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Ein Leben abseits des Aufschwungs

Als das AEG-Werk in Nürnberg vor gut zwei Jahren geschlossen wurde, verloren rund 1700 Menschen ihren Job. Viele von ihnen stehen noch immer auf der Straße. Das Schauspiel Nürnberg hat unter dem Titel "ArbeitsEnde: Gestern" ein Projekt gestartet, mit dem an die Folgen der Werksstilllegung erinnert werden soll.

Von Bernd Noack | 30.10.2008
    Noch leuchten die großen roten Buchstaben über dem Nürnberger Stadtviertel Muggenhof, aber die Bagger sind schon dabei, die leerstehenden Fabrikgebäude abzureißen: der Schriftzug "AEG" stand einmal für weltbekannte solide Haushaltsgeräte und für sichere Arbeitsplätze. "Aus Erfahrung Gut" dichtete die Marketing-Abteilung damals traditionsbewusst. Seit das Werk vor zwei Jahren dicht machte, die Produktionen in Billiglohnländer verlagert und über 1700 Beschäftigte entlassen wurden, haben die drei Lettern eine andere tiefere Bedeutung: "Auspressen – Entlassen – Globalisieren".

    Was aber ist aus den Menschen geworden, die den Großteil ihres Lebens dort an den Bändern und in den Montagehallen verbracht haben, die sich so seltsam geborgen fühlten in der großen AEG-Familie – und die eines "schwarzen" Tages auf einmal nicht mehr in, sondern vor der Fabrik standen, im Streik gegen die Abwicklung des Betriebes vereint und dennoch ohne jegliche Hoffnung, dass dieser Protest irgendeinen Sinn haben könnte? Zwei Jahre nach der Schließung kümmern sich nach wie vor Arbeitsämter oder Umschulungstrainer um mehr als die Hälfte der betroffenen Männer und Frauen – und jetzt also auch noch das Theater.

    Denn das Schauspiel Nürnberg hat seinerseits die drei Anfangsbuchstaben hergenommen und unter dem Titel "ArbeitsEnde: Gestern" ein Groß-Projekt gestartet, mit dem die Umstände und die Folgen der AEG-Schließung noch einmal ins Bewusstsein zurückgeholt werden sollen. So vehement die Solidaritätsbezeugungen nämlich seinerzeit waren, so schnell kam das große Schweigen. Mit Text-Collagen, Diskussionen, einer Ausstellung, mit Schreibwerkstätten, Lesungen und öffentlichen Aktionen will das Theater die Auswirkungen der Werksschließung zur Sprache bringen: auf der Bühne, in aufgelassenen Fabrikhallen, in Cafés, Wirtschaften und Läden im ziemlich vergessenen Stadtteil kommen diejenigen zu Wort, die damals nicht gefragt wurden.

    "3 von 5 Millionen" waren es in Fritz Katers Stück über das Schicksal von Arbeitslosen; zwölf von 1760 sind es in Nürnberg. Der Unterschied: Diese Zwölf sind keine Bühnen-Kunstfiguren, es sind sehr lebendige, unzufriedene, mutige Menschen, die früher mal im Akkord schufteten und sich jetzt vor ein Publikum stellen, weil sie etwas zu berichten haben von der Schieflage im Wirtschaftswunderland. Regisseurin Tina Geissinger hat zusammen mit diesen ehemaligen AEGlern deren Geschichte und Geschichten zu einem Stück verdichtet, das von dem Versuch erzählt, ein Leben abseits des Aufschwungs zu organisieren und durchzustehen.

    "Es gibt ja unheimlich viele Beiträge gerade im Theater momentan zu dem Thema, aber wir wollten es eigentlich von der anderen Seite anfangen. Wir wollten nicht über Leute arbeiten, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, sondern gemeinsam mit ihnen, nicht Schauspieler auf die Bühne stellen, die Text sprechen, der über Arbeitslosigkeit geht, sondern einfach möglichst eben die Experten der Arbeitslosigkeit quasi auf die Bühne holen. Ich glaube dadurch erreicht man, dass dieses Thema noch einmal eine andere Glaubwürdigkeit bekommt, einfach auch ne Bildfläche, die es ansonsten zwar hat, aber es wird eben nur abgebildet. Das ist ja nicht wirklich, wenn Schauspieler über Arbeitslosigkeit spielen, da ist zwar das Thema im Raum, aber du siehst die Leute nicht, du kannst nicht anknüpfen an das, was erzählt wird auf die Art und Weise, auf die man nun hoffentlich anknüpfen kann, wenn die AEGler ihre Geschichten selber erzählen."

    Es ist anrührend und aufrüttelnd zugleich, was dann da auf der Bühne geschieht: An einer langen Kaffee-Tafel treffen sich die Arbeitskollegen von früher noch einmal, kommen ins Erinnern, Schimpfen, Hoffen und Trösten. Eine nur oberflächlich fröhliche Runde, in der es rumort. Da ist immer noch die Wut auf den Konzern, auf die Politik, die nichts ausrichten konnte, da sind aber auch und vor allem für Außenstehende schwer verständliche Reminiszenzen an eben diese große "Familie", die die AEG in Nürnberg einmal gewesen sein muss, weil sie Arbeit und bescheidenen Wohlstand für ganze Generationen bot. Jetzt fühlen sie sich betrogen, ausgenützt, weggeworfen. Und wie zum Hohn fallen sie zurück in alte Zeiten: Eine Frau vollführt wie in Trance und mechanisch die Arbeitshandgriffe, die über 30 Jahre ihren Alltag bestimmten; die anderen ahmen die Geräusche nach, die in den Hallen herrschten – doch die Frau greift nurmehr ins Leere und in den improvisierten Maschinenlärm brüllt ein Mann, dass er einen Tinitus davon bekommen hat.

    Das Projekt "ArbeitsEnde: Gestern" kann sicherlich solche körperlichen und seelischen Schäden nicht heilen und es schafft auch keine neue Stellen für die Entlassenen. Aber einigen hilft es anscheinend bei der Aufarbeitung des Kapitels und bei der Bewältigung einer noch immer ungewissen Lebenssituation. Karl-Heinz Bienek zum Beispiel war 34 Jahre bei dem Konzern und steht jetzt auf der Bühne. Nach der Vorstellung sagt er:

    "Diese Spielwerkstatt und das Theaterstück: das ist dann der Punkt, wo ich mit der AEG komplett abschließe. Dann beginn ich was Neues."