Archiv


Ein kompliziertes Verhältnis

Anders als die gefestigte deutsch-französische Freundschaft ist die zwischen Deutschland und Polen noch fragil. Auf beiden Seiten kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Konrad Schuller hat eben diesen Umstand zum Ausgangspunkt seines neuen Buches gemacht.

Von Johanna Herzing |
    "Die Anfangsfrage des Buches, die ich als Autor vor mir hatte, war: Warum ist es heute so wie es ist? Warum haben wir heute noch zwischen Polen und Deutschland so viele unbeantwortete Fragen? Und warum verstehen wir Deutsche Polen so schlecht? Die Frage stellte ich mir auch selbst als frischgebackener Korrespondent, der von dem Land vorher nicht viel Ahnung gehabt hatte. Von dieser Gegenwartsfrage aus bin ich nach Borow gekommen, weil ich da glaubte, die Antwort zu finden, warum wir bis heute so viele Schwierigkeiten haben, zu kapieren, was in Polen los ist."

    Borow – so lautet der Name eines kleinen Dorfes im Südosten Polens rund 90 Kilometer von Lublin entfernt. Weshalb ausgerechnet in einer Gemeinde mit 489 Einwohnern der Schlüssel zu solch bedeutsamen Fragen liegen soll, erklärt sich durch die Vorgeschichte dieses Ortes. Denn am 2. Februar 1944 haben deutsche Soldaten Borow mitsamt seiner Einwohnerschaft beinahe vollständig ausgelöscht. Die "Befriedungsaktion" – wie sie von deutscher Seite euphemistisch genannt wurde – war vordergründig gegen polnische Partisanen und sogenannte Widerständler gerichtet. Tatsächlich diente sie den deutschen Soldaten als Vorwand zu einer abscheulichen Mordaktion, die weder Frauen, Kinder, noch alte Menschen verschonte. Dieses Schicksal ereilte am selben Tag auch vier weitere Dörfer in der Gegend. Wie viele Menschen dabei ums Leben kamen, ist bis heute unklar. Untersuchungen des polnischen Instituts der nationalen Erinnerung zufolge starben bei der Aktion über 900 Dorfbewohner. Dass die Brutalität, mit der die Soldaten vorgingen, kein spontaner Gewaltausbruch, sondern symptomatisch für Hitlers Feldzug im Osten war, belegt Schuller mit einem Auszug aus einer Ansprache Hitlers vor Wehrmachtsgenerälen am 22. August 1939:

    "Vernichtung Polens im Vordergrund"; schärft der Führer seinen Generälen ein. "Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte. Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. Vorallem", notiert der Protokollant, "seien alle Vertreter der polnischen Intelligenz umzubringen. Dies klinge hart, sei aber nun einmal Lebensgesetz." Die "Totenkopfverbände" der SS hätten deshalb Befehl, "unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken". – "Seien Sie hart, seien Sie schonungslos" verlangte Hitler. "Handeln Sie schneller und brutaler als die anderen. Die Bürger Westeuropas müssen vor Entsetzen erbeben."

    Gemessen an der Einwohnerzahl des Landes wurde Polen von den kriegsbetroffenen Staaten am stärksten "zerstört", etwa fünfeinhalb bis sechs Millionen Menschen kamen ums Leben. Etwa 750 polnische Dörfer wurden – wie Schuller schreibt – "von den deutschen Soldaten mit Stumpf und Stiel ausgerottet". Das Entsetzen, das Hitler so dringend herbeiführen wollte, hält bis heute an. Die Erzählungen der Alten, der wenigen Überlebenden dieser Zeit sind zum festen Bestandteil der mündlichen Überlieferung geworden, mit der Kinder und Enkelkinder aufwachsen. Und wie sollte die Vergangenheit auch ruhen, wenn bis heute kaum einer der Soldaten, die in Borow und Umgebung wüteten, brandschatzten und mordeten, zur Verantwortung gezogen wurde. Grund dafür ist nicht nur die schlechte Beweislage. Viele, die als Täter identifiziert werden konnten, beriefen sich später auf den sogenannten "Befehlsnotstand". Schuller will diese Begründung so jedoch nicht gelten lassen. Selbst in Borow habe es Beispiele gegeben, die belegten, dass es Alternativen gab:

    "Und es gab die ganz wenigen, an die die Leute von Borow sich auch erinnern, die versucht haben, als Angehörige der deutschen Einheit, die eigentlich das Dorf auslöschen sollte, einzelnen Bewohnern des Dorfes zur Flucht zur verhelfen. Also es gab diese einzelnen deutschen Soldaten, deren Beispiel auch sagt: Man hatte bis zum Schluss die Wahl, ob man mitmachen wollte und auf welche Weise man mitmachen wollte. Das macht für mich die These unglaubwürdig, dass in jedem Fall bei der Beteiligung an einem solchen Verbrechen Befehlsnotstand – das heißt, das Argument 'wir mussten es ja tun, sonst wären wir selbst bestraft oder sogar hingerichtet worden' – dass das Geltung haben kann."

    Die Frage nach dem "Warum?", nach den Gründen für das bestialische Morden – sie kann in diesem Bericht nicht ausbleiben. Schuller greift auf Beispiele von Pogromen der Antike und der frühen Menschheitsgeschichte zurück, um seinen Erklärungsansatz letztlich auf die Konstruktion des Fremden zu stützen. Nur eine "Überidentifikation" mit der eigenen Gruppe in extremer Abgrenzung von einer als anders und fremd definierten Gruppe ermögliche solch unmenschliche Grausamkeit. Ein plausibler Ansatz, der allerdings bedenklich nah an der soziologisch-ethnologischen Binsenweisheit ist und der entbehrlich gewesen wäre. Zudem vollzieht Schuller in seinem Buch gewissermaßen einen historischen Rundumschlag, zieht Erzählfäden bis in die Gegenwart und streift unterwegs Vertreibungsgeschichte, Kommunismus, Solidarnosc und die gegenwärtigen deutsch-polnischen Beziehungen. Auch dies ist naheliegend, lassen sich die Ereignisse doch schwer voneinander trennen. Zugleich verwirrt das viele Hin-und Herspringen und komplexe Sachverhalte bleiben bei einem Umfang von rund 200 Seiten oft zwangsläufig an der Oberfläche.

    Hingegen glänzt Schuller da, wo er nicht erklärt, wo er als präziser und mitfühlender Beobachter wirkt. Warmherzig tritt er den Überlebenden gegenüber, gewinnt ihr Vertrauen und schildert ihre sehr persönlichen Erinnerungen ebenso feinfühlig wie die Gegenwart, in der sie leben.

    Mieczysław Stępien hat mich nach dieser Geschichte durch die Zimmer geführt, durch sein altes Witwerhaus, wo die Ordnung nicht mehr halten will, seit die Frau nicht mehr da ist, wo Teller und Tassen, Kisten und Schüsseln sich selbstständig machen, mal hier herumstehen, mal dort – was soll's. Der alte Stępien hat dann zwischen Stall und Herd noch viele Geschichten erzählt: vom kleinen Stanisław Bierut, der eine Kugel im Kopf hatte, und den die Männer im Versteck schon ersticken wollten, weil er nicht aufhören wollte zu schreien.

    In einer sehr eindringlichen, beinahe schon poetischen Sprache und mit bemerkenswerter Beobachtungsgabe gelingt es dem Autor, Mitgefühl und Verständnis zu erzeugen. Dem Nachbarland Polen kommt der deutsche Leser dadurch sicher ein gutes Stück näher.

    Konrad Schuller ist der Autor des Buches "Der letzte Tag von Borów". Erschienen ist es im Herder Verlag, 199 Seiten für 17 Euro 95 (ISBN 978-3-451-30116-2). Die Rezensentin war Johanna Herzing.