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Ein lädierter Held

Der Protagonist aus Ingomar von Kieseritzkys neuem Roman "Traurige Therapeuten" reiht sich würdig ein in die Reihe von traurigen Helden seiner Vorgängerwerke. Das Buch ist ohne Zweifel unterhaltsam, mutet jedoch zeitweilig wie ein Kuriositätenkabinett an.

Von Eberhard Falcke | 19.06.2013
    So ändern sich die Zeiten. Früher blieben einem Kieseritzky-Helden, wenn die Geliebten ihn verließen, die Hunde oder verfetteten Kater der Damen, meist neurotische Viecher. Heute dagegen kommt er gleich und ohne erotische Umwege auf Hund und Katz oder sonstiges Getier. So jedenfalls ergeht es Arthur Singram, dem Ich-Erzähler, der in Ingomar von Kieseritzkys neuem Roman "Traurige Therapeuten" das Wort führt. Seinem Beruf als Schriftsteller ist er finanziell und psychisch nicht mehr gewachsen. Darum hat er sich ein neues Betätigungsfeld gesucht und von einem Freund dessen Berliner Praxis für verhaltensgestörte Kleintiere übernommen. Zu deren Klientel gehören außer Meerschweinchen, Frettchen, Katzen und Schoßhunden auch Doggen und Riesenschlagen. Keine leichte Aufgabe für Arthur Singram, obwohl der von seiner eigenen Verfassung ein durchaus günstiges Bild zeichnet.

    Abgesehen von einem Reizdarm, Spreiz-, Senk- und Platt¬füßen, einer verlässlichen Homilophobie seit je, diffusen Magenbeschwerden, der Gicht mit der klassischen Prädilektionsstelle Großer Zeh bin ich kerngesund und leide nicht unter gewöhnlichen Phobien oder Idiosynkra¬sien. Animositäten allemal, ein wahrer Bienenkorb, bin aber sonst exemplarisch intakt und nicht infirm.

    So war das schon immer bei Kieseritzky. Sogar wenn es um die Beschreibung von Gesundheit geht, reihen sich die Krankheitsbegriffe so dicht aneinander wie die Patienten in einem überfüllten Wartezimmer. Und tatsächlich sieht das Leben von Arthur Singram, trotz vorgeblich exemplarischer Intaktheit, eher nach einer Krankengeschichte aus. Denn ob mit Frauen oder ohne, das Unglück war Kieseritzkys Protagonisten schon immer hold. Über den Mangel an Gebrechen, Psycho-Macken und Versager-Qualitäten konnten sie sich noch nie beklagen. Was ihnen im Übrigen auch gar nicht einfiele, weil ihr Leiden und Scheitern schließlich zu ihren wichtigsten Merkmalen gehören, ja mehr noch, diese Nöte stellen nichts Geringeres dar als ihr Lebenselixier. Kieseritzky-Helden sind lädierte Helden und das ist ihre Mission in einer Welt, in der Gesundheit, Erfolg und positives Denken zu den höchsten Gütern gehören.

    Was für eine imponierende Reihe von hochkarätigen Versagern reiht sich da aneinander, wenn man das Werk dieses Schriftstellers überblickt: philosophische und erotische Stümper, ideal gesinnte Himmelstürmer bei der Bauchlandung, hoch qualifizierte Pfuscher auf dem Feld praktischer Lebensbewältigung und alle ausgerüstet mit Schweißfüßen, lachhafter Triebhaftigkeit oder tropfenden Nasen und meist mächtigem Verlangen nach geistigen Getränken. Arthur Singram reiht sich würdig ein in diesen komischen Trupp trauriger Helden, deren Schicksal immer wieder erschüttert, doch hauptsächlich das Zwerchfell. Eines Tages gibt Singram einem befreundeten Besucher Einblick in eines seiner vielen Leiden, die Panphobie, die Angst vor allem. Die Haustiere Papagei, Kater und Kakerlak sitzen als Zeugen treu dabei.

    Alles wird schlimmer, aber der große Entschluss zu dieser einen bestimmten Art von Salvation war schon zu Weihnach¬ten so unumstößlich wie kein anderer. Aber es gibt keinen anderen Ausweg und keine andere Rettung, ich muss Alkoholiker werden. Gottfried Keller war einer, Edgar Allen Poe war einer und Beethoven wohl erst recht. Massenhaft viele waren es, und alle haben es geschafft.

    Arthur Singram aber schafft es nicht, nicht mithilfe seines Heilpraktikers, nicht mit seinem Psychoanalytiker und nicht mit Cocktails. Allerdings gibt er nicht nur den durchs Leben stolpernden Beweis dafür ab, dass der menschliche Körper gebrechlich und der Geist ein emsiger Irrläufer ist. Er hat auch einen respektablen Stammbaum. Sein Großvater war noch ein Mann, der in feudalen Verhältnissen lebte, ein echter Exzentriker, der seinen Eigensinn pflegte und damit seine gesellschaftliche Stellung glänzend behauptete. Singrams Vater hingegen sublimierte seine exzentrischen Kapazitäten als Tiermaler in der Kunst. Umso erbärmlicher hebt sich vor dieser respektablen Familienhistorie Arthur Singrams eigenes Geschick ab: Er steht in jeder Hinsicht am unteren Ende der Generationsfolge, er ist völlig auf den Hund gekommen. Und das nicht nur buchstäblich, weil er vom Tiertherapeuten absteigt zum Hundeausführer. Der Spross aus einem Geschlecht der Exzentriker findet sich heute in einer Gesellschaft wieder, die mit exzentrischem Eigenwillen nichts mehr anfangen kann, weil sie alle Macken, Verrücktheiten und Schrullen mit Therapien und sonstigen fürsorglichen Bevormundungen bekämpft. So wird Arthur Singram zum Beispiel angezeigt, weil Zweifel an der artgerechten Haltung zweier von seinem Urgroßvater ererbter Schildkröten besteht.

    Die sehen echt traurig aus, sagte Glinz vom Tierschutzverein. Wie alt sie wohl seien. Es stand alles im grünen Notizbuch. Mein Urgroßvater schenkte diese Schildkröte dem berühmten Philosophen Sir Herbert Spencer 1881, die beiden waren befreundet. Spencer hat auf dem Rückenschild eine Signatur hin¬terlassen und einen Spruch eingeritzt, eine Sentenz - Tierquälerei, sagte Glinz.

    Eine Therapie für die armen Tierchen wird dringend empfohlen. Auch Arthur Singram hat die Therapiegläubigkeit völlig verinnerlicht. Er geht zur Kur bei Dr. Spoerri, er beobachtet sich mit hypochondrischem Eifer, schreibt Studien und Krankentagebücher, wirft mit medizinischen Fachtermini um sich und führt damit, wie schon andere Kieseritzky-Helden, den Therapiewahn auf hochkomische Weise ad absurdum.

    Kieseritzky spielt in "Traurige Therapeuten" die Malaisen des Arthur Singram gründlich und unter allen Gesichtspunkten durch. Das Einzige was hier eher dünn ausgefallen ist, sind die Fäden der Handlung. Darum ähnelt das Werk in seiner Struktur mehr einem Kuriositätenkabinett als einem Roman: So voll gestopft ist es mit effektvollen, anspielungsreichen und scherzhaften Details. Noch mehr als in seinen vorangegangenen Büchern hat Kieseritzky in "Traurige Therapeuten" vor allem eine Folge von Capriccios versammelt, von Launen und Grillen, Anekdoten, Abschweifungen und Einfällen. Was dem Protagonisten durchaus so gut ansteht, wie einem Narren das Kleid aus bunten Flicken. Kieseritzkys Helden haben schließlich zum Chaos seit je ein inniges Verhältnis. Vor den entsprechenden Folgen und Nebenwirkungen können seine Leser dann auch nicht völlig verschont bleiben.

    Ingomar von Kieseritzky: Traurige Therapeuten.
    Roman
    C.H.Beck, München 2012. 347 Seiten, 19,95 Euro.