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Ein Mahnmal für die Welt

In Polygon in Kasachstan wurde in sowjetischer Zeit ein Großteil der Nuklearwaffenversuche durchgeführt. Bewohner der Region wurden ungefragt zu Versuchskaninchen. Erst 1989 setzte der kasachische Staatspräsident ein Ende der Versuche durch.

Von Suzanne Krause |
    Vor dem Auge erstreckt sich grau-braune Steppe. Ödland bis zur Gebirgskette am Horizont. Die einzigen markanten Erhebungen in der Landschaft sind zwei Betontürme in der Ferne: die Abschussrampen für die ersten Atombomben, "Ground Zero". Alles übrige an Bauten wurde in den vergangenen Jahren abrasiert, entsorgt.

    Kairet Kadyrzhanov, Direktor des staatlichen Atomzentrums, weist mit der Hand zum "Ground Zero". Dort seien noch Hotspots, Flecken mit hoher Strahlung, erläutert er seinem Gast. Ban Ki-Moon ist der erste Generalsekretär der Vereinten Nationen, der die ehemalige sowjetische Atomtestbasis besucht.

    Ban Ki-Moon steht auf einem kleinen Rednerpult, mitten in der Steppe. Und spricht sichtlich bewegt zu der eigens eingeflogenen Schar von Journalisten:

    "Mehr als 450 Atombomben wurden hier in Semipalatinsk getestet, mit all den schrecklichen Auswirkungen, die es für die Menschen und die Natur hatte. Sie haben unsere Umwelt komplett zerstört, die Flüsse und Seen verseucht. Heute leiden Kinder an Krebs und Geburtsdefekten."

    Es sei eine sehr beeindruckende Erfahrung, an diesem Ort zu stehen, erläutert Ban Ki-Moon feierlich.

    "1991, kurz nach der Unabhängigkeit Kasachstans, ging Präsident Nazarbajew auf vorbildliche Weise voran. Er ließ die Atomtestbasis schließen und alle Atomwaffen verbannen. Eine Pioniertat. Mittlerweile ist dieser Ort ein Symbol geworden - für die nukleare Abrüstung und für die Hoffnung auf eine atomwaffenfreie Zukunft. Hier in Semipalatinsk wurde das Abkommen für eine atomwaffenfreie Region Zentralasien unterzeichnet. Damit haben wir guten Grund zu glauben, dass das Versprechen von Semipalatinsk, die Atomwaffen aus der Welt zu schaffen, Wirklichkeit werden wird."

    Juri Stritchuk nickt zustimmend. Mit seinem Pferdeschwanz und der Kakiuniform wirkt er freakig. Der Geigerzähler in der Hand weist ihn als Experten aus. Stritchuk leitet die Ausbildungsgruppe beim staatlichen Atominstitut und kennt das windumtoste ehemalige Testgebiet wie seine Westentasche.

    "Hier, zwei Kilometer vom Epizentrum der Tests entfernt, ist die Strahlung normal. Aber wenn wir uns dem Epizentrum nähern, schlägt der Geigerzähler an. Da ist die radioaktive Strahlung 100 Mal höher als hier. Und es gibt Orte auf dem Testgebiet, die noch viel stärker radioaktiv belastet sind. Um alle Probleme zu beseitigen, müsste man die radioaktiv verseuchte Erde abtragen. In absehbarer Zukunft ist das nicht zu machen. Deshalb wird das verstrahlte Gebiet für Besucher noch lange Jahre gefährlich bleiben."

    Seit zwei Jahren klappert Juri Stritchuk regelmäßig alle Dörfer im Umkreis ab, unter dem Arm eine Landkarte des Polygon, auf der alle radioaktiv verstrahlten Zonen eingetragen sind. Nüchtern, aber engagiert erklärt Stritchuk den Menschen in der Gegend, welche Auswirkungen Radioaktivität hat; welche Steppenzonen im Polygon heute sauber, ohne nennenswerte Strahlung, also begehbar seien. Mittlerweile immerhin 80 Prozent des ehemaligen Testgebiets, meldet die Regierung, die dieses Gelände demnächst als Weidefläche erneut zugänglich machen möchte. Ein Fünftel des Polygon jedoch ist weiterhin Sperrgebiet. Und fünf Prozent, warnt Juri Stritchuk in den Dörfern, seien selbst für Experten mit Spezialausrüstung nicht zugänglich - für die nächsten 1000 Jahre.

    Während Juri Stritchuk rund um den "Ground Zero" Aufklärungsarbeit leistet, ist 70 Kilometer entfernt Nina Kalesnikowa bei der Chorprobe. Auf der kleinen Bühne im Altersheim der Kreisstadt Semipalatinsk vergisst die rundliche 82-Jährige mit dem bäuerlichen Kopftuch die drückenden Erinnerungen, die sie täglich heimsuchen. Erst fünf Jahre nach Beginn der Atomtests kündigten die Verantwortlichen der Bevölkerung im Umkreis die Versuche an. Gebombt wurde teils jedes Wochenende, immer zur gleichen Stunde, man konnte die Uhr danach stellen. Dann klirrte das Geschirr im Schrank. Wenn nicht Schlimmeres passierte, wie 1954, bei dem Versuch, bei dem Kalesnikowa Augenzeugin wurde - ein Opfer.

    "Damals wurden wir über das Radio gewarnt. Wir sollten die Fensterscheiben mit alten Zeitungen zukleben und die Ofentür verschließen. Und wir sollten das Haus nicht verlassen. Doch dann passierte draußen etwas. Ich rannte raus, zum Fluss runter und da hat mich die Explosionswelle umgeworfen. Ich habe lange gebraucht, bis ich wieder aufstehen konnte. Meine Beine machten nicht mit. Und seither habe ich Probleme mit den Beinen und den Füßen, das kommt vom Blutkreislauf. Mein Sohn war damals gerade vier Monate alt. Und mit 50 ist er an Krebs gestorben. Er hat ein Leben lang nur gelitten. Nun bin ich hier im Heim und fühle mich sehr wohl. Hier bekomme ich die Hilfe, die ich brauche."

    Rechts neben dem Haupteingang des Altersheims lädt ein Wintergarten voller Pflanzen und meditativen Klängen aus dem Kassettenrekorder zur Besinnung ein. Ein Trostpflaster für die Bewohner, die damals, wie so viele andere, bei den Atomtests des Sowjetregimes Versuchskaninchen waren - unwissentlich, ungefragt.

    An den Folgen der Nuklearversuche verstarb manchem die gesamte Familie. Wie alle Schicksalsgenossen, die bislang identifiziert wurden, verfügt auch Rentnerin Kalesnikowa heute über eine Art Ausweis, der sie als Atomtestopfer ausweist. Und ihr umfangreiche und kostenlose medizinische Kontrolle und Betreuung sichert. Kalesnikowas Name findet sich damit auch im Register, das das "Institut für Strahlenmedizin und Umwelt" in Semipalatinsk in den vergangenen Jahren angelegt hat. Offiziellen Schätzungen zufolge haben sich in den 40er-Jahren der Atomtests bis zu eineinhalb Millionen Menschen in der Gegend rund ums Polygon aufgehalten. Jeder Zehnte ist im Register der potenziellen Strahlenopfer erfasst, die Hälfte der Registrierten ist bereits gestorben.

    Einen Katzensprung vom Strahlenmedizinischen Institut entfernt liegt das Krebszentrum. Stolz präsentiert die Direktion eines ihrer hochmodernen Bestrahlungsgeräte, finanziert mit internationaler Hilfe. Zukhira Tanatova leitet die Krebsstation im Haus. Täglich hat die blonde, leicht mollige Ärztin mit Opfern der Atomtests zu tun, quer durch alle Altersgruppen. 4000 Krebspatienten werden hier pro Jahr behandelt. Tanatova berichtet, dass es in Ost-Kasachstan, dem ehemaligen Polygon, signifikant mehr Fälle an Brust-, Schilddrüsen- oder auch Lungenkrebs gibt als im Rest des Landes:

    "Das Durchschnittsalter für Schilddrüsenkrebs liegt bei uns nun bei 35 Jahren, für Brustkrebs bei 40, für Gebärmutterhalskrebs bei 43 Jahren. Und das heißt, dass wir es mit immer jüngeren Krebspatienten zu tun haben."

    Not und Elend der Bevölkerung rund um das ehemalige Atomtestgebiet zu lindern, ist seit 1999 Ziel mehrerer Rehabilitierungsprogramme mit umfangreicher internationaler Unterstützung. Allen voran Japan. Die Region ist strukturschwach, in Semipalatinsk überwiegen die Bauten aus der Sowjetzeit, Mietskasernen mit welkem Putz. In den ärmlichen Dörfern drum herum haben die Vereinten Nationen ein Mikrokreditprogramm gestartet, die meisten Nutzer kaufen damit Kühe für eine bescheidene Milchwirtschaft. Die Regierung plant, mit der Unesco ein Museum der Atomtests einzurichten: ein Mahnmal für die ganze Welt.