Der Niedergang Europas ist häufig beschworen worden in den letzten Jahrzehnten. Meist wurde dabei der Blick auf die relative militärische Schwäche des alten Kontinents gerichtet oder auf die Frage nach seiner wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit. In dem neuen Essay von Walter Laqueur spielen diese Themen auch eine Rolle. Im Mittelpunkt des von ihm entwickelten Krisenszenarios steht jedoch ein anderes Argument.
" Vor dem Ersten Weltkrieg war Europa die führende Kraft in der ganzen Welt. 20 Prozent aller Menschen oder 25 Prozent der Menschheit lebte in Europa. Heute sind es weniger als 10 Prozent, und noch eine Generation weiter werden es vier oder fünf Prozent sein."
Europa gehen also die Menschen aus. Vor allem die jungen Menschen, die in Zukunft nicht nur den Wohlstand erwirtschaften sollen, sondern - und das erscheint Laqueur noch viel wichtiger - die als Bürger politisch einstehen sollen für das europäische Modell von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und sozialem Ausgleich. Der einzige Ausweg aus der demografischen Falle, argumentiert Laqueur, könnte eine vermehrte Einwanderung sein: aus Nordafrika, dem Nahen Osten und der Türkei.
Doch Einwanderer aus diesen Ländern werden nicht helfen können, Europas Probleme zu lösen, da ist sich Laqueur sicher. Als Begründung dient ihm die Geschichte von vier Jahrzehnten gescheiterter Integration in Europa, die er schonungslos offen beschreibt, aber ohne einseitige Schuldzuweisungen. Einerseits erscheinen ihm die Mehrheitsgesellschaften aller wichtigen europäischen Länder immer noch nicht eingestellt auf große Einwandererzahlen. Vielmehr zeigten sie nach wie vor Züge von Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie. Die Mehrheit der Einwanderer seien aber nun mal Moslems. Die große Masse dieser Moslems hält Laqueur wiederum für nicht vorbereitet auf ein Leben in den offenen Gesellschaften Europas.
" Die Demokratie wird von den radikalen Muslimen völlig verdammt und von der Mehrzahl ziemlich gleichgültig behandelt."
Im Ergebnis sieht Laqueur überall in Europa eine wachsende Entfremdung zwischen schrumpfender Mehrheitsgesellschaft und wachsender Minderheit. In einzelnen Kapiteln beschreibt er die verschiedenen Wanderungsbewegungen von Pakistan nach Großbritannien, von Nordafrika nach Frankreich oder aus der Türkei nach Deutschland. An manchen Stellen übertreibt er bei der Darstellung der daraus resultierenden Probleme, etwa wenn er kolportiert: In Stadtteilen wie Berlin-Wedding könne man nachts kaum unbewaffnet auf die Straße gehen. Unbestreitbar aber ist seine Beobachtung, dass sich in allen wichtigen europäischen Städten längst Viertel etabliert haben, in denen Einwanderer die Mehrheit stellen. Laqueur ist überzeugt davon, dass sich diese Viertel bis zur Mitte unseres Jahrhunderts auswachsen werden zu Enklaven, in denen vornehmlich muslimische Gruppen die lokale Politik dominieren und die Regeln des Zusammenlebens bestimmen werden. Als Folge, so Laqueur, werden die hergebrachten europäischen Vorstellungen von Recht und Gesetz, von Freiheit und Toleranz an Bedeutung verlieren.
" Es gibt die Forderung, dass doch weitgehend Rücksichtnahme auf die moslemische Mentalität und die Religion und die Tradition genommen wird. Das heißt also, dass keine irgendwie provozierende Dinge geschehen - ob das nun kritische Artikel in den Zeitungen sind oder Miniröcke. Ich meine, all diese Dinge - jedes an sich ist nicht sehr wichtig -, aber sie addieren sich irgendwie, und ich glaube, sie führen zu einer deutlichen Veränderung in der politischen Kultur der Länder Europas."
An diesem Punkt klingt Laqueur fast so, als wollte er den viel zitierten Kampf der Kulturen jetzt auch im Innern Europas heraufbeschwören. Doch statt dessen kommt er in seinem Schlusskapitel zu einer anderen Prognose:
Der nächste Kulturkampf wird sich nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen abspielen, sondern im Lager der Gläubigen. Unter den Intellektuellen ist man immer weniger geneigt, sich mit einer Religion zu identifizieren, die unter dem Einfluss radikaler Interpreten immer primitiver geworden ist und die überdies immer mehr mit politischer Gewalt gleichgesetzt wird. ... Unter den Frauen ... gewinnt die Forderung nach einem Islam an Boden, der ihnen mehr Rechte gibt, als die Fundamentalisten ihnen zugestehen wollen.
Vielleicht lassen sich also wenigstens Teile der muslimischen Gemeinschaften doch noch gewinnen für das europäische Modell von Rechtsstaat und Demokratie. Ohne Konflikte wird das aber kaum gelingen. Und diese Konflikte werden nach Laqueurs Ansicht hart genug, um den allzu selbstgefälligen Optimismus zu erschüttern, den er aus vielen offiziellen EU-Papieren herausliest. In denen haben Europas Politiker, nach Laqueurs Interpretation, ihren Kontinent schon zu einer Art moralischen Supermacht des 21. Jahrhunderts stilisiert.
Aus europäischer Sicht stellte sich die Welt als ein Ort dar, an dem Gesetze, Regeln und internationale Zusammenarbeit immer mehr Bedeutung erlangten, während militärische und sogar politische Macht Zug um Zug entbehrlicher wurden. ... Diese Weltsicht basierte auf der Annahme, dass die ganze Welt so sei - oder in naher Zukunft so sein werde - wie West- und Nordeuropa. Schließlich beneide der Rest der Welt Europa um dessen Herrschaft von Recht und Gesetz. Doch diese Sicht war losgelöst von allen Realitäten.
Nachdem die Europäer lange Zeit geglaubt hätten, immer mehr Länder würden sich an ihnen orientieren, dürften sie in der Zukunft kaum umhin kommen, anderen, vor allem der muslimischen Welt gegenüber, Zugeständnisse zu machen. Walter Laqueur befürchtet, dass ein alterndes und immer konfliktscheuer werdendes Europa viel zu weit gehen könnte bei diesen Zugeständnissen.
" Es gibt in Europa politisch und kulturell sehr viel, das nachahmenswert ist, beginnend mit dem Sozialstaat: dass Leute keine Angst mehr haben müssen, dass sie hungern oder dass es keine medizinische Hilfe gibt, wenn sie krank werden, oder dass Menschen frei sind zu sagen, was sie denken. Für all diese Dinge sollte man kämpfen."
Ob die Europäer die Kraft und den politischen Willen haben werden, die juristischen, kulturellen und sozialen Standards ihrer Zivilgesellschaften zu verteidigen oder nicht, das kann natürlich auch Walter Laqueur nicht vorhersagen. Und so kann er auch seine Prophezeiung vom Niedergang Europas nicht zwingend begründen. Was ihm aber gelingt ist eine klare, manchmal dramatische Schilderung von Widersprüchen und Konflikten, auf die Europa zusteuert. Weil er diese Beschreibung in einem stets erzählenden und niemals belehrendem Stil abfasst, weil er nüchterne Daten und Fakten immer wieder mit kleinen Alltagsgeschichten kombiniert, dürfte Walter Laqueur weit über den akademischen Bereich hinaus Leser finden, die sich für eine Debatte über die Zukunftsperspektiven europäischer Einwanderungsgesellschaften interessieren.
Walter Laqueur: Die letzten Tage von Europa - ein Kontinent verändert sein Gesicht
Aus dem Englischen von Henning Thies.
Propyläen Verlag, Berlin 2006,
208 Seiten, 19,90 Euro.
" Vor dem Ersten Weltkrieg war Europa die führende Kraft in der ganzen Welt. 20 Prozent aller Menschen oder 25 Prozent der Menschheit lebte in Europa. Heute sind es weniger als 10 Prozent, und noch eine Generation weiter werden es vier oder fünf Prozent sein."
Europa gehen also die Menschen aus. Vor allem die jungen Menschen, die in Zukunft nicht nur den Wohlstand erwirtschaften sollen, sondern - und das erscheint Laqueur noch viel wichtiger - die als Bürger politisch einstehen sollen für das europäische Modell von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und sozialem Ausgleich. Der einzige Ausweg aus der demografischen Falle, argumentiert Laqueur, könnte eine vermehrte Einwanderung sein: aus Nordafrika, dem Nahen Osten und der Türkei.
Doch Einwanderer aus diesen Ländern werden nicht helfen können, Europas Probleme zu lösen, da ist sich Laqueur sicher. Als Begründung dient ihm die Geschichte von vier Jahrzehnten gescheiterter Integration in Europa, die er schonungslos offen beschreibt, aber ohne einseitige Schuldzuweisungen. Einerseits erscheinen ihm die Mehrheitsgesellschaften aller wichtigen europäischen Länder immer noch nicht eingestellt auf große Einwandererzahlen. Vielmehr zeigten sie nach wie vor Züge von Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie. Die Mehrheit der Einwanderer seien aber nun mal Moslems. Die große Masse dieser Moslems hält Laqueur wiederum für nicht vorbereitet auf ein Leben in den offenen Gesellschaften Europas.
" Die Demokratie wird von den radikalen Muslimen völlig verdammt und von der Mehrzahl ziemlich gleichgültig behandelt."
Im Ergebnis sieht Laqueur überall in Europa eine wachsende Entfremdung zwischen schrumpfender Mehrheitsgesellschaft und wachsender Minderheit. In einzelnen Kapiteln beschreibt er die verschiedenen Wanderungsbewegungen von Pakistan nach Großbritannien, von Nordafrika nach Frankreich oder aus der Türkei nach Deutschland. An manchen Stellen übertreibt er bei der Darstellung der daraus resultierenden Probleme, etwa wenn er kolportiert: In Stadtteilen wie Berlin-Wedding könne man nachts kaum unbewaffnet auf die Straße gehen. Unbestreitbar aber ist seine Beobachtung, dass sich in allen wichtigen europäischen Städten längst Viertel etabliert haben, in denen Einwanderer die Mehrheit stellen. Laqueur ist überzeugt davon, dass sich diese Viertel bis zur Mitte unseres Jahrhunderts auswachsen werden zu Enklaven, in denen vornehmlich muslimische Gruppen die lokale Politik dominieren und die Regeln des Zusammenlebens bestimmen werden. Als Folge, so Laqueur, werden die hergebrachten europäischen Vorstellungen von Recht und Gesetz, von Freiheit und Toleranz an Bedeutung verlieren.
" Es gibt die Forderung, dass doch weitgehend Rücksichtnahme auf die moslemische Mentalität und die Religion und die Tradition genommen wird. Das heißt also, dass keine irgendwie provozierende Dinge geschehen - ob das nun kritische Artikel in den Zeitungen sind oder Miniröcke. Ich meine, all diese Dinge - jedes an sich ist nicht sehr wichtig -, aber sie addieren sich irgendwie, und ich glaube, sie führen zu einer deutlichen Veränderung in der politischen Kultur der Länder Europas."
An diesem Punkt klingt Laqueur fast so, als wollte er den viel zitierten Kampf der Kulturen jetzt auch im Innern Europas heraufbeschwören. Doch statt dessen kommt er in seinem Schlusskapitel zu einer anderen Prognose:
Der nächste Kulturkampf wird sich nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen abspielen, sondern im Lager der Gläubigen. Unter den Intellektuellen ist man immer weniger geneigt, sich mit einer Religion zu identifizieren, die unter dem Einfluss radikaler Interpreten immer primitiver geworden ist und die überdies immer mehr mit politischer Gewalt gleichgesetzt wird. ... Unter den Frauen ... gewinnt die Forderung nach einem Islam an Boden, der ihnen mehr Rechte gibt, als die Fundamentalisten ihnen zugestehen wollen.
Vielleicht lassen sich also wenigstens Teile der muslimischen Gemeinschaften doch noch gewinnen für das europäische Modell von Rechtsstaat und Demokratie. Ohne Konflikte wird das aber kaum gelingen. Und diese Konflikte werden nach Laqueurs Ansicht hart genug, um den allzu selbstgefälligen Optimismus zu erschüttern, den er aus vielen offiziellen EU-Papieren herausliest. In denen haben Europas Politiker, nach Laqueurs Interpretation, ihren Kontinent schon zu einer Art moralischen Supermacht des 21. Jahrhunderts stilisiert.
Aus europäischer Sicht stellte sich die Welt als ein Ort dar, an dem Gesetze, Regeln und internationale Zusammenarbeit immer mehr Bedeutung erlangten, während militärische und sogar politische Macht Zug um Zug entbehrlicher wurden. ... Diese Weltsicht basierte auf der Annahme, dass die ganze Welt so sei - oder in naher Zukunft so sein werde - wie West- und Nordeuropa. Schließlich beneide der Rest der Welt Europa um dessen Herrschaft von Recht und Gesetz. Doch diese Sicht war losgelöst von allen Realitäten.
Nachdem die Europäer lange Zeit geglaubt hätten, immer mehr Länder würden sich an ihnen orientieren, dürften sie in der Zukunft kaum umhin kommen, anderen, vor allem der muslimischen Welt gegenüber, Zugeständnisse zu machen. Walter Laqueur befürchtet, dass ein alterndes und immer konfliktscheuer werdendes Europa viel zu weit gehen könnte bei diesen Zugeständnissen.
" Es gibt in Europa politisch und kulturell sehr viel, das nachahmenswert ist, beginnend mit dem Sozialstaat: dass Leute keine Angst mehr haben müssen, dass sie hungern oder dass es keine medizinische Hilfe gibt, wenn sie krank werden, oder dass Menschen frei sind zu sagen, was sie denken. Für all diese Dinge sollte man kämpfen."
Ob die Europäer die Kraft und den politischen Willen haben werden, die juristischen, kulturellen und sozialen Standards ihrer Zivilgesellschaften zu verteidigen oder nicht, das kann natürlich auch Walter Laqueur nicht vorhersagen. Und so kann er auch seine Prophezeiung vom Niedergang Europas nicht zwingend begründen. Was ihm aber gelingt ist eine klare, manchmal dramatische Schilderung von Widersprüchen und Konflikten, auf die Europa zusteuert. Weil er diese Beschreibung in einem stets erzählenden und niemals belehrendem Stil abfasst, weil er nüchterne Daten und Fakten immer wieder mit kleinen Alltagsgeschichten kombiniert, dürfte Walter Laqueur weit über den akademischen Bereich hinaus Leser finden, die sich für eine Debatte über die Zukunftsperspektiven europäischer Einwanderungsgesellschaften interessieren.
Walter Laqueur: Die letzten Tage von Europa - ein Kontinent verändert sein Gesicht
Aus dem Englischen von Henning Thies.
Propyläen Verlag, Berlin 2006,
208 Seiten, 19,90 Euro.