Die erste Kundin an diesem sonnigen Donnerstagmorgen stürzt schon wenige Minuten nach zehn Uhr herein. Sie suche ein Buch über essbare Garnituren, erklärt die Dame und präzisiert: für ein brasilianisches Hochzeitsbüffet. Während sie sich in die ihr gezeigten Titel vertieft, klingelt das Telefon. Ob jetzt endlich etwas über japanische Backkunst hereingekommen sei, will der Herr am anderen Ende der Leitung wissen. Leider nein, lautet die bedauernde Antwort, Japaner seien nun mal keine Nation von Bäckern und bereiteten einzig im Zusammenhang mit traditionellen Teezeremonien gelegentlich Gebäckartiges zu. Literatur zu diesem Thema sei im Westen nie erschienen und in Japan vergriffen. Würde sich der Mann am Telefon für Suppenrezepte aus dem England unter William I, für Jakob Böhme und den Vegetarismus oder für eine Karriere als Gardemanger und die entsprechenden Lehrbücher erwärmen, könnte ihm hier geholfen werden.
"Hier” ist Kitchen Arts & Letters. "Hier” ist eine kleine Buchhandlung an der New Yorker Upper East Side, die seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren Gastronauten jeglicher Natur und Herkunft glücklich macht, indem sie Kochlehrlinge mit den Werken grosser Meister, grosse Meister mit neuen Ideen und Freizeit-Gourmets mit Leckerbissen im Taschenbuch- oder Bildbandformat versorgt.
Gründer dieses kulinarischen Nirvanas ist Nach Waxman. Der rundliche Herr, der stets eine Baseballkappe und meistens Hosenträger trägt, bildet Hirn und Herz des Geschäfts:
" Ich gründete die Buchhandlung in der Annahme, dass die Kundschaft hauptsächlich aus Leuten bestehen würde, die beruflich mit Essen zu tun haben - also aus Köchen, Lehrern, Autoren, Farmern oder Nahrungsmittelherstellern. Unser Angebot sollte sie alle ansprechen. ... we've designed a store that is for all of those audiences. "
Sprecher: Inzwischen hat sich die Feinschmeckerei zum Volkssport entwickelt. Spitzenköche tingeln wie Popstars von einem Kameraauftritt zum nächsten, und wer nicht mindestens sieben Essigsorten im Küchenschrank stehen und ein dreißiggängiges Menü in Ferran Adriàs Gaumentempel elBulli hinter sich hat, ist irgendwie von vorgestern. Nach Waxman interessieren die Hochglanzseiten des Gastrozirkus freilich herzlich wenig. Obgleich in Kitchen Arts & Letters immer mal wieder jemand nach dem neusten unbrauchbaren Schinken von Fernsehkellenschwinger XY verlangt, sind nach wie vor die meisten von Waxmans Kunden Kulinariker aus Leidenschaft. Und oft auch von Beruf:
" Es passiert immer wieder, dass ein Koch, der eine Weile nicht hier gewesen ist, hereinkommt und sagt: Ich fühle mich ausgepumpt, ich brauche frischen Saft. Sie suchen hier nach neuen Inspirationen. Es ist aufregend, diesen Prozess zu vefolgen. Besonders bei jungen Köchen. Die kommen oft zu zweit oder zu dritt her, weil ihr Chef sie geschickt hat. Sie verschlingen unsere Bücher geradezu und schauen sich besonders die Fotos von einzelnen Gerichten genau an. Dann diskutieren sie darüber: Oh, dieses Rezept ist wirklich cool, sagt der eine, ich glaube, ich würde das mit Grapefruit versuchen! "
Sprecher: Nach Waxman liebt solche Gespräche, ob er daran teilnimmt oder bloss zuhört. Denn so ernsthaft in Kitchen Arts & Letters häufig übers Essen und Gefressenwerden debattiert wird, so ausführlich man die Ethik des Bananenkaufs, die jüngste Agrarreform oder die Revolutionsgeschichte des russischen Service erörtert, so zentral ist in Waxmans Augen, was er das "homo-ludens-Konzept” nennt:
" Wir sind unkontrollierbare Spieler bei allem, was wir tun. Und ich glaube, dass schon im alten Mesopotamien oder Ägypten Leute darüber stritten, ob der Getreidebrei nun süss oder salzig besser schmecke. Ja, dass schon ein Höhlenmensch den anderen davon zu überzeugen versuchte, dass seine Methode, ein Stück Fleisch über dem Feuer zu braten, die raffiniertere sei. Das macht Essen und alles, was damit zu tun hat, doch so spannend. Wir können einfach nicht aufhören, damit zu spielen. "
Ungefähr die Hälfte des Angebots in Kitchen Arts & Letters besteht aus Kochbüchern. Da Nach Waxmans Ansicht nach viele Kochbücher amerikanischer Provenienz höchstens als Leitfäden für Rührei-Idioten taugen, importiert er zahlreiche Titel. So findet man hier Pierre Hermés "L'Art du Macaron” ebenso wie Dani Garcías "Técnica y contrastes” und "Dieter Müller” von Dieter Müller.
Allerdings vertritt man bei Kitchen Arts & Letters eine ganz eigene Philosophie, was den Umgang mit und den Sinn von Kochbüchern angeht:
" Wir bemühen uns hier ungewöhnlich energisch darum, unsere Kunden vom allzu häufigen Gebrauch von Rezepten abzubringen. Rezeptsklaven, wir wir sie nennen, versuchen wir dazu zu ermuntern, ihrem eigenen Geschmack zu vertrauen. Wir möchten, dass sie anfangen selbstständig zu denken. Also: Aha, eine Zwiebel - soll ich die nun in dicke oder dünne Scheiben schneiden, fein oder grob hacken? Wie soll mein Gericht am Schluss eigentlich schmecken? Welche Konsistenz, welches Aroma soll es haben? Idealerweise blättert jemand ein Kochbuch, das er bei uns gekauft hat, zuhause durch, entscheidet sich für ein Gericht, das er gerne probieren möchte, und liest das Rezept zwei-, dreimal durch. Dann legt er das Buch weg und fängt mit einer Mischung aus Inspiration, Wagemut und schierer Lust zu kochen an. Ohne das Rezept auswendig gelernt zu haben, sondern mit der Erinnerung daran, was für ein Gericht daraus werden soll. "
Überhaupt mag es Nach Waxman nicht, wenn man Kitchen Arts & Letters als Kochbuchhandlung bezeichnet. Das fällt einem angesichts der zweiten Hälfte des Sortiments auch gar nicht ein. Dieser Teil umfasst so ziemlich alles, was über den Menschen, Nahrung und wie beides zusammenfindet, je zu Papier gebracht worden ist. Das Reiskorn in der bildenden Kunst? Aber sicher, dort oben rechts im blauen Umschlag. Das Motive des Puddings in Sherlock Homes-Romanen? Gleich darunter. Die Neuroanatomie des Geschmacks? Restaurantmanagement? Kingsley Amis über die Wonnen guter Tropfen? Alles vorhanden. Und sollte Kitchen Arts & Letters das Jahrbuch des Oxforder "Symposium on Food and Cookery” von 1987 gerade nicht an Lager haben, wird es einem Nach Waxman mit Vergnügen besorgen.
Es sei die Kultur, die ganze reiche Welt des Essens, mit der sie sich bei Kitchen Arts and Letters beschäftigten, erklärt Nach Waxman:
" Ich glaube, unsere Ernsthaftigkeit in dieser Hinsicht hat uns die Trivialität und die frivole Haltung von Leuten zu überwinden helfen, die bloss hier sind, weil's schick und feines Essen gerade in aller Munde ist. Gelingt es uns nicht, die Leute zum ganz grundsätzlichen Nachdenken übers Essen zu animieren, sind wir in unserer Absicht gescheitert. "
Von Scheitern kann nach fünfundzwanzig Jahren natürlich keine Rede sein. Auch nicht im Fall der Dame, die Kitchen Arts & Letters nach eineinhalb Stunden zwar ohne ein Buch über essbare Garnituren für ein brasilianisches Hochzeitsbüfett verlässt. Die dafür aber einen Band über Cocktails des 19. Jahrhunderts und einen anderen über Kochen mit Heilkräutern gefunden hat.
Kitchen Arts & Letters, 1435 Lexington Avenue, New York, NY 10128. Telefon: 212 876 5550.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 11-18.30 Uhr, Samstag 11-18 Uhr, Montag 13-18 Uhr.
"Hier” ist Kitchen Arts & Letters. "Hier” ist eine kleine Buchhandlung an der New Yorker Upper East Side, die seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren Gastronauten jeglicher Natur und Herkunft glücklich macht, indem sie Kochlehrlinge mit den Werken grosser Meister, grosse Meister mit neuen Ideen und Freizeit-Gourmets mit Leckerbissen im Taschenbuch- oder Bildbandformat versorgt.
Gründer dieses kulinarischen Nirvanas ist Nach Waxman. Der rundliche Herr, der stets eine Baseballkappe und meistens Hosenträger trägt, bildet Hirn und Herz des Geschäfts:
" Ich gründete die Buchhandlung in der Annahme, dass die Kundschaft hauptsächlich aus Leuten bestehen würde, die beruflich mit Essen zu tun haben - also aus Köchen, Lehrern, Autoren, Farmern oder Nahrungsmittelherstellern. Unser Angebot sollte sie alle ansprechen. ... we've designed a store that is for all of those audiences. "
Sprecher: Inzwischen hat sich die Feinschmeckerei zum Volkssport entwickelt. Spitzenköche tingeln wie Popstars von einem Kameraauftritt zum nächsten, und wer nicht mindestens sieben Essigsorten im Küchenschrank stehen und ein dreißiggängiges Menü in Ferran Adriàs Gaumentempel elBulli hinter sich hat, ist irgendwie von vorgestern. Nach Waxman interessieren die Hochglanzseiten des Gastrozirkus freilich herzlich wenig. Obgleich in Kitchen Arts & Letters immer mal wieder jemand nach dem neusten unbrauchbaren Schinken von Fernsehkellenschwinger XY verlangt, sind nach wie vor die meisten von Waxmans Kunden Kulinariker aus Leidenschaft. Und oft auch von Beruf:
" Es passiert immer wieder, dass ein Koch, der eine Weile nicht hier gewesen ist, hereinkommt und sagt: Ich fühle mich ausgepumpt, ich brauche frischen Saft. Sie suchen hier nach neuen Inspirationen. Es ist aufregend, diesen Prozess zu vefolgen. Besonders bei jungen Köchen. Die kommen oft zu zweit oder zu dritt her, weil ihr Chef sie geschickt hat. Sie verschlingen unsere Bücher geradezu und schauen sich besonders die Fotos von einzelnen Gerichten genau an. Dann diskutieren sie darüber: Oh, dieses Rezept ist wirklich cool, sagt der eine, ich glaube, ich würde das mit Grapefruit versuchen! "
Sprecher: Nach Waxman liebt solche Gespräche, ob er daran teilnimmt oder bloss zuhört. Denn so ernsthaft in Kitchen Arts & Letters häufig übers Essen und Gefressenwerden debattiert wird, so ausführlich man die Ethik des Bananenkaufs, die jüngste Agrarreform oder die Revolutionsgeschichte des russischen Service erörtert, so zentral ist in Waxmans Augen, was er das "homo-ludens-Konzept” nennt:
" Wir sind unkontrollierbare Spieler bei allem, was wir tun. Und ich glaube, dass schon im alten Mesopotamien oder Ägypten Leute darüber stritten, ob der Getreidebrei nun süss oder salzig besser schmecke. Ja, dass schon ein Höhlenmensch den anderen davon zu überzeugen versuchte, dass seine Methode, ein Stück Fleisch über dem Feuer zu braten, die raffiniertere sei. Das macht Essen und alles, was damit zu tun hat, doch so spannend. Wir können einfach nicht aufhören, damit zu spielen. "
Ungefähr die Hälfte des Angebots in Kitchen Arts & Letters besteht aus Kochbüchern. Da Nach Waxmans Ansicht nach viele Kochbücher amerikanischer Provenienz höchstens als Leitfäden für Rührei-Idioten taugen, importiert er zahlreiche Titel. So findet man hier Pierre Hermés "L'Art du Macaron” ebenso wie Dani Garcías "Técnica y contrastes” und "Dieter Müller” von Dieter Müller.
Allerdings vertritt man bei Kitchen Arts & Letters eine ganz eigene Philosophie, was den Umgang mit und den Sinn von Kochbüchern angeht:
" Wir bemühen uns hier ungewöhnlich energisch darum, unsere Kunden vom allzu häufigen Gebrauch von Rezepten abzubringen. Rezeptsklaven, wir wir sie nennen, versuchen wir dazu zu ermuntern, ihrem eigenen Geschmack zu vertrauen. Wir möchten, dass sie anfangen selbstständig zu denken. Also: Aha, eine Zwiebel - soll ich die nun in dicke oder dünne Scheiben schneiden, fein oder grob hacken? Wie soll mein Gericht am Schluss eigentlich schmecken? Welche Konsistenz, welches Aroma soll es haben? Idealerweise blättert jemand ein Kochbuch, das er bei uns gekauft hat, zuhause durch, entscheidet sich für ein Gericht, das er gerne probieren möchte, und liest das Rezept zwei-, dreimal durch. Dann legt er das Buch weg und fängt mit einer Mischung aus Inspiration, Wagemut und schierer Lust zu kochen an. Ohne das Rezept auswendig gelernt zu haben, sondern mit der Erinnerung daran, was für ein Gericht daraus werden soll. "
Überhaupt mag es Nach Waxman nicht, wenn man Kitchen Arts & Letters als Kochbuchhandlung bezeichnet. Das fällt einem angesichts der zweiten Hälfte des Sortiments auch gar nicht ein. Dieser Teil umfasst so ziemlich alles, was über den Menschen, Nahrung und wie beides zusammenfindet, je zu Papier gebracht worden ist. Das Reiskorn in der bildenden Kunst? Aber sicher, dort oben rechts im blauen Umschlag. Das Motive des Puddings in Sherlock Homes-Romanen? Gleich darunter. Die Neuroanatomie des Geschmacks? Restaurantmanagement? Kingsley Amis über die Wonnen guter Tropfen? Alles vorhanden. Und sollte Kitchen Arts & Letters das Jahrbuch des Oxforder "Symposium on Food and Cookery” von 1987 gerade nicht an Lager haben, wird es einem Nach Waxman mit Vergnügen besorgen.
Es sei die Kultur, die ganze reiche Welt des Essens, mit der sie sich bei Kitchen Arts and Letters beschäftigten, erklärt Nach Waxman:
" Ich glaube, unsere Ernsthaftigkeit in dieser Hinsicht hat uns die Trivialität und die frivole Haltung von Leuten zu überwinden helfen, die bloss hier sind, weil's schick und feines Essen gerade in aller Munde ist. Gelingt es uns nicht, die Leute zum ganz grundsätzlichen Nachdenken übers Essen zu animieren, sind wir in unserer Absicht gescheitert. "
Von Scheitern kann nach fünfundzwanzig Jahren natürlich keine Rede sein. Auch nicht im Fall der Dame, die Kitchen Arts & Letters nach eineinhalb Stunden zwar ohne ein Buch über essbare Garnituren für ein brasilianisches Hochzeitsbüfett verlässt. Die dafür aber einen Band über Cocktails des 19. Jahrhunderts und einen anderen über Kochen mit Heilkräutern gefunden hat.
Kitchen Arts & Letters, 1435 Lexington Avenue, New York, NY 10128. Telefon: 212 876 5550.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 11-18.30 Uhr, Samstag 11-18 Uhr, Montag 13-18 Uhr.