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''Ein liberaler Menschenfreund und Lebenskünstler''

"Ich bin", sagt er, "ein liberaler Menschenfreund und Lebenskünstler, dessen Devise heißt: Leben und leben lassen" - ausgestattet mit dieser gewiß nicht originellen, aber allemal erfreulichen und vermutlich nicht sehr weit verbreiteten Weltanschauung überzeugter Bürgerlichkeit, hat sich Walter Kempowski im literarischen Leben nicht nur Freunde gemacht. Jedenfalls nicht bei jenen Teilen hochkulturell gestrickter Literaturkritik, die sein Werk häufig unter der Rubrik gehobener Unterhaltungsliteratur mit dem Hautgout des Trivialen abheftete. Kempowski nahm's gelassen, steht dem doch sein enormer Publikumserfolg gegenüber; seine Bücher sind fast alle zu Bestsellern geworden, und auf Lesereisen hat er ausverkaufte Säle.

Klaus Modick |
    Walter Kempowski, geboren 1929 in Rostock, wurde 1948 in der damaligen DDR wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er kam ins Zuchthaus Bautzen, wurde jedoch 1956 vorzeitig entlassen und ging in die Bundesrepublik, wo er Lehrer wurde. 1971 erschien mit "Tadellöser & Wolff" Kempowskis erster Roman, der auf Anhieb erfolgreich war und durch eine spätere Fernsehverfilmung überaus populär wurde. Seitdem verließ ihn der Erfolg nicht mehr. Aber dieser Erfolg beruht vielleicht auf produktiven Mißverständnissen eines Teils seines Publikums. Idyllen und gemütliches Geplauder, die man ihm nachsagt und die wohl auch so mancher bei ihm sucht, sind bei diesem Autor nämlich nur um den Preis einer selektiven Lektüre zu haben, die aus den Texten liest, was "erbaut", und das ignoriert, was erschreckt. Das Nette, Pausbäckige, Onkelhafte, das Schwelgen in guten, alten Zeiten, ist hier fast immer ironisch gebrochen und konterkariert vom Grauen unseres mörderischen Jahrhunderts. Gerade wegen der täuschenden Harmlosigkeit des Tonfalls stehen bei Kempowski das Banale wie das Niedliche hochgradig ambivalent und spannend widersprüchlich nebeneinander. Kempowskis Erzählprojekt ist also ein Drahtseilakt über den Sümpfen der Trivialität und eines wohlfeilen common sense. Die enorme Tiefenschärfe dieses Erzählens kommt dadurch zustande, daß Kempowski sich mit abenteuerlicher Exaktheit an den Oberflächen abarbeitet, die ja bekanntlich nur dem oberflächlich sind, der sie nicht zu lesen versteht, an den Nuancen und Details der Dinge, insbesondere aber auch der Sprechweisen. Insofern läßt sich hier von einer Literatur absoluter Konkretheit sprechen, die dennoch mit naturalistischer Faktenhuberei nichts zu tun hat. Ideologische oder moralische Deutungen sind radikal ausgeschieden; Kempowski läßt die Menschen und Dinge sozusagen für sich selbst sprechen, wobei diese Methode weit davon entfernt ist, dokumentarisch zu werden. In seinen Romanen werden keine Welten beschworen, hier werden Welten, Denk- und Sprechweisen und Atmosphären bis in ihre subtilsten und banalsten Verästelungen hinein rekonstruiert. Doch strahlen diese Rekonstruktionen nichts Museales aus; sie sind höchst lebendig, sie atmen sozusagen, weil sie zugleich kunstvolle Konstruktionen aus Autobiographie, Recherche und fiktionaler Energie sind.

    Im Gespräch hat Walter Kempowski mir einmal gesagt, er fühle sich mit Arno Schmidt verwandt. Und in der Tat existieren hier Gemeinsamkeiten, die sich allerdings erst auf den zweiten Blick erschließen, dann aber frappierend sind. Beide sind Meister der Textmontage, wofür Kempowski mit seinem vielgelobten "Echolot"-Projekt den nachdrücklichen Beweis lieferte - eine gigantische Collage aus Fremdmaterial, in der der Autor nur noch als Organisator fungiert. Als ich vor einigen Jahren mit Kempowski zusammen eine Lesereise durch verschiedene Städte machte, wunderte ich mich leicht befremdet, daß er in jeden Trödel- oder Antiquitätenladen ging, dort herumstöberte und fast immer etwas kaufte - alte Fotoalben, Briefbündel von Leuten, von denen er nie etwas gehört hatte, und so weiter. Diese Sammelwut war jedoch, wie sich herausstellen sollte, nichts anderes als Materialbeschaffung fürs "Echolot". Schmidt wie Kempowski sind übrigens auch Fanatiker des Details, und beide interessieren sich für das Bodenlose im Banalen. Während Schmidt seine kreative Energie aber immer stärker in sprachliche Feinstrukturen verschob, zielt Kempowskis Projekt auf eine Art Rettung der Dingwelt und eine, bisweilen urkomische, Archivierung der Umgangssprache, die bekanntlich raschen, modischen Wandlungen unterworfen ist. Daher in den Romanen dieser unangestrengte Plauderton Kempowskis, dieser Gestus eines scheinbar kunstlosen, literarisch konsequent heruntergespielten Stils, der sich dem Sprechen verdankt, dem Erzählen und dem sehr genauen Hinhören aufs Erzählte, der also seine Exaktheit wie seine Lockerheit aus oraler Überlieferung bezieht. Wer die Welt nicht beobachtet, wer den Menschen nicht aufs Maul schaut, der hat auch nichts zu erzählen. Kempowski hat viel zu erzählen, und er tut es mit List und jener raffinierten Tücke, die im trügerischen Idyll die Abgründe ahnen läßt.