Samstag, 20. April 2024

Archiv


Ein lebendiges Porträt Chamissos und seiner Zeit

Die Literaturkritikerin und Autorin Beatrix Langner hat dem ungewöhnlichen Dichter, exzellenten Botaniker, Sprachwissenschaftler und Ethnologen Adelbert von Chamisso eine Biografie gewidmet. Sie beschreibt den Weltreisenden als Menschen, der sich ruhelos zwischen den Grenzen und Kulturen bewegte, als vaterlandslosen "wilden" Europäer.

Von Michaela Schmitz | 17.02.2009
    Seiner 76 Jahre alten Wäscherin widmet der alternde Autor die Lieder von der "alten Waschfrau". Den Erlös der Einzelblatt-Drucke von 150 Talern gibt er der alten Frau. Im Berlin um 1838 entspricht die Summe dem Jahresgehalt eines Dienstboten. Der 57-jährige Dichter wird von seinen Lesern geliebt - besonders für seine sozialkritischen Balladen wie "Der Bettler und sein Hund" oder "Die Giftmischerin". Jahr für Jahr muss der Verlag Neuauflagen seiner Gedichte drucken.

    Schon mit vierzehn Jahren hatte er zu schreiben begonnen. Seine erste phantastische Erzählung veröffentlicht er mit über 30. "Peter Schlehmihls wundersame Geschichte" reist schneller um die Welt, als sein Autor den Erdball umsegeln kann. Von Dänemark bis Kapstadt kennt man das Märchen vom Mann, der dem Teufel seinen Schatten verkauft. Adelbert von Chamisso: beliebter Schriftsteller, abenteuerlustiger Weltreisender und anerkannter Naturwissenschaftler in einer Person.

    In ihrer neuen Chamisso-Biographie begibt sich Beatrix Langner auf die Suche auch nach den weniger bekannten Details seiner Lebensgeschichte. Und findet in Chamisso einen "wilden Europäer", der sich selbst allererst erfinden musste. Viel Wert legt Beatrix Langner dabei auf die Einbindung ihres Chamisso-Porträts in die politische, gesellschaftliche und kulturelle Zeitgeschichte. Auch der Darstellung von Zeitgenossen und Freundeskreis widmet sie große Aufmerksamkeit. Denn die Bedeutung von Chamissos "wildem" Lebensentwurf wird erst dann transparent, wenn man ihn vor dem Hintergrund der nationalen und sozialen Entwicklungen seiner Zeit liest.

    Als das sechste von sieben Kindern des französischen Grafen Chamissot wird Adelbert von Chamisso 1781 auf dem Schloss Boncourt in der Champagne geboren. Die Französische Revolution zwingt die Familie zur Flucht nach Deutschland. In Berlin besucht der 15-Jährige das Französische Gymnasium und wird Page bei Königin Luise von Preußen. Nach dem Wunsch seiner Familie schlägt er die Offizierslaufbahn ein. Als Leutnant der preußischen Armee soll er gegen Napoleons Truppen in den Krieg ziehen. Mit Glück entgeht er dem Kampf gegen seine Landsleute. An den Befreiungskriegen gegen Napoleons Besatzung darf er als Franzose nicht teilnehmen. Die nationalen Konflikte treiben den jungen Emigranten zwischen alle Fronten. Jahre später klagt er Madame de Staël, er sei

    "... Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich, Katholik bei den Protestanten, Protestant bei den Katholiken, Philosoph bei den Gläubigen und Heuchler bei den Männern des Ressentiments, Jakobiner bei den Aristokraten und Mann des ancien régime bei den Demokraten. Ich habe nichts, wohin ich gehöre, ich bin überall fremd."

    Der heimatlose Chamisso sucht sich eine geistige Heimat in Literatur und Wissenschaft. Schon als angehender Offizier bringt er nach dem Exerzieren Stunden in der Bibliothek zu. Dort arbeitet er, so Biografin Beatrix Langner, in weniger als 20 Monaten Jean-Jacques Rousseau, Montesquieu, Voltaire, die deutschen Philosophen Leibniz und Kant, die Dichter Klopstock, Goethe, Schiller, die Naturrechtslehre, die apriorische Vernunftlehre, den Hedonismus und die angeborenen moralischen Begriffe durch. Selbst im Feldzug gegen die napoleonische Armee betreibt er weiter seine Studien. Während seiner Stationierung im westfälischen Mandern liest er den Koran und bei Göttingen das Matthäus-Evangelium. Schließlich schreibt er, zurückgezogen im brandenburgischen Dorf Kunersdorf, mitten im russisch-preußisch-französischen Krieg seinen "Schlemihl".

    Seine Familie ist seit 1801 wieder in Frankreich und möchte ihn schon lange in die Heimat zurückholen. Aber weder eine vorteilhafte Heirat, noch die Aussicht auf attraktive Anstellungen können Chamisso davon abbringen, seinen eigenen Weg zu gehen. Der gutmütige, in Gesellschaft eher ungelenke Chamisso trifft sich lieber mit Gleichgesinnten wie Karl August Varnhagen, Friedrich de la Motte Fouqué und E.T.A. Hoffmann in Salons und Dichterzirkeln wie dem Nordsternbund oder den Serapionsbrüdern. Außerdem genießt der schüchterne, gut aussehende Chamisso die Aufmerksamkeit der Damen. Schließlich folgt er dem Ruf der Madame de Staël ins Schloss Chaumont und an den Genfer See.

    Aber auch wer immer nur davonläuft, kommt schließlich irgendwann irgendwo an. In der Schweiz entdeckt Chamisso sein Interesse für Botanik. Er reist nach Berlin, um dort Medizin zu studieren. Nach einigen Studienjahren zieht es ihn in die Fremde. Drei Jahre begleitet Chamisso als Naturwissenschaftler eine Schiffsexpedition quer durch den Pazifik. Im Buch "Reise um die Welt" wird er später seine Erinnerungen an die Weltumseglung niederschreiben. Sie führt ihn über Südamerika und die Südsee bis an die Küste Alaskas, wo man ein felsiges Inselchen nach ihm benennt. Sogar eine von ihm neu entdeckte südamerikanische Pflanze mit blassrosa Blüte wird auf den Namen "Chamissonia" getauft. Am meisten fasziniert Chamisso die Kultur und Sprache Polynesiens. Er bewundert das sanfte und friedfertige Volk der Rataker, mit deren Einwohnern sie nach Landessitte ihre Namen tauschen.

    "Der symbolische Namenstausch war in seinen Augen das beste Beispiel dafür, dass der Mensch überall zuhause sei, wo seine Seele willkommen ist. Indem man mit den Fremden die Namen tauschte, tauschte man die symbolische Repräsentation. Jeder war nun zugleich er selbst und der Andere."

    In diesem liebenswürdigen Brauch der Südsee-Einwohner erkennt Chamisso eine Form der Interkulturalität, weit entfernt von der nationalistischen Hysterie Europas und der von ihm kritisierten kolonialistischen Praxis. "Der wilde Europäer" hat hier ein geistiges Zuhause gefunden. Chamisso fühlt eine enge Seelenverwandtschaft. Hier findet er sein Lebensmodell verwirklicht, sich jenseits nationaler und sozialer Unterschiede selbst neu zu erfinden.

    Wieder nach Berlin zurückgekehrt, erhält Chamisso eine gut bezahlte Anstellung als Botaniker. Aus seiner späten Ehe mit Antonie, der Ziehtochter seines Freundes Hitzig, gehen sieben Kinder hervor. Neben seiner Arbeit als Naturwissenschaftler verfasst er eine Abhandlung über die Hawaiische Sprache und wird zum Mitherausgeber des "Deutschen Musenalmanachs". Mit 57 Jahren stirbt Adelbert von Chamisso nur ein Jahr nach seiner Frau an Lungenkrebs.

    Was den "König der stillen Inseln" noch vor seiner vielfältigen Begabung auszeichne, sei der mutige Versuch, sein eigenes Leben als Entwurf der Freiheit zu leben. So formuliert Beatrix Langner im "Nachsatz" das Fazit ihrer Chamisso-Biografie. Beatrix Langner widerum ist es in ihrem Buch gelungen, diese Fiktion aus dem sorgfältig recherchierten Material herauszuarbeiten. Entstanden ist das lebendige Bild eines facettenreichen, liebenswerten Menschen, der selbst zum Autor seines Lebens wird.