Dienstag, 23. April 2024

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Ein Land mit zwei Gesichtern

Vor ziemlich genau einem Jahr hatten die Türken eine große Hoffnung vor Augen, ein Ziel - und ein Datum: den 17. Dezember 2004. An diesem Tag gab die Europäischen Union grundsätzlich grünes Licht für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Fortan galt am Bosporus nach über 40 Jahren der ständig gefühlten Zurückweisung erstmals eine neue Zeitrechnung. Das Happy End war allerdings nicht von langer Dauer. Statt dessen wurde weiter gestritten, zuletzt vor wenigen Tagen im EU-Parlament, wo die Abgeordneten dem Beginn der Beitritts-Verhandlungen erst nach heftiger Debatte zustimmten. Selbst wenn die Gespräche nun am 3. Oktober beginnen - sie sollen mit offenem Ende geführt werden. Und mindestens zehn Jahre dauern.

Eine Sendung von Gunnar Köhne | 01.10.2005
    Dabei ist einiges schon geschafft; aber noch viel mehr bleibt zu tun. Der Wirtschaftsboom am Bosporus prägt das eine Gesicht der Türkei, das andere ein vielfach schwächelnder Sozialstaat: Gut 10 Prozent Arbeitslosenquote, ein Gesundheits-System, dass Züge einer Zwei-Klassen-Medizin trägt, und ein soziales Netz, durch das all jene durchfallen, die nicht die besten Startbedingungen im Leben haben. Egal, ob auf dem Lande, oder in der großen Stadt.


    Der Obstverkäufer


    Auf dem Gehsteig scheppert der Motor einer Speiseeistruhe. Sie gehört zu einem kleinen Kaufladen an einer Straßenecke im Stadtteil Beyoglu. Es ist zehn Uhr abends, der Laden hat immer noch geöffnet. Am Straßenrand steht ein Obstkarren. Daneben hockt Adnan Nas auf einem Holzschemel und wartet geduldig auf Kundschaft. Gedankenverloren schaut er den Vorbeigehenden nach. Beyoglu ist Istanbuls Quartier der Künstler, Medienmacher und Ausländer. Wer um diese Zeit an der mit einem Wachstuch ausgeschlagenen Ladefläche von Nas' Wagen vorbeigeht, hat keinen Blick für die saftigen Pfirsiche und prallen Weintrauben, die akkurat gestapelt feilgeboten werden. Mit Haargel, Sandaletten und kurzen Röcken schlendern sie an diesem schwülen spätsommerlichen Abend hinaus ins Nachtleben. Adnan Nas, ein hagerer Mann mit dichtem, schwarzem Schnurrbart, steht seit zehn Jahren an dieser Stelle, sechs Tage in der Woche, von Mittag bis Mitternacht.

    " Vom Gesetz her ist das eigentlich verboten. Aber hier in den Seitenstrassen lässt einen die Stadtverwaltung in Ruhe. An den Hauptstrassen werden die Wagen der Kollegen manchmal eingesammelt. Aber dieser Karren ist alles, was ich habe. Die Arbeit ist schwer genug. Ich sehe meine vier Kinder kaum. Morgens um acht gehe ich zum Großmarkt und hole die Ware. Spätestens um zwei komme ich hierher und bleibe manchmal bis nachts um halb eins."

    Nas ist Kurde und stammt aus einem Dorf nahe der irakischen Grenze. Dort herrschen Armut, Arbeitslosigkeit und bitterkalte Winter. Also zog er wie hunderttausend andere auf der Suche nach Glück und Geld vor zehn Jahren in die Metropole am Bosporus. Verwandte rieten ihm zum Obstverkauf, er zog durch die Stadt und fand schließlich diese freie, von keinem anderen Straßenverkäufer besetzte Ecke in Beyoglu. Während Autos und Mopeds an seinem Karren vorbeirauschen, beugt sich Nas vor, stützt seinen Ellenbogen auf seine ausgebeulte Stoffhose und denkt über verpasste Chancen nach:

    " Ich habe vier Jahre die Volksschule besucht. Länger ging es leider nicht, weil zuhause das Geld knapp war. Dabei war ich sehr fleißig. Obwohl ich erst in der Schule Türkisch gelernt habe, war ich Klassenbester. Wenn mein Lehrer mir einen Aufsatz zum Lesen gab, dann konnte ich schon nach der großen Pause den Inhalt erzählen. Meine Kinder sollen einmal eine bessere Arbeit machen. Sie sollen lange zur Schule gehen. Ich habe meinen Ältesten, der ist acht Jahre alt, ein Mal hierhin mitgenommen. Nach ein paar Stunden hat er geweint und wollte nach Hause. Siehst Du, habe ich gesagt, wenn Du so eine Arbeit später nicht machen willst, dann lerne und gehe zur Schule."

    Es ist 22 Uhr 30. Endlich ein Kunde. Ein junger Mann, dem beim Blick auf Adnan Nas' Obstauslage die Leere seines Kühlschranks einfiel. Nas packt zwei Hand voll Feigen in eine graue Papiertüte und legt sie auf eine der Schalen seiner eisernen Waage. Auf die andere Waagschale legt er ein Kilogramm Gewicht - beide Waagschalen schweben auf Anhieb in gleicher Höhe. Macht umgerechnet ein Euro und zwanzig Cent. Dass die Feigen im Supermarkt zwanzig Cent billiger sind, stört den späten Kunden nicht:

    " Adnan achtet auf die Qualität des Obstes. Darauf ist Verlass. Und dann kann man auch immer ein kurzes Schwätzchen halten, das ist einfach persönlicher."

    Kurz vor Mitternacht schließt Nas' Nachbar, der Lebensmittelhändler, seine Ladentür ab. Signal für beide zum Aufbruch. Sie kennen sich gut. Bei schlechtem Wetter kann sich der Kurde beim Türken unterstellen und aufwärmen:

    " Seine Arbeit ist viel schwerer als meine. Bei jedem Wetter draußen stehen... Und jeden Tag kann doch die Stadtverwaltung kommen! Dann ist er weg von hier. Aber dafür brauchst du keine Steuern zahlen, Adnan, hast auch sonst keine Ausgaben, von den Papiertüten mal abgesehen."

    Zehn Minuten nach Mitternacht. Adnan Nas löst die Handbremse und stemmt seine ausgestreckten Arme gegen den Karren. Gut 60 Kilo Obst liegen noch obenauf. Quietschend und eiernd geht es bergan. Nas hält sich rechts, doch sein Karren nimmt die halbe Fahrbahn ein. Mal stauen sich die Autos hinter ihm, mal überholen sie hupend.

    " Während der Kirsch und Pflaumenzeit ist bis zum Abend meistens alles leer gekauft. Ansonsten aber brauche ich zwei Tage, um einen vollen Wagen halbwegs los zu werden. Das macht dann 40 Lira, 25 Euro. In zwei Tagen!"

    Der Heimkehrer läuft eine vierspurige Strasse entlang - sie trennt Beyoglu in einen armen und einen wohlhabenden Teil. Nas wohnt auf der armen Seite. Die Uhr zeigt mittlerweile halb ein Uhr morgens, doch auf der Strasse herrscht ein Verkehr wie zur Rushhour.

    Ein kurdischer Kollege, der mit seinem Obstwagen noch immer ausharrt, begrüßt Nass. Ein Polizist tritt hinzu, nimmt sich eine Birne, guckt Nas kurz fragend an und verschwindet wieder, nachdem ihm der Obsthändler ehrerbietig zugenickt hat.

    Endlich angekommen. Nas bugsiert seinen Karren in einen stockfinsteren Verschlag und hängt ein Schloss davor. Dann sind es nur noch wenige Schritte bis zu seinem Haus. Es ist ein Uhr. Seine Frau Güler erwartet ihn bereits:

    Im Wohnzimmer liegen der Bruder von Nas und drei Kinder verteilt auf Sofas und Matratzen und schlafen fest. Auch die sechsköpfige Familie des Bruders, eines Hilfsarbeiters, wohnt hier. Macht zwölf Personen auf 80 Quadratmetern. Das Haus ist immerhin ein Neubau, die Wohnung Eigentum der Familie Nas'. Sie hat Zentralheizung und eine kleine Einbauküche.

    Güler Nas trägt ein für Kurdinnen typisches, locker um den Hals gelegtes Kopftuch. Sie hält das jüngste ihrer vier Kinder in den Armen, die einjährige Fatma.

    " Wir denken oft: Wenn er doch mehr zuhause wäre! Die Jüngste läuft vor ihm fort, sie kennt ihn gar nicht. Irgendwie sind wir hier in der Stadt alle krank geworden. Ich habe Tuberkulose, mein Mann hat es mit dem Magen und die Kinder haben Bronchitis. Die Kleine hier hat hohes Fieber."

    " Unser Dorf hängt um diese Zeit voller Trauben. Es gibt Bäume, Gärten, ein Bach fließt mitten hindurch. Die Leute nennen es "Paris", weil es so schön ist. In dem nahen Fluss schwimmen viele Fische. Da sind wir immer hingegangen zum Picknick. Klar, vermisse ich das Dorf. Wenn die Kinder dort eine Zukunft hätten, würde ich sie dorthin bringen und alleine zu meiner Arbeit nach Istanbul zurückkehren."





    Die Kleidersammlerin


    Die türkische Schriftstellerin Gönül Kivilcim wurde 1963 in der Nähe von Ankara geboren. Nach dem Studium in Istanbul und im norwegischen Bergen arbeitete sie als Journalistin in Berlin, Köln und Istanbul. Letztes Jahr erschien in Deutschland ihre Kurzgeschichte Eine zwangsläufige Reise nach Europa - unternommen von einer türkischen Kleinfamilie, erzählt von der Tochter:

    Eine ziemlich überflüssige Ortsveränderung war unsere Reise nach Europa. Zwangsläufig unternommen. Man kommt ja nur einmal auf die Welt, also musste man wenigstens einmal im Leben das europäische Pflaster unter seinen Füßen spüren. Der Besuch des alten Kontinents war eine Qual, die man über sich ergehen lassen musste. Egal, zu welchem Preis. Eben unvermeidlich.

    Europa war damals der Nabel der Welt. Für wen, fragen Sie? Nun, für die Familie, die sich im blank geputzten, runden Bauch des Teekessels widerspiegelte. So besagt es jedenfalls das Gedächtnis unserer Heldin. So erinnert sie sich an ihre Kindheit, an zerfranste Landschaften, unförmige Spiegelbilder auf glänzenden Gegenständen und an die Leidenschaft für Europa, von der ihre Familie besessen zu sein schien.

    Das Frühstück wird aufgelockert durch Nachrichten vom nebligen Kontinent: Lasst euch nicht hängen, sagt der Vater. Europa ist in Sicht, ja, eine gewöhnliche Europareise. An den darauf folgenden Tagen spiegelt sich eine vom nahenden Traum Europa fast schon niedergedrückte Familie auf den Glasuntersetzern und lackierten Beistelltischen wider.

    Und dann geht es los.


    "Im Moment rennen wir. Wir rennen Tag und Nacht!" In Richtung Europa, wollte der türkische Premier Erdogan damit sagen. Das war im Sommer 2004, nur Monate, bevor die Türkei die Zusage für Beitritts-Gespräche bekam. 2005 ist die Stimmung eine andere. Und das Tempo anscheinend auch - von rennen ist jedenfalls keine Rede mehr. Auf dem Weg in den Brüsseler Club sind die Türken inzwischen wieder zu jenem langatmigen Trippelschritt zurück gekehrt, der über vierzig Jahre lang das Tempo prägte. Die chronische Skepsis der EU-Mitgliedsstaaten bremst die Türken aus. Aber auch sie selbst legen sich Steine in den Weg: Ankara verweigert bislang die völkerrechtliche Anerkennung Zyperns. Türkische Richter greifen weiter hart durch, falls das Wort vom Genozid an den Armeniern fällt. Die Unruhen militanter Kurden im Südosten des Landes sind wieder aufgeflammt, und in den Urlaubsgebieten gingen diesen Sommer wieder Bomben hoch. Das klingt nach Schmuddelkind, das keiner so recht haben will in der EU.

    Dabei haben die Türken trotz aller Defizite schon eine gute Wegstrecke zurückgelegt. Sie haben den Rechtsstaat und die Meinungsfreiheit gestärkt, ein neues, modernes Strafgesetzbuch verabschiedet und den Einfluss der Armee zurück gedrängt. Dazu großartige Wachstumszahlen, die manchen Regierungs-Chef in der EU blass aussehen lassen. Trotzdem hinken vor allem die ländlichen Gebiete hinterher. Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Einrichtungen sind dort oft in miserablem Zustand, oder sie fehlen ganz. Also zählt anderes: Gute Nachbarschaft. Und Eigeninitiative. Wie zum Beispiel an der schlecht erschlossenen Schwarzmeerküste.




    Auf holpriger Strasse geht es bergauf. Geschickt umkurvt der Fahrer des Minibusses die Schlaglöcher. Wer hier, in den Bergen der nördlichen Schwarzmeerküste wohnt, kennt keinen Asphalt. Die hinteren drei Sitzreihen des Wagens sind mit prallen Plastiksäcken belegt. Kleiderspenden auf dem Weg in eine der schönsten und zugleich ärmsten Gegenden der Türkei. Bis an den Wegesrand rankt das Grün der Büsche und Haselnussbäume. An den steilen Hängen der Berge kleben bunte Häuser, Minarette stechen aus den Wäldern heraus. Gül Ersan schaut teilnahmslos aus dem Seitenfenster. Die 48-jährige hat die Kleiderspenden gesammelt und will sie nun in das Dorf Orta bringen. Das macht Ersan seit vielen Jahren - in der Gegend ist die ehemalige Verwaltungsangestellte als der "Engel der Armen" bekannt.

    Auf dem staubigen Vorplatz der Schule von Orta wird der Bus bereits erwartet. Am schiefen Fahnenmast weht der rote Halbmond. Der Lehrer hat sich zur Feier des Tages eine Krawatte umgebunden. Zwei Dutzend Kinder stehen in Reih und Glied und starren mit großen Augen den schwarzen Säcken nach, die in die Schule getragen werden. Die Füße der Kleinen stecken in Gummilatschen, ihre sind Haare verfilzt. Etwas abseits stehen ihre Mütter und zupfen nervös an ihren bunten Kopftüchern. Gül Ersan spricht eine von ihnen an:
    "Wie geht es ihnen?"
    "Gut, danke."
    "Wie viele Kinder haben Sie?"
    "Fünf."
    "Fünf? Allerhand. Gehen die zur Schule?"
    "Zwei gehen zur Schule, zwei sind behindert."
    "Haben Sie für die beiden Sozialhilfe beantragt?"
    "Nein, habe ich noch nicht. Wir bekommen nur vom Gouverneursamt ab und zu Lebensmittel. Das ist alles."

    "Im Winter sind einige Dörfer durch den Schnee von der Außenwelt abgeschnitten. Kein Schulbus erreicht diese Siedlungen. Die Kinder könnten ein staatliches Internat in einer nahen Kreisstadt besuchen. Doch die Eltern wollen ihre Töchter nicht schicken, weil die Betreuung nicht ausreichend ist und angeblich auch schon Mädchen sexuell belästigt worden sind. Stattdessen verheiraten sie in den ärmsten Dörfern ihre Töchter immer noch früh, mit 13, 14 Jahren und kassieren dafür Brautgeld. Aufklärung und Verhütungsmittel existieren in diesen Dörfern praktisch nicht. Die Häuser sind voller Kinder. In der Kreisstadt gibt es zwar eine Krankenstation, aber nur mit einem Krankenpfleger. Ein Krankenpfleger für 16000 Menschen!"

    1500 Menschen leben in Orta - die Ärmsten unter ihnen in schiefen Holzunterkünften, die an Stallungen erinnern. Die meisten gemauerten Häuser sind halbfertig und unverputzt. Wer eine Kuh und ein paar Hühner im Hof hat, gehört zu den Bessergestellten. In der Mitte des Dorfes und alles überragend: eine große, weiß verklinkerte Moschee.
    Endlich beginnt die Verteilung der Kleider. Ein Kind nach dem anderen tritt vor. Mit stummer Dankbarkeit nehmen sie die viel zu großen Hosen und Pullover entgegen. Seit fünf Jahren reist "Gül Abla", Schwester Gül, wie Ersan von den Dörflern respektvoll genannt wird, durch ihre Heimatregion. Es ist ein einsamer Kampf gegen Armut und Unwissenheit. Etwas abseits der Schule, an einem kleinen Bach, erzählt die Frau mit den kurzen grauen Haaren und der Khakihose wie alles angefangen hat:
    " Eines Tages rief mich eine Freundin an und erzählte mir von einer Bekannten, die als Lehrerin in einem unserer Dörfer arbeitete. In deren Schule fehlte es an den elementarsten Dingen - und die Kinder brauchten dringend Kleider. So kam meine erste Spendensammlung mit Büchern und Kleidern zustande. Ich arbeite lieber alleine, weil ich eine Aversion gegen Vereine aller Art habe. Es gibt aber viele Unterstützer, die beim Sammeln helfen. Ich mache bei der Übergabe der Spenden Fotos und schicke sie den Spendern zum Dank. Mir langt es einfach nicht zu sagen: Ich wohne an einem schönen Platz und mir fehlt es an nichts. Ich möchte Gutes tun, etwas verändern."
    Der Lehrer führt die Besucher durch die zwei Klassenräume seiner Schule. Die hölzernen Pulte stehen auf nacktem Betonboden. An den Wänden hängen vergilbte Papptafeln mit den wichtigsten Etappen des Atatürkschen Befreiungskampfes vor 90 Jahren. Daneben sind die vier Jahreszeiten und ihre Merkmale aufgelistet. Lehrer Yilmazli zeigt auf ein Ofenrohr, das in der Mitte des Klassenzimmers aus der Decke guckt:

    " Unsere Klassenzimmer heizen wir im Winter mit Kohleöfen. Die stellen wir dort in der Mitte auf. Das ist beschwerlich, aber was soll man machen. Die Kohlen bezahlt der Staat, aber schleppen müssen wir sie selber."

    Gül Ersan ist zurück in Persembe, ihrem Heimatort am Schwarzen Meer. Persembe liegt an der breiten Uferstrasse, die alle Orte entlang der Schwarzmeerküste miteinander verbindet. Im Vergleich zu den Dörfern in den Bergen eine moderne Kleinstadt mit einem Hotel, Restaurants und einem Computergeschäft.

    Ersan hat ein paar Jahre in Istanbul gelebt, doch anders als die allermeisten ihrer Schulfreundinnen ist sie zurückgekommen. Nach ein paar Semestern Architektur und einer gescheiterten Ehe kehrte sie in das Haus ihrer Eltern zurück. Seitdem kümmert sich Ersan um die Haselnusssträucher auf den elterlichen Feldern, und in der Schulzeit gibt sie im Erdgeschoss ihres Hauses Kindern aus der Nachbarschaft Nachhilfeunterricht.

    In einem Cafe an der Uferstrasse nippt Ersan mit ernster Miene an einer Tasse löslichem Kaffee und erzählt wie sehr sie die kulturelle Vielfalt der Metropole Istanbul vermisst:

    " Hier herrscht große Armut - nicht nur wirtschaftlich gesehen. Es gibt keine sozialen oder kulturellen Angebote, abgesehen von diesem Jugendcafe. Hier kann man am Abend nur sitzen und aufs Meer glotzen. Früher gab es hier im Ort ein Kino, das haben sie dicht gemacht. Das Theater ebenso. Es gibt einen Gemeindesaal, ziemlich heruntergekommen, da treten manchmal durchreisende Theatergruppen auf. Dann tritt jemand auf die Bühne und erzählt der Jugend mit erhobenem Zeigefinger: Kommt nicht vom rechten Weg ab, nehmt keine Drogen und so etwas. Das war es dann mit der Kultur. Dem Staat allein kann ich nicht böse sein, wenn ich die Armut und die Rückständigkeit sehe. Wer ist denn der Staat? Der Staat sind wir doch alle! Ich finde, bevor man sich bei der Regierung beschwert, sollte man sich selbst prüfen."




    Die Professorin


    In Gönül Kivilcims Kurzgeschichte "Eine zwangsläufige Reise nach Europa" hat das Warten inzwischen ein Ende, die Familie macht sich auf den Weg:

    Ach Europa! In unseren besten Sonntagskleidern treten wir vor dich!

    Das ist unsere erste gemeinsame Fernreise, sagt die Mutter unterwegs, nun sind wir nämlich zu dritt, eine wirkliche Familie.

    Alles tun, um in Europa den besten Eindruck zu hinterlassen. Anzüge aus feinsten Stoffen werden übergezogen. Dunkelblaues Gabardinjackett, weißes Hemd mit gestärktem Kragen. Er drückt fürchterlich am Hals. Nun ja, diesmal wird der Vater nicht darüber klagen. Auch wenn seine Frau ganz Europa aufkauft, wird er kein einziges Mal darüber schimpfen. Er wird sich von der Eleganz Europas inspirieren lassen und völlig wortlos zurückkehren.


    1963 schließlich schlossen die Türkei und die damalige EWG ein Assoziierungs-Abkommen, und legten damit den Grundstein für alle späteren Beitritts-Träume. In den folgenden Jahrzehnten aber wimmelte es nur so von Hindernissen und Umwegen. Immer wieder kursierte das Bild von der Tür, die den Türken um Haaresbreite vor der Nase zugeschlagen werde. Erst 1996 der nächste Quantensprung: Da trat die Zollunion zwischen der EU und der Türkei in Kraft. Fortan lebten beide Partner wie in wilder Ehe zusammen, mit einer Art gemeinsamer Hauswirtschaft, aber ohne politischen Trauschein. Eine privilegierte Partnerschaft. Die besteht nämlich längst. Wer aber dieser Tage in Brüssel oder auch Straßburg nachfragt, ob die Türkei jemals EU-Mitglied sein wird, der stößt dort durchaus auf Politiker, die mit einem klaren Nein antworten.

    Sie fahren über die Grenze. Bei der ersten Rast werden Aprikosen serviert, die der Größe der dazugehörigen Zivilisation angemessen sind. Das Krumme, Schiefe, Kleine hinter sich zu lassen, lässt den Vater aufatmen. Das schlechteste Hotel in Europa erscheint ihm komfortabler als das eigene Zuhause. Das ist eben Europa, sagt er, ach mein geliebtes, fernes Europa. Die vollkommen runden Aprikosen erscheinen ihm wie ein Versprechen für die Zukunft. Sein lachender Mund wird vor lauter Genuss selbst zu einer reifen Aprikose. Die kleinen, verschrumpelten Aprikosen vom Markt, die ihre Mutter jeden Abend auftischt, findet der Vater beschämend. Aber die Zivilisation hat sich mit einem Bissen erledigt. Diese Früchte schmecken nach nichts. Der Vater wird jäh enttäuscht. Die europäischen Aprikosen rührt keiner an. Im Wahrheit wird man aus Europa zurückkehren, ohne es je angerührt zu haben.

    Das diffuse Unbehagen, auch das der Europäer, ist nicht neu: 1683 standen die Türken vor Wien. Und schon damals ging die Angst um, das christliche Abendland könnte in die Hände der Osmanen fallen. 2005 argumentieren die Gegner ähnlich: Die Kultur sei zu fremd, die Religion zu anders. Dabei ist die Türkei fast hundert Jahren ein laizistischer Staat. Anders als bei uns sind zum Beispiel Kopftücher an den türkischen Universitäten verboten. Die strenge Trennung von Staat und Religion verdanken die Türken Mustafa Kemal Atatürk, dem Staatsgründer von 1923. Sein Bild hängt in fast jedem geschlossenen Raum in der Türkei. Als einer der ersten trieb Atatürk die Verwestlichung seines Landes voran. Die Scharia, das islamische Rechtssystem, ersetzte er durch eine europäisch geprägte Rechtsordnung, und das arabische Alphabet durch lateinische Buchstaben. Halet Cambel erinnert sich:

    " Ich hätte gern mehr Zeit gehabt. Ich bin ja von der Universität gleich ins Berufsleben. Dann diese Bürokratie. Der Mangel an Zeit, etwas anderes zu machen. "

    Kurz war Halet Cambels Leben nicht - und arm an Abwechselungen war es wahrlich auch nicht. Die untersetzte Frau lässt sich tiefer in ihren Ohrensessel sinken. Unter den in rötlichem Ton gefärbten Haaren ist ein waches Gesicht. Die 89jährige hat eine akademische Karriere hinter sich, die viel erzählt von der Tradition türkisch-deutscher Zusammenarbeit, von der Geschichte der noch jungen türkischen Republik und von dem Leben einer modernen Frau in der Türkei.

    " Ich bin in Berlin geboren und habe dort gelebt. Mein Vater war Militärattaché an der deutschen Botschaft in Berlin. Mein Vater konnte nicht zurückkommen, weil hier ja die Besatzung war. So musste die Familie warten, bis hier die Republik erklärt wurde. So kamen wir zurück 1923/24. Wie wir zurückkamen, waren wir acht Jahre alt. Und wir waren schockiert von den schwarz gekleideten Frauen. Meine Schwester und ich sind zu meiner Mutter gegangen und haben gesagt: Wir wollen hier nicht bleiben, wir wollen zurück nach Berlin."

    Heute lebt Halet Cambel mit ihrem sechs Jahre älteren Mann Nail Çakirhan, einem bekannten Architekten und Dichter, in einer roten Holzvilla am Bosporus. Das heißt, sie lag einmal am Wasser, jetzt trennt sie eine laute Schnellstrasse vom Ufer. Eine breite Treppe führt in das obere Stockwerk. Auf den Treppenstufen stapeln sich Bücher und Zeitungen, in den Zimmern und Fluren Mahagonimöbel, verblichene japanische Raumteiler, Kuckucksuhren und andere Mitbringsel einer weit gereisten, polyglotten Familie. Cambels feingliedrige Hände streicheln die Polster ihrer Armlehnen. Sie ist eine der letzten Augenzeuginnen der Revolution Mustafa Kemal Atatürks:

    " Dann wurde das lateinische Alphabet eingeführt, was für uns eine glückselige Sache war, denn für die alte türkische Schrift brauchte man sechs Jahre, um sie zu lernen. Dann kam die Sache mit den Schulen. Es wurden Kurse in der neuen Schrift gehalten für diejenigen, die nicht lesen und schreiben konnten. Und dann konnte man hier vor der Schule beobachten, wie kleine Mädchen ihre Großeltern an der Hand in die Schule führten um zu lernen."

    Atatürks Tod. Erinnern sie daran noch?

    " Die ganze Stadt hat geweint. Man hat es auf den Strassen gehört, wie die Menschen geweint haben."

    Halet Cambel erhebt sich und geht langsam, aber kerzengerade auf die Tür zu, die zum Garten führt. In der Lade einer Biedermeieranrichte sucht sie nach dem Schlüssel. Behände schließt sie die mit einem rostigen Gitter gesicherte Tür auf. Dahinter erstreckt sich über drei steile Terrassen wild wucherndes Grün. Seit 1930 bewohnt die Familie von Halet Cambel dieses Haus im Stadtteil Arnavutköy. Nach dem Einzug begann sich die junge Schülerin Halet auf dem nahen englischsprachigen Robert-College für den Fechtsport zu interessieren. Das brachte eine ungewöhnliche Wendung in ihr Leben. Es war während eines Frankreichaufenthalts. Cambel muss schmunzeln:

    "Ich sollte eigentlich nach Istanbul zurückkommen, aber dann hieß es, ich solle nach Budapest kommen, wir würden zur Olympiade nach Berlin fahren. Wir hatten als Betreuerin ein deutsches Mädchen, eine Schwimmerin. Die sagte zu uns: Ich stelle euch Hitler vor. Aber wir haben nur gesagt: Lassen Sie das mal bleiben. "

    Das Abenteuer Olympia 1936 endete für die Fechterinnen aus der Türkei ohne Medaillen. Aber die jungen Mädchen hatten der Welt allein durch ihre Teilnahme eine Vorstellung davon gegeben, wie sehr sich das Land gewandelt hatte. Halet Cambel widmete sich fortan ihrer akademischen Karriere. Sie studierte Archäologie und Frühgeschichte, ein Fach, das damals in der Türkei von deutschen Gelehrten geprägt wurde:

    Halet Cambel übernahm 1960 den Lehrstuhl für Archäologie an der Universität Istanbul - als eine der ersten Professorinnen der Türkei überhaupt. Die zahlreichen Ehrungen, die sie bis heute bekommen hat - unter anderen den Ehrendoktor der Universität Tübingen - liegen in einer der zahlreichen Schubladen. Die fast 90jährige will danach nicht mehr suchen. Ihre Augen werden schwer. Sie ist müde. Nur eines möchte sie ihren europabegeisterten Landsleuten noch raten: Schaut genau hin und lernt von den anderen:

    " Wie mein Vater ein junger Offizier war, ist er nach Deutschland zur Ausbildung geschickt worden. Und da hat der Stabslehrer in Berlin gesagt: Meine Herren, erst werden sie lernen die Bleistifte zu spitzen. Denn wenn sie auf der Karte den Punkt mit einem stumpfen Bleistift setzen, dann geht der Schuss daneben. Die mussten eine Woche lang Bleistifte spitzen. Das sind die Dinge, die man lernen muss, die Akribie in der Arbeit."

    Die "Akribie in der Arbeit" soll nach dem Willen von Professorin Cambel auch künftig in der roten Holzvilla am Bosporusufer gelehrt werden. Das kinderlose Paar hat sein Haus der Bosporus-Universität vermacht. Dereinst soll hier ein Institut für Archäologie und Frühgeschichte einziehen. Es wird den Namen Halet Cambel tragen.




    Der Fischer


    Wie jeder Beitrittskandidat muss Ankara sämtliche so genannte Kopenhagener Kriterien erfüllen; einen politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen-Katalog, der Voraussetzung für den Beitritt ist. In wenigen Wochen wird die EU ihren jährlichen Fortschrittsbericht herausgeben, eine Art Barometer für die Beitrittsreife. Und trotzdem wird in der Europäischen Union seit Jahren hitzig darüber gestritten, ob die Türken nun nach Europa gehören oder nicht. Egal ob Religion, Werte die geographische, oder aber strategische Lage - alles, was als Pro- oder Contra-Argument taugt, wird in den Ring geworfen. Nicht immer geht es dabei tatsächlich um die Türkei, aber immer öfter um die Stimmungslage in den Mitgliedsländern. Und je depressiver die EU seit dem Verfassungsdebakel im Frühjahr wird, desto weniger gelingt es ihr, mit einer Stimme zu sprechen. Kaum einer außer Tony Blair, der noch mit Inbrunst auf eine Vollmitgliedschaft der Türkei setzt.

    Und die Türken selbst? Statt euphorisch wie noch im letzten Jahr seien sie dieser Tage frustriert und desillusioniert, wird berichtet. Das hat mehrere Gründe. Der Druck, in den nächsten Jahren die Inselrepublik Zypern anerkennen zu müssen, um Einlass in die EU zu finden, der liegt vielen Türken schwer im Magen. Ebenso das neue liberalere Strafgesetzbuch, das angesichts des neuen PKK-Terrors Widerspruch auslöst. Schließlich die weit verbreitete Skepsis der Europäer.

    An Europa und den wirtschaftlichen Aufschwung mag auch im tiefen Nordosten der Türkei kaum einer so recht glauben. An der Schwarzmeer-Küste kommt so gut wie nichts an von all dem vermeintlich Guten, das die Europäische Union bringen soll.


    Das Boot trägt den Namen "Kismet", Schicksal. Vom Salz angefressen liegt es liegt im seichten Wasser vor den Fischerhütten von Ordu. Auch Levent Göktaschs Baracke liegt am Strand und hat eine kleine Veranda. In einem verrosteten Blecheimer blühen Geranien. Hier verbringt er den Tag, die Zeit zwischen der morgendlichen und abendlichen Ausfahrt. 15 Meter über ihm, auf einem aufgeschütteten Damm, rauscht der Verkehr auf der neuen Schwarzmeerautobahn. Sie soll eines Tages von Istanbul bis nach Georgien führen und der Region Wohlstand bringen. Doch die Arbeiten kommen nur langsam voran.

    Levent Göktasch fährt hinaus mit seiner sieben Meter langen Kismet. Es ist neun Uhr morgens, das Thermometer zeigt bereits 27 Grad. Das Meer liegt spiegelglatt da, die Möwen auf dem Wasser wirken wie Enten auf einem See. Göktasch ist ausnahmsweise spät dran. Früh morgens beißen die Fische besser. Aber hier und da werfen die kleinen Palamut ihre glänzenden Leiber aus dem Wasser. Palamut ist eine beliebte, schmackhafte Makrelenart. Göktasch zieht sein Hemd aus, wirft eine Schnur mit 60 aneinander gereihten Haken nach achtern und weist seinen Helfer Müettin an, immer im Kreis zu fahren.

    " Ich fische seit ich denken kann. Schon als Kind bin ich mit meinem Vater aufs Meer rausgefahren statt in die Schule zu gehen. Früher wimmelte das Meer von Fischen. Heute gibt es nur noch höchstens zehn Fischarten im Schwarzen Meer. Alles nur wegen des ganzen Drecks, den die Länder drum herum hineinwerfen. Sie glauben nicht, was ich alles aus dem Wasser ziehe! Vor allem Plastiktüten!"

    Das Schwarze Meer gilt schon lange als hoffnungslos verdreckt. Die Anrainerstaaten haben es durch Abwässereinleitungen, Ölverschmutzungen und Überfischung an den Rand des biologischen Todes gebracht. Jahrelang hatte auch Levent Göktaschs Heimatstadt Ordu ihre Kanalisation direkt ins Meer geleitet. Seit kurzem wird an einer Kläranlage gearbeitet. Ordu zählt - alle umliegenden Gemeinden eingerechnet - 800.000 Einwohner, größtenteils wohnen sie in unansehnlichen Betonblöcken, die sich in das dichte Grün der steilen Berge schmiegen.

    Die Perlonschnur ruckt. Langsam holt Fischer Göktasch sie ein. Drei schmächtige Palamut bleiben zappelnd auf dem Holzdeck liegen. Gleich neben dem aufgerollten Gartenschlauch, mit dem Göktasch Luft holt, wenn er nach Meeresschnecken taucht. Die lassen sich ins Ausland, nach Frankreich verkaufen. Aber auch Meeresschnecken findet er immer seltener. Auf die Frage, ob er seinen Beruf trotz allem liebe, schiebt der Fischer seine Schiebermütze nachdenklich in den Nacken.

    " Nein, ich liebe ihn nicht. Der Beruf ist gefährlich und genug Geld gibt es auch nicht. Die Fischhändler verdienen an einem Fisch doppelt soviel wie wir. Ein Palamut bringt mir gerade eine Lira, also 60 Cent. Wir müssen nicht hungern, aber von jeder verdienten Lira stecke ich die Hälfte in die Instandhaltung des Bootes und in den Diesel. Nein, das ist ein unmöglicher Job. Und dann noch die großen Trawler, die uns mit ihren Schleppnetzen die kleinen Hamsi-Makrelen wegfischen. Wenn die raus fahren, fallen die Preise sofort auf 25 Kurusch. 12 Cent."

    Göktasch versenkt Backbord einen schweren Haken. Er möchte wenigstens noch einen Istavrit, eine Bastardmakrele, mit nach Hause nehmen. Die bringen fünf Lira das Kilo, macht drei Euro. Doch auch dieses Glück bleibt Göktasch heute verwehrt. Grimmig schaut er aufs Wasser.

    " Im Winter, wenn wir die Netze einholen, ist es besonders gefährlich raus zu fahren. Die Stürme können dein Boot in Stücke schlagen. Aber was sollen wir machen, wir müssen ja raus. Ich hatte bisher Glück. Aber so sind schon viele meiner Freunde und Kollegen ertrunken."

    Göktasch ist 45 Jahre alt, sein Gesicht von tiefen Furchen durchzogen, sein stoppeliger Bart zur Hälfte ergraut. Er zeigt seine schwieligen Hände vor - sein ganzes Kapital. Zur Schule ist er nie gegangen. Seine beiden Töchter hat er zur Schule geschickt. Sein achtjähriger Sohn dagegen ist immer noch zuhause.

    " Mein Sohn wird vielleicht auch nicht zur Schule gehen. Wie wir. Was soll ich machen? Der Junge kommt auch schon abends zu meiner Hütte an den Strand. Er wird wohl auch ein Fischer, werden wie ich. Morgens Fisch, abends Wein. Hier ändert sich ja doch nichts. Was soll ich sagen."

    Von Aufbruch in eine neue Zeit ist an den Ufern des Schwarzen Meeres wenig zu spüren. Von den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union erwartet Göktasch nichts:

    " Nein, an die EU habe ich keine Erwartungen. Selbst wenn von es von dort Geld geben sollte - uns wird das doch nicht erreichen. Vom türkischen Staat gibt es ja auch keine Unterstützung? Es gab mal eine Zeit, da bekamen wir Fischer von der Landwirtschaftsbank einen zinsfreien Kredit über fünf Jahre. Heute muss man sofort mit der Rückzahlung beginnen und die Zinsen sind auch nicht besser als bei Privatbanken. Ich habe keinen Kredit aufgenommen, aber ich kenne Kollegen, die mit der Rückzahlung kämpfen. Der Staat hat uns vergessen."

    Levent Göktasch und sein Kollege Müettin haben wieder den Strand vor ihrer Hütte erreicht. Drei kleine Fische - die decken nicht einmal die Kosten für den verbrauchten Diesel. Am Abend will Göktasch mit seiner "Kismet" noch einmal raus fahren. Und am nächsten Morgen wieder - Alltag eines türkischen Fischers vom Schwarzen Meer.




    Die Museumsdirektorin


    Europa ist auch nicht, was es verspricht. Unsere unglücklichen Helden werden den Osten einfach nicht los. Nach einer unendlichen Busreise befinden sie sich immer noch im Osten. Mitten im Ostblock, in Rumänien.

    Unsere Heldin und ihre Familie werden in Europa erniedrigt wie noch nie. Rollladen fallen vor ihrem Gesicht zu. Für zwei chinesische Wollunterhemden müssen sie die Chinesische Mauer überwinden, um zwei Tennisschläger aus der DDR mitnehmen zu können, machen sie Rückwärtsrollen, und damit sie nach ihrer Rückkehr am Bosporus mit Angelspulen fischen gehen können, ändern sie freiwillig ihre Namen. Ein Bus voller neuen Namen wird erfunden. Osmans, Ilhans, Atillas, Muzaffers und Nilgüns werden aus dem Fenster geworfen, Christine, Elisabeth, Christopher und Erich ausgeborgt.
    Der Rest ist eine lange Geschichte.

    Rückkehr. Die Blumen, die die von der plötzlichen Zeitreise verursachte Unruhe im Haus kaschieren sollten, haben vor Hitze ihre Köpfe hängen lassen. Die Mutter rennt mit der Gießkanne auf den Balkon. Dein Vater hat wieder den Namen einer anderen Frau in seinem Koffer versteckt, sagt sie zu ihr, während die trockene Erde das Wasser gierig aufsaugt. Der Name der Frau in der Ferne klingt in ihren Ohren: Iveta.

    Sei nicht traurig Mutter, sei bitte nicht traurig. Europa ist doch so weit weg.



    Das Stadt-Land-Gefälle ist prekär in der Türkei. Der Nordosten und die Kurdengebiete im Südosten dümpeln vielfach vor sich hin. In den großen Städten wie Istanbul, Ankara oder Izmir herrscht hingegen längst europäisches Flair. Heraus geputzte Büroviertel, schicke Flaniermeilen, und eine junge Stadtbevölkerung. Die Alten gibt es auch, aber man sieht sie kaum. Und auch das Kopftuch scheint in Berlin-Kreuzberg mehr verbreitet als am Goldenen Horn. In der 16-Millionen-Stadt Istanbul zeigt nun auch die Kunst-Szene politisch Flagge: Wir sind eine europäische Metropole, so die Botschaft.

    Zeitgleich mit dem entscheidenden EU-Gipfel wurde Ende letzten Jahres das erste offizielle Museum für Moderne Kunst in Istanbul eröffnet. Dieser Tage findet nun die 9. Kunstbiennale am Bosporus statt - mit derartig großem Erfolg, dass sie bereits mit Venedig verglichen wird. Die Debatte um den EU-Beitritt ist auch hier ständig präsent. Die zwei Gesichter der Türkei hat ein Künstler festgehalten in einem Bild, das eine verschleierte Frau zeigt: Mit europablauer Burka und Sternen drauf. Auf dem Weg nach Europa eben.


    Eine Lagerhalle, weiß getüncht und unter der Decke kreuz und quer verlaufende Blechkanäle für die Luftversorgung. Darunter an Trennwänden die leuchtenden Bilder des 1967 verstorbenen türkischen Malers Fikret Mualla. Erstmals ist eine so umfassende Retrospektive seines Werkes in der Türkei zu sehen: 243 Bilder des Expressionisten, zusammengestellt aus 35 Sammlungen: Straßencafe-Szenen in Paris, Zirkusartisten, Bauern in der Carmague. In der Türkei hat Fikret Mualla nur wenige Bilder gemalt. Der Freund Picassos haderte mit seinem Heimatland, er lebte überwiegend in Frankreich, wo er auch verarmt starb. Oya Eczabasi mischt sich mit Stolz unter die zahlreichen Besucher. Es ist ihre Ausstellung und ihr Museum: "Istanbul Modern", das erste Museum für Moderne Kunst in der Türkei. Fikret Mualla, sagt die 46-jährige, ist endlich heimgekehrt:

    " Fikret Mualla ist in der Türkei weniger bekannt als im Ausland, wo seine Bilder bei Sotheby's zu hohen Preisen versteigert oder in Paris oder Genf ausgestellt werden. Die letzten 30 Jahre vor seinem Tod lebte er in Frankreich, weil er eine phobische Angst vor der türkischen Polizei hatte. Erst Jahre nach seinem Tod sind seine Überreste hier in Istanbul anonym bestattet worden. Er war im Ausland, fern der Heimat nicht glücklich, trank viel; kam er zurück, wurde er von der Angst vor der Polizei gepackt. Wir fanden es war an der Zeit, diesen großen Künstler hier in Istanbul zu ehren. Schade nur, dass uns dies erst zwei Jahre nach seinem hundertsten Geburtstag gelungen ist."

    15 Jahre lang setzte sich Oya Eczabasi gemeinsam mit Gleichgesinnten dafür ein, dass türkische moderne Kunst im eigenen Land endlich einen angemessenen Ausstellungsort bekommt. Die Frau mit dem Jung-Mädchen-Lächeln hat Museumsmanagement in England studiert und dann in eine der reichsten Familien des Landes eingeheiratet: Die Eczabasis führen ein Pharmaunternehmen und sind die größten Förderer des Istanbuler Kulturlebens. Auch die Eröffnung von Istanbul Modern in einer ehemaligen Hafenhalle unweit des Goldenen Horns vor knapp einem Jahr wäre ohne das Vermögen der Eczabasis, ohne ihre umfangreiche Kunstsammlung und vor allem ohne ihren politischen Einfluss nicht denkbar gewesen. Oya Eczabasi hebt heute noch staunend ihre Augenbrauen, wenn sie darüber spricht, dass es ausgerechnet der als rückständig-islamistisch geltende Ministerpräsident Tayyip Erdogan war, der ihren Museumsträumen zur Wirklichkeit verhalf:

    " Diese Regierung war die erste, die uns unterstützte. Erdogan war es, der den Weg dafür frei gemacht hat, dass wir dieses Gebäude bekamen. Ich glaube nicht, dass er es wegen der EU-Bewerbung wollte, als Image-Sache sozusagen. Er fand einfach, dass eine Stadt wie Istanbul so ein Museum braucht."

    Auf den 8000 Quadratmetern sind Gemälde, Skulpturen und Fotografien bekannter und weniger bekannter türkischer Künstler zu sehen. Dazu gibt es eine Bibliothek, eine Mediathek, ein Kino und einen gesonderten Kunstraum für Schulklassen. Wir haben die Werke aus den Kellern und Depots ans Tageslicht geholt, sagt Oya Eszcabasi. Unermüdlich fuhr sie dafür mit ihrem Sportwagen von einem Sponsor zum anderen bis sie genug Geld zusammen hatte. Wie viel, will sie nicht verraten. Für die große Kunst und Kultur sind in der Türkei nicht Staat oder Stadt, sondern Privatleute zuständig:

    " Allein in Istanbul gibt es 300 Galerien. Das zeigt, dass sich die moderne Kunst hier konzentriert. Unser Ziel ist, sie aus den Ateliers und Galerien einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Wir Türken sind noch nicht daran gewöhnt, sonntags ins Museum zu gehen, so wie in Westeuropa. Wir schauen lieber Fernsehen oder machen sonst etwas in unserer Freizeit."

    Oya Eczabasi geht mit federndem Schritt voran in das Museumscafé. Von der Terrasse aus kann man den Topkapi-Palast und die Hagia Sophia sehen. Wenige Meter von den Gästen mit den Kaffee-Latte-Gläsern entfernt wird ein rostiges Frachtschiff aus der Ukraine entladen. Oya Eczabasi hofft, dass mit diesem Museum und mit dem zunehmenden internationalen Erfolg der Istanbuler Kunst-Biennale niemand mehr dumm guckt, wenn sie im Ausland von moderner Kunst aus der Türkei erzählt:

    " Solche Reaktionen habe ich zu meinem Bedauern oft erlebt. Dabei gibt es so viele zeitgenössische Künstler, aus der Türkei, die international für Furore sorgen. Langsam machen sich unsere Künstler frei von den Urteilen aus dem Westen. Wir sind vom Westen beeinflusst, aber der Westen auch umgekehrt von uns. Die neue Künstlergeneration hat ihren eigenen Weg gefunden."

    Oya Eczabasi blickt hinaus auf das gegenüber liegende östliche Ufer der Stadt. Irgendwo dort hinten beginnt Anatolien. Eczabasi schüttelt ihre blond gefärbten Haare, lächelt und entwirft mit ihren Händen die nächste Kultur-Vision für ihr Land:

    " Sehen Sie, wir haben 15 Jahre gebraucht, um dieses Museum zu bauen. Wir stehen erst am Anfang, aber wir wollen die Kunst auch in andere Ecken des Landes tragen. Wir haben einen Info-Bus. Der soll erst die Schulen Istanbuls abklappern und dann Richtung Osten aufbrechen. Wir wollen alle an der modernen Kunst teilhaben lassen. Auch wenn das noch ein langer, schwieriger Weg ist."

    Und das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Die Türkei auf dem Weg nach Europa - ein Land mit zwei Gesichtern. Gunnar Köhne war unser Autor. Die Musik hat Babette Michel ausgesucht. Und die Literaturpassagen entnahmen wir dem - noch nicht übersetzten - Erzähl-Band "Zerrissene Liebe" von Gönül Kivilcim. Im Namen des gesamten Teams verabschiedet sich von Ihnen Barbara Schmidt-Mattern!

    Literatur

    Gönül Kivilcim; Eine zwangsläufige Reise nach Europa - eine Kurzgeschichte, aus dem Erzählband: Parçali Asklar (Zerrissene Liebe), Verlag Everest (Türkei), 2004. 67 Zeilen

    Übersetzung (exklusiv für DLF): Dilek Zaptcioglu