich auch auf familiäre und soziale Beziehungen auswirkte. Und zwischen Mensch und Umwelt herrschte noch ein ausgewogenes, von Harmonie geprägtes Miteinander. Einiges davon hat sich erhalten. Das Land selbst ist sehr schön, sehr weitläufig, das Aveyron ist ja eines der größten Departements in Frankreich."

    Das ist die Region, aus der André Gouzes stammt. In einem Dorf namens Brusque wird er 1943 geboren. Nach Stationen in Toulouse und Kanada kommt er als junger Dominikanermönch Anfang der siebziger Jahre in seine Heimat zurück und stößt auf die stillgelegte Klosteranlage von Sylvanés: mächtige graue Mauern, ein halber Kreuzgang, ein Scriptorium, ehemalige Klosterzellen und eine große Kirche mit einer einzigartigen Akustik. Ein Bauer des Ortes nutzte damals die verfallenden Gebäude als Stall und Scheune. Bis Emile Castan die Bedeutung der ehemaligen Zisterzienserabtei erkannte. Bereits seit 1965 ist er Bürgermeister von Sylvanés mit seinen 121 Einwohnern:

    "1965 hat die Gemeinde die Gebäude der Abtei gekauft. Im großen Saal waren Schafe, im Kapitelsaal Kühe und im Kreuzgang hatte der Besitzer seine Gerätschaften untergestellt. Wir einigten uns darauf, dass er die Gebäude an die Gemeinde verkaufte. Er erhielt dafür neugebaute am Ortseingang. Schön sind sie nicht, aber was soll es? - Es sollte ja schnell gehen. 1970 waren die Klostergebäude dann freigeräumt. Drei, vier Jahre wussten wir nicht, was wir damit machen sollten. Uns schwebte aber wieder eine religiöse Nutzung vor."

    André Gouzes, damals Anfang dreißig, kam wie gerufen, um die Abtei aus ihrem Tiefschlaf zu wecken. Der Dominikaner befand sich damals in einer persönlichen Krise und stellte die Formen des Priesterdaseins in Frage. Er plante, sich für eine Weile zurückzuziehen und ließ sich im Herbst 1975 in den leerstehenden Klostergebäuden nieder:

    "Eine Unterkunft wie für Clochards: Türen und Fenster klapperten im Wind, das Dach hatte Löcher, es gab kein Wasser, keinen Strom. Die Kirche selbst war so feucht, dass man schon nach einer Stunde total verkühlt und durchgefroren war. Aber trotz all dieser Widerstände gefiel es mir dort sehr. Ich kümmerte mich um Schulkinder, knüpfte Kontakte mit den Dorfbewohnern. Es war für mich auch eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln."

    Die Anfänge von Sylvanés reichen ins frühe Mittelalter zurück. Damals beschloss ein räuberischer Burgenbesitzer, Pons de l'Héras, durch einen plötzlichen Sinneswandel, sein Leben Gott zu widmen. Gemeinsam mit Zisterziensermönchen gründete er 1136 in dem abgelegenen Tal eine Abtei. Schlicht, schmucklos, mächtig und dauerhaft. Mit Blütezeiten und Durststrecken, wie sie eine fast 800 jährige Geschichte mit sich bringt.

    Nach langen Jahren der Pause beginnt André Gouzes in Sylvanés wieder Gottesdienste abzuhalten. Nach und nach wird die Kirche instand gesetzt, bei Kerzenschein Musik gemacht. Der Dominikaner, unzufrieden mit der gängigen Liturgie, die er als verarmt empfindet, beginnt sein großes Werk: die "Liturgie chorale du peuple de Dieu", an dem er bis heute weiterarbeitet. Sie besteht aus zum Teil vergessenen liturgischen Traditionen aus Ost und West. Die Gesänge sind nicht schwierig und bestehen aus Elementen der Gregorianik, polyphonen Volksweisen und slawisch-byzantinischen Klängen.

    André Gouzes ist ein brillanter Redner, ein spiritueller Dichter, der die Menschen mitreißt. Durch sein Wort, durch seine Musik. An den großen christlichen Feiertagen ist die Abteikirche mit ihrem schlichten romanischen Kirchenschiff inzwischen bis in den letzten Winkel gefüllt, gut tausend Menschen haben in ihr Platz. Auch Marguerite Biroux, die am Ortseingang von Sylvanés wohnt, versäumt selten eine seiner Messen:

    "Ich glaube, viele Leute kommen, weil sie hier etwas finden, was ihnen sonst fehlt. Manche entdecken in Sylvanés ihren Glauben wieder, sagt Pater André Gouzes. Sylvanés ist eben Sylvanés. Hier begegnen sich Menschen wirklich, das ist ganz anders als in den Kirchen, die man sonst so kennt. Wenn wir woanders hingehen, sind wir schwer zufrieden zu stellen. Meistens finden wir die Messen dort ziemlich mittelmäßig. Hier sind zum Beispiel die Feiertage etwas einzigartiges, und wenn Sie einmal die Karwoche mitmachen - das finden Sie in keiner anderen Kirche Frankreichs."

    Inzwischen kommen Investmentbanker aus Spanien, Pastorinnen aus der Schweiz, Maurer aus Marseille oder Ingenieure aus Belgien. Sie alle suchen in Sylvanés, was sie in den gängigen Kirchen nicht mehr finden: Freude am Feiern und Zelebrieren, vergessene Rituale, eine einfache, kraftvolle Musik. Wer einmal da war, kehrt meist wieder zurück. Wie Josette Crucifix aus Brüssel. Die Siebzigjährige entdeckt vor über zehn Jahren André Gouzes' Musik und reist seitdem zweimal pro Jahr nach Sylvanés:

    "Ich spüre, dass dieser Ort von Geschichte durchdrungen ist, von Spiritualität. Es sind nicht einfach alte Steine, es ist auch nicht nur die Zisterzienserarchitektur, die mich ansprechen, - es ist das ganze religiöse Leben der Jahrhunderte, das in die Mauern eingeschrieben ist. Man sagt, dass die Steine hier singen, das spüre ich wirklich."

    Während der Sommermonate platzt das Bistro von Sylvanés aus allen Nähten, der sonst leere Parkplatz ist voller Autos, die schlichten Zimmer in den Klostergebäuden sind seit Wochen ausgebucht. Für fast zwei Monate brummt und summt es in dem beschaulich-verschlafenen Ort, in dem es außer dem Kloster und dem Bistro noch einen Souvenirladen, einen etwas rostigen Briefkasten und ein paar Häuser gibt.

    Libanesische Musiker proben in der Kirche, Ägypter mit Turbanen sitzen im Kreuzgang, bunt gekleidete Afrikaner packen ihre Trommeln aus: Aus Sylvanés ist in den letzten dreißig Jahren ein spirituelles und kulturelles Zentrum geworden. Jeden Sommer findet dort das "Féstival internationale de la Musique sacrée" statt, ein Festival für geistliche Musik. Außerdem gibt es zahlreiche Workshops.

    Die Fäden für die Organisation laufen bei Michel Wolkowitzky zusammen. Der ausgebildete Sänger, der auch unterrichtet, hat sein Büro unter dem Dach des Klosters und wohnt mit seiner Familie in der ehemaligen Schule schräg gegenüber. Schon 1975 kam er als Musikstudent mit André Gouzes nach Sylvanés. Der große schlanke Mann, dessen Markenzeichen ein lässig um den Hals geschlungener Schal ist, ist aus Sylvanés nicht mehr wegzudenken:

    "Das ist das Einzigartige in Sylvanés: Der Ort schafft eine Verbindung zwischen Kunst, besonders Musik, und Spiritualität. Beim Festival kommen die großen geistlichen Traditionen der Welt zusammen, in der Musik, im Gesang, in der mystischen Poesie und im Tanz - alles Traditionen, in denen sich eine Form des Gebets bewahrt hat."

    Jeden Sonntag braust André Gouzes mit wehender Kutte auf seinem Moped zur Messe nach Sylvanés. Denn der Dominikaner hat sich aus dem Ort selbst zurückgezogen - in eine umgebaute Scheune in den Hügeln, ca. vier Kilometer vom Kloster entfernt. "La Grange" heißt das Anwesen, das um einen modernen Kreuzgang herum angelegt ist. Ein rechteckiger Esssaal, in dem gut fünfzig Menschen Platz haben, mit einem mächtigen Kamin, eine zweigeschossige offene Bibliothek mit Arbeitstischen, helle, einfache Schlafräume. Wer das Bedürfnis nach Ruhe und Einkehr verspürt, kann sich in "La Grange" einmieten.

    Da, wo man dich hinpflanzt, versuche zu blühen, sagt ein Sprichwort. Auf André Gouzes scheint es in besonderem Maße zuzutreffen. Nicht nur das. Er ist ein Mensch, dem fast alles zu gelingen scheint, der auf unkonventionelle Weise seine Ziele erreicht. Sein letztes Abenteuer: der Bau einer russischen Holzkirche. Sie steht wenige Kilometer von Sylvanés und nur wenige Schritte von La Grange entfernt auf einem Hügel mitten im Wald und ist inzwischen zu einer Touristenattraktion geworden. Ein einzigartiges Bauwerk in Westeuropa. Auf einer Reise durch Russland, kurz nach dem Fall der Mauer, entdeckte der Dominikaner - seit Jahren an der Orthodoxie interessiert - die russischen Holzkirchen und war fasziniert. Sein Traum: ein solches Bauwerk in der Nähe von Sylvanés zu errichten. Als Zeichen der Ökumene:

    "Die Orthodoxie, das sagte schon Papst Johannes Paul II., ist die andere Hälfte von uns, der andere Lungenflügel, den wir zum Atmen brauchen. Das westliche Christentum allein ist nicht genug, um sich den Reichtum der Tradition und die Geschichte des Christentums zu vergegenwärtigen. Ob Spiritualität, religiöse Anthropologie, Sinn fürs Mysterium, für Mystik, für Theologie - für all das haben die Orthodoxen die Grundsteine gelegt. Die ersten Konzile fanden im Orient statt. All die Bewegungen des Christentums im Mittelalter waren nur möglich, weil es da schon diese Basis gab. Ich glaube, der Orient ist heute wichtiger denn je. Denn der Westen durchlebt eine schwere Krise, hervorgerufen durch den Rationalismus. Viele Traditionen sind vertrocknet. Der Orient kann uns wiederbeleben."

    Einer seiner Mitbrüder erbt plötzlich Geld und gibt es für den Bau einer russischen Kirche. In den Wäldern um Kirov, ca. tausend Kilometer östlich von Moskau, machen sich einheimische Zimmerleute an die Arbeit.

    "Nach einem Jahr wurden wir eingeladen, um die Arbeiten in einem großen Wald anzuschauen, wo sie wunderbare, riesige Baumstämme gefällt hatten. Wir waren vollkommen aus der Fassung angesichts dieser Dimensionen. Das sind wohl russische Maßstäbe. Es war keine kleine Kapelle mehr, sondern beinahe eine Kathedrale aus Holz."

    Im Stil der russischen Holzkirchen des 17. Jahrhunderts erbaut, hat sie eine Grundfläche von fast 300 Quadratmetern, zwei Seitenschiffe und einen 26 m hohen Glockenturm. Auch die für Russland typischen Zwiebeltürme fehlen nicht. Aber wie soll dieser mächtige Bau jemals bis nach Frankreich kommen? Wieder hat André Gouzes Glück:

    "Zurück aus Russland feierte ich eine Hochzeit, der Onkel der Braut war gerade zum Direktor der SNCF ernannt worden. Er war verantwortlich für die innereuropäischen Transporte mit dem sich öffnenden Osten. Ich erzählte ihm die Geschichte und er war begeistert. Wissen Sie, wir suchen etwas, wo wir als Mäzen auftreten können, sind Sie damit einverstanden, dass wir den Transport übernehmen und daraus ein europäisches Emblem von Ost nach West für die SNCF machen, ein Symbol für den Frieden. Ich war begeistert. Wir gaben ein bisschen Geld, er ergänzte, was noch fehlte."

    Und so bauen die Russen die Kirche wieder auseinander und beladen sechzehn Waggons mit durchnummerierten Baumstämmen. 500 Tonnen Holz werden quer durch Europa geschickt. Auf einem Hügel bei Sylvanés wird diese in Westeuropa einzigartige Kirche wieder errichtet - und ist seitdem zu einem Ort der Begegnung zwischen Orthodoxen, Katholiken und Protestanten geworden. Und zu einem Touristenmagnet. André Gouzes wird seinen nächsten Traum, die Decke der Holzkirche mit russischen Ikonen ausmalen zu lassen, sicher auch noch irgendwann verwirklichen.