Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Ein Lyriker auf den Pfaden der Forschung

Wilhelm Bartsch, geboren 1950, ist bisher vor allem als Lyriker in Erscheinung getreten. In seinem ersten Roman widmet er sich nun der Zeit der europäischen Befreiungskriege und einem berühmten Mann, der sich mit Haut und Haar der Forschung verschrieben hat.

Besprochen von Florian Felix Weyh | 13.03.2011
    Es gibt tausend Wege, einen Roman zu beginnen. Tausend Arten gibt es, diese Wege zu umgehen. Und plötzlich ereignet sich solch ein Anfang:

    "Ich war dreizehn Jahre alt, mein Freund Ludwig Wucherer erst zwölf, als das Unvorstellbare auch wirklich geschah – wir schnitten meinen Vater auf. Seine Eingeweide schwammen in weißlichem Wasser, und tatsächlich ragte die gewanderte Leber wie ein Inselberg daraus hervor. Die Geheime Räthin Meckel, deine Großmutter, musste eine große Schöpfkelle aus der Küche holen, weil die anatomische für die Ausschöpfung ihres Gatten einfach zu klein war. Wir köpften den Vater, natürlich vorsichtig, und wir weideten ihn aus. Dann entfleischten wir ihn und kochten seine Knochen."

    O weh, ein Kannibalenroman, denkt zagend das Kritikergehirn, doch die Angst leitet in die Irre: Es geht nicht um Kannibalismus, sondern um Wissenschaft:

    "Wir kochten Vater mehrere Tage lang mit Ätznatron. Die Schabemesser, das Scheidewasser und das Terpentinöl für die Knochen lagen und standen schon bereit. Da es für mich nach meiner tieftraurigen und heftig verrichteten Tranchierarbeit um Vaters doch noch ganz tröstliche Knie herum nichts mehr gab, was ich noch hätte tun wollen, ging ich ein letztes Mal Vaters Kopf besuchen. Der Kopf Philipp Theodor Meckels oben auf seinem Schreibpultaufsatz saß jetzt auf einem schwarzsamtenen Kissen, das ihm die Geheime Räthin Meckel zum letzten Male nun untergeschoben hatte – nur dieses Mal nicht unter das bereits verarbeitete Gesäß ihres geliebten Gatten."

    So klingt grimmiger Humor, die Basstonart der Lachlust, bei der neben den hel¬len Tönen des Witzes immer gleich das dunkle Echo jener steinernen Gruftwände mitschwingt, die von unserer Sterblichkeit künden. Denn gelacht wird im Meckelschen Hause stets im Angesicht des Todes. Das ist natur- wie berufsbedingt, und nur gänzlich trockene, um nicht zu sagen vertrocknete Menschen verstehen nicht, wie man umgeben von Leichenteilen das Skelett des Vaters mit fröhlichem Sarkasmus herauspräparieren kann. Das sind dann solche Menschen, die ihren Mangel an Vitalität durch Welteroberungen kompensieren müssen. Ihnen fällt schon einfaches Lächeln schwer:

    "Ich sah, dass Napoleon im Grunde nur einen einzigen Lachzug benutzte, den Musculus risorius im linken Mundwinkel. Normale Menschen müssten lange üben, um dergleichen in einem ansonsten starren Gesicht auszulösen."

    Wir schreiben das Jahr 1813, die europäischen Befreiungskriege sind angebrochen, doch die endgültigen Schlachten stehen noch aus. In Preußen formiert sich Widerstand gegen die Fremdherrschaft, das Lützowsche Freikorps wirbt um junge Zivilisten, die ihre Kleidung schwarz färben, um wenigstens eine Art Einheitlichkeit in ihren Studentenwämsern zu erreichen. Die meisten sind gut zu Mund

    "Die berühmte 2. Schwadron der Lützower begann in diesen Stunden mit ihrer allen anderen Heeren und Waffengattungen haushoch überlegenen Kampfestechnik – mit dem Schwadronieren."

    ..etwas schlechter zu Pferd und auf wilde Abenteuer aus. Aus Halle an der Saale schließt sich ihnen Albrecht August Meckel von Hemsbach an, der jüngere Halbbruder des Johann Friedrich Meckel, beide Söhne des ausgekochten und als Skelett erhalten gebliebenen Vaters Philipp Friedrich Theodor von Meckel. Da diese ganze Meckelei schnell unübersichtlich wird, bezeichnet "Meckel" im Buch immer nur den Wichtigsten der Familie, den unermüdlichen Anatom und Pathologen an der Hallischen Universität, Begründer der "Missgeburtenlehre", Johann Friedrich Meckel. Seine Dominanz als Mensch und Gelehrter überstrahlt das Umfeld derart, dass der jüngere, stets wie ein Sektionshelfer behandelte Halbbruder das Weite sucht. Besser Leichen auf dem Schlachtfeld fleddern als Leichen unter Meckel sezieren.

    Meckel wäre aber nicht der große, unbeirrbare Meckel, nutzte er die Gunst der Stunde nicht aus: Will der kleine Bruder schon durch die napoleonischen Reihen hindurch, um sich in Breslau den Lützowern anzuschließen, soll er doch bitteschön auf dem Rückweg ein entliehenes Buch zurückbringen, die "Hunter’schen Schwangerentafeln" mit ihren sensationellen anatomischen Darstellungen. Und noch schöner wäre es, den Krieg der medizinischen Forschung unterzuordnen und Napoleons Kopf zu besorgen. Meckel meint das wörtlich:

    "Seine Selbstüberhebung ist einfach nur grandios und irgendwie berechtigt. Das fängt bei unserem Adelstitel an, den wir alle, außer deinem Onkel, recht gern gebrauchen. Sowie jemand in der Anrede Meckel gegenüber auch nur zu einem "von Hemsbach" ansetzt, wird er verbal scharf geschnitten mit seinem "Ich bin nur Meckel!" Stolzer könnte sich der Kaiser von China nicht darbieten. Andererseits gibt es wohl niemanden auf dieser Welt, der wie Meckel aus heiterstem Himmel in platonische Dialoge geraten kann, die kein Außenstehender begreift. Es kann ein alter, kranker, nicht eben intelligibler Landstreicher sein wie der, der den vierfüßigen Hahn Dante im Riesenhaus abgegeben hat, der genau in Meckel denjenigen findet, dem etwas anzuvertrauen oder mit dem etwas durchzusprechen ist, das den Anschein hat, zu den wesentlichen Geheimnissen des Lebens zu rechnen. Meckel muss auf eine solche Weise auch dem grandios weltweiten Landstreicher Bonaparte in Paris begegnet sein. Wenn aber dem so gewesen sein könnte, wie hätte der Korse Meckel zu einer Schachfigur auf seinem Machtbrett auch nur denken können, ohne dass dieser nicht schon an einen ganz realen Gegenzug gedacht hätte?"

    Wilhelm Bartsch ist uns als Romancier bislang noch nicht gegenübergetreten. "Warum eigentlich nicht?", fragt man sich unwillkürlich schon nach den ersten grandiosen Seiten von "Meckels Messerzügen", denn eine derartige Sprachlust und Wortgewandtheit hat man bei einem – nun ja: Erstling – schon lange nicht mehr erlebt. Aber Bartsch ist natürlich kein unerfahrener Mann, sondern ein gerühmter Lyriker, Jahrgang 1950, mithin ein spätberufener Belletrist. Seit Jahrzehnten beschäftigt ihn die mitteldeutsche Landschaft, ihre reichhaltige Kultur und ihre durchaus blutige Geschichte. Dass er sich der Biografie jener Meckels annimmt – der "Bachs der Medizingeschichte", kann Kenner seines Werks nicht erstaunen. Aber was er daraus macht, ist mehr als erstaunlich: Eine Kreuzung aus Schelmenroman und Jean-Paul-Schnurre, die aber nicht epigonal historisiert, sondern unserer Zeit begreiflich machen will, warum sich große Naturforscher Anfang des 19. Jahrhunderts ihrem Metier mit Haut und Haar verschrieben. Die stofflichen Verlockungen für einen Lyriker liegen auf der Hand: Noch heute besticht das durch Anschauung gewonnene Wissen dieser Zeit durch seine Sprache; bisweilen lassen Rhythmus und Klangschönheit sogar ein Tor zur poetischen Schlüpfrigkeit offen. Dabei geht es beispielsweise nur um Nacktschnecken:

    "Quasi in- und auswendig und so gut wie niemand sonst kannte Meckel Aplysia leporina, Fimbria fimbria, Doris, Pleurophyllida, Oscanius tuberculatus und Gasteropteron. Manche der Nacktschnecken sind nicht größer als der nun wirklich kleine Fingernagel von Meckels Friederike. Andere sind wie Bon Bons oder wie ein durchsichtiges Konfekt, und manche von ihnen, wie die Pleurobranchaea Meckeli, mögen die Größe einer pardon! schaamesrothen Vulva der Menschin erreichen."

    "Meckels Messerzüge" – gemeint sind die raschen Schnittbewegungen des Pathologen – geben einen äußerst vitalen, unterhaltsamen Einblick in die "Lebenswissenschaften" des frühen 19. Jahrhunderts. Aber das macht nur die Hälfte des Romans aus. Die andere Hälfte fragt nach den Zeitumständen. 1813 bis 1815 vollzog sich in den Befreiungskriegen Entscheidendes für die deutsche Geschichte – nicht nur, was ihren weiteren Verlauf mit Restauration, preußischer Dominanz und Reichsgründung betraf, sondern auch entscheidend für künftige ideologische Projektionen. Allen nachfolgenden nationalistischen Regimen diente diese Anti-Napoleon-Allianz als Propagandastoff für vaterländische Gesinnung.

    Das muss man wissen, wenn man sich heute dieser Epoche widmet, und Bartsch weiß das sehr genau. Wenn er seinen unbekümmerten Helden zum Lützowschen Freikorps schickt, so trägt dies noch Züge anarchischer Rabaukenromantik, doch deren Einkesselung durch nationalistische, ja rassistische Ideologeme schimmert schon durch. Es sind bestimmte Gestalten, die dem Widerstand eine unerfreuliche Richtung geben, etwa Friedrich Ludwig Jahn, der "Turnvater Jahn":

    "Blücher hatte von ihm gesagt, dass einer, der seine höchste Befriedigung darin findet, an einer mit Magnesia präparierten Stange in der Hasenheide zu voltigieren, doch nicht ganz richtig im Kopfe sein könne."

    Doch die Flucht in den herablassenden Scherz verdeckt nur das destruktive Potenzial dieses politischen Wirrkopfs, der im Roman wie in der Realität einflussreich genug ist, das "Lützowsche Freikorps" mit aufzubauen und als Zivilist ohne militärische Ausbildung zeitweise ein Bataillon zu führen. Diese oft heroisierte Figur erscheint Wilhelm Bartschs Protagonisten allerdings schon bei der ersten Begegnung zutiefst suspekt:

    "Jahn, ein ganz einfacher deutscher Mann der unausstehlichen, also mehrheitlichen Sorte, war, sah ich, kaum auf diesem Landsitz angekommen, schon hatte er sich den gewichtigsten Schreibtisch des Hauses genau in die Mitte der saalähnlichen Stube rücken lassen. Dieser Mann war zwar momentan ein regulärer Bataillonschef – aber eigentlich war er nur ein Vorturner für alles, was an die Wand pissen kann, und leider auch eine verlässlich laute und langweilige deutsche Sprachröhre, aus der es zuweilen witzlos und sich zornig überschlagend und kettenrasselnd anschlug wie bei dem kranken Wachhund, der immer nur den Räuber wittert, selbst wenn es der Tierarzt wäre."

    Ganz wie bei Theodor Körner, den Bartsch im Nachwort einen "deutschen Dschihadisten" nennt, weil sich der 22-jäh¬rige Dramatiker selbstmörderisch zum Märtyrer machte, ist der Patriotismus des Friedrich Ludwig Jahn im Kern antizivilisatorisch. Indem er nur noch Freund-Feind-Kategorien kennt, gibt er humane Positionen preis:

    "Jahn erzählte, um zu zeigen, wie weit ein wahrer Patriotismus reichen solle, wie er und von ihm animierte Leute Anfang des Jahres 1813 etliche der aus Russland noch bis nach Berlin gewankten französischen und somit auch deutschverbündeten Elendsgestalten mit ihren bereits erlangten Quartierbillets so lange bewusst in die Irre geschickt hatten, bis die armen Hunde irgendwo gleich auf der Straße krepiert waren. Nach seiner ausführlich gemeinen Erzählung begann Todvater Jahn leise und mit Hochgenuss das Lied »Mit Mann und Ross und Wagen« in seinen unheimlichen rötlichen Bart zu singen. Zu diesen schlagfertigen Worten wollte er selbst einen seiner turnenden Primaner animiert haben. Das Lied konnte damals wirklich jeder mitsingen – und er staunte schließlich, dass nun keiner von uns mitsang. "Fremden zeigt man den Weg", sagte schließlich der hallesche Philosophieprofessor und Theologe Hoffbauer, seinen Rücken ausdrücklich Jahn zugewandt, "aber die Anzahl der Leute nimmt zu, die noch nicht einmal dieses dreitausend Jahre alte Gesetz von Delphi kennen."

    Nein, verherrlicht wird der Freiheitskampf bei Wilhelm Bartsch nicht – wohl aber werden Verständnis fördernde Momente gesucht. Man macht es sich zu leicht, wenn man aus dem Abstand von 200 Jahren der napoleonischen Fremdherrschaft nur noch ihre fortschrittlichen Züge attestiert, wie etwa die Modernisierung des Rechtssystems. Es war trotz allem eine oktroyierte Diktatur, und das lässt Bartsch seinen Helden durchaus so erleben:

    "Wir hatten nicht viel von den französischen Freiheiten, schließlich war Krieg und wir waren die Eroberten, die Vergewaltigten, die Opfer. Haben wir in jener Zeit in Preußen nicht ganz ähnliche Reformen gehabt? Die wären auch ohne Napoleon gekommen, vielleicht etwas später. Lebten wir etwa im blanken Mittelalter? Nein! Die Franzosen des Code civil hätten sich beispielsweise so manche Scheibe auch beim Preußischen Landrecht abschneiden können oder beim Preußischen Criminalrecht, das schon lange vor Napoleon wohl das modernste weltweit war! Was soll das überhaupt für eine Freiheit sein, die einem mit Waffengewalt zugefügt wird?"

    Ein kulturelles Moment gesellt sich hinzu – jenes, das Besatzer damals wie heute grundsätzlich zu unterschätzen pflegen: Man kann Menschen Kontributionen abpressen und Gesetze aufzwingen, das nehmen sie unter Umständen lange hin. Aber Gewohnheiten anzutasten, gebiert Widerstand! Denn Gewohnheiten sind Teil der Identität, mithin Grundlage aller Selbstachtung, und die lässt man von niemandem in den Staub treten.

    "Zum Beispiel hatte der Departements-Registrator Leist schon gleich nach des Preußenkönigs Aufruf an sein Volk nicht nur das Tragen von Waffen, sondern auch das Tragen unbekannter Abzeichen und sogar das Tabakrauchen aus mit deutschen Motiven bemalten Pfeifenköpfen verboten. Der aus Sevilla gebürtige Präfekt zu Halle, der Chevalier Piautaz, ließ gar per Anschlag an der Alten Ritterakademie Kinnbärte verbieten!"

    Abgeschnittene Bärte gehören unwiderlegbar zum männ¬lichen Geschlecht. So lässt sich vermuten, dass "Meckels Messerzüge", den militarisierten Zeitläufen geschuldet, ein rein männ¬licher Roman mit männlichem Personal ist, bei dem Frauen allenfalls als Staffage vorkommen. So verhält es sich bei der Kriegsgefährtin des bärbeißigen Adolph von Lützow, weniger allerdings schon bei Meckels Gattin Friederike. Ihr dichtet Bartsch eine verlockende erotische Zweideutigkeit an, die aus Vernachlässigung des Ehemanns resultiert. Selbst ohne nekrophilen Hang stehen tote Frauenkörper Meckel doch stets näher als lebende. Zum Glück hat er einen jüngeren Bruder:

    "Da Meckel praktisch immer arbeitete, konnte er kaum der Gattenpflicht nachkommen, sein schönes Gespons angenehm zu unterhalten, sich mit ihm zu vergnügen oder wenigstens regelmäßig mit ihm zu speisen. Da nun sprang ich ein, als folgte ich einem unausgesprochenen Vertrage. So konnte es einem eingeweihteren Betrachter erscheinen, als sei Friederike von Meckel, geborene von Kleist, mit zwei Männern verheiratet. Aber wer sollte dieser Betrachter sein? Wenn es ihn gäbe, müsste es ihm so scheinen, als ob die größere Liebe, das tiefere Einverständnis zwischen Friederike und mir bestünde. Zeitweise, wenn es mir wohl not tat, war ich selber davon überzeugt gewesen."

    Doch unser Ich-Erzähler im besten Jünglingsalter bleibt nicht bei den Trauben, die so dicht vor seiner Nase hängen, ohne dass er sie kosten könnte. Er gerät im Lützowschen Freikorps in eine seltsame homoerotische Episode mit dem Kameraden August Leopold Renz hinein, in den er sich stante pede verliebt. Ganz aus anatomischen Gründen versteht sich:

    "Selbst aus noch so großer Entfernung sah ich sein Philtrum! Es war, wie ich nun merkte, von unserer ersten Begegnung her gleich treulich in meinem innersten Herzen abkonterfeit gewesen, jenes Philtrum auf seiner großzügigen Labia oris superioris!"

    Das Philtrum – die Oberlippenfurche – galt den Griechen schon als erogene Zone. Angesichts dieses ebenso makel- wie bartlosen Körperteils wird Albrecht August Meckel von Hemsbach von tiefen Zweifeln überfallen: Liebt er etwa einen Mann? Da "sexuelle Orientierung" im frühen 19. Jahrhundert weder als Begriff, noch als Gedanke existierte, und Bartsch nie die Perspektive des Zeitgenossen verlässt, gehören diese Stellen zum Stärksten einer ohnehin starken Prosa. Der Leser sieht sich in derselben Lage wie der Protagonist, die optischen und kommunikativen Signale des Gegenübers nicht verlässlich deuten zu können: Ist Renz ein nur mädchenhafter Knabe, dessen Reizen zu erliegen keine verstörende Homosexualität impliziert, da die Mädchenhaftigkeit diesen Irrtum entschuldigte? Oder muss sich der jüngere Meckel der unangenehmen Wahrheit einer nichtkörperlichen Abweichung von der Norm stellen? Immerhin ist er als Pathologe unerschrocken genug, der Sache auf den Grund zu gehen. Zur Annäherung ans Thema zitiert er einen selbst verfassten Aufsatz "Ueber die Aehnlichkeit zwischen den Genitalien und dem Darmcanale":

    ""Die Ähnlichkeit zwischen den Genitalien und dem Darmcanale verbirgt sich zum Beispiel bei dir und bei mir unter einer so großen Menge eigentümlicher Formen, dass sie ein ungeübtes Auge wie deines nur mit Mühe und sparsam entdecken kann."
    "Wenn jetzt ein Mädchen hier war", fragte Leo mit einer leichten Wehmut, "könnte man sich das, und zwar rein wissenschaftlich, wohl alles ankucken?"
    "Man könnte ein bisschen", sagte ich, "aber man muss noch viel mehr Erfahrungen zurate ziehen. Die Ähnlichkeit zwischen den Genitalien und dem Darmcanale lässt sich am besten zeigen in den frühesten und niedrigsten Tierformen und in den frühesten Keimen der höheren Tiere also auch des Menschen. Es sind da nämlich ganz einfache Formen, aus denen zuerst der Darmcanal entsteht, aus diesem dann die weiblichen und aus denen wiederum die männlichen Genitalien, in genau dieser Reihenfolge, alles klar?"
    "Halt mal ein!", rief Leo. "Lass gut sein, ja?"
    "ich wüsste jetzt auch gar nicht", sagte ich, "wie ich dir all die ursprünglichen und einander ähnelnden Beziehungen zwischen Genitalien und Darmcanal erklären sollte."
    "Erzähle mir jetzt lieber mal", forderte Leo, wenn auch sehr zögerlich, "ob zum Beispiel der Satz stimmt: Die Nase des Mannes ist wie sein Johannes!"
    "Bei mir schon", sagte ich vorlaut."


    Doch natürlich wird der Dialog just in diesem Moment gestört, und Aufklärung bringt erst das Schlachtfeld, auf dem August Leopold Renz alias Christiane Maria Eleonore Prochaska fällt – eben doch ein Mädchen! Diese Figur der "Potsdamer Jeanne d’Arc" ist ebenso historisch überliefert wie die allermeisten Figuren im Roman, der dennoch niemals vom Faktenzwang beherrscht wird. Er ist fantasievoll, ideenreich, voller bösem Witz, sprachlich überragend und selbst in seinen anatomischen Exkursen noch anziehend. Wenn deutsche Leser die Verbindung zwischen Belletristik und Geschichte wirklich schätzen, dann sollte dieser späte Debütant Wilhelm Bartsch seinen erfolgreichen Kollegen Daniel Kehlmann auch an der Ladenkasse alt – pardon: jung! – aussehen lassen. Denn aus "Meckels Messerzügen" atmet das Wissen eines ganzen Jahrhunderts. Woher der sechzigjährige Lyriker das alles hat, weiß man nicht, aber er hat es. Und wir erleben staunend, wie sich aus einer "Missgeburtenlehre" große Literatur destillieren lässt.


    Wilhelm Bartsch: "Meckels Messerzüge", Osburg Verlag, 370 Seiten, 19,95 Euro