Meine Tage am südwestlichen Ende des Peipussees beginnen in Alatskivi, am Schloss. Strahlend weiß leuchtet das schottisch anmutende Schloss aus dem umliegenden Park. Ein Baltendeutscher, Baron Arved Georg von Nolcken, hat es Ende des 19. Jahrhunderts nach seinen Vorstellungen bauen lassen und das Schloss Balmoral in Schottland als architektonisches Vorbild genommen. Heute gehört es der Gemeinde Alatskivi, die das Schloss nach aufwendigen Renovierungsarbeiten nicht nur zu einem Schmuckstück gemacht, sondern es auch für Konzerte und Theateraufführungen geöffnet hat.
Geschäftsführerin Külli Must übernimmt die Führung. Fotos aus den zehnjährigen Renovierungsarbeiten schmücken eine Wand, alte Öfen, antikes Mobiliar, ein Musiksaal – es wirkt, als hätte die Familie von Nolcken gerade mal kurz die Räume verlassen.
"Wir sind im Schlafzimmer der Baronin, einem der historischen Räume des Schlosses und hier an der Wand können Sie die Fotos der Familie sehen, die hier gelebt hat. Das sind alte Fotos aus dem Archiv."
Arved Georg von Nolcken war eine besondere Persönlichkeit. Külle Must:
"Er hatte keinerlei architektonische Ausbildung und für die damalige Zeit war es fantastisch, dass so jemand die Planung gemacht hat, die Zeichnungen. Normalerweise hat man einen bekannten Architekten angeheuert, aber er hat alle Zeichnungen selbst gemacht."
Wir wandeln durch Schloss und Park und danach geht es weiter, Richtung Peipussee, auf die "Zwiebelroute". An den Ufern des Sees haben sich die sogenannten Altgläubigen niedergelassen, deren bunte Holzhäuser sich kilometerlang die Straße entlang ziehen. Die Tour führt über Kolkja, Kasepää bis Varnja. An Holzständern am Straßenrand, vor allem in Kasepää hängen dicke Zwiebelzöpfe zum Verkauf, manchmal gibt es Kartoffeln, Tomaten, Johannisbeeren auf kleinen Tischen - je nach Saison. Aber vor allem die Zwiebeln sind es, die die Region bekannt gemacht haben. "Zwiebelrussen" nennt man die Altgläubigen auch, weil sie auch heute noch vom Zwiebelanbau leben. Doch es sind nur noch die Alten, die in mühevoller Handarbeit das Gemüse setzen und ernten. Raissa Iwanowna ist eine von ihnen. Mit flinken Händen sortiert sie Zwiebeln in unterschiedlichen Größen
"Das sind die ganz kleinen, "Baby-Zwiebeln" sozusagen, das sind die Zwiebeln für die nächste Aussaat. Das sind die nächst Größeren und das sind die Letzten, die ganz ausgereiften."
Drei, vier Schritte über die Straße sind es zum alten Schuppen und zu einem der Gärten von Raissa Iwanowna.
In einem kleinen Gewächshaus sind in einem halben Meter Höhe Netze aus dickem, weißem Baumwollgarn gespannt – es verhindert, dass die weißen, doldenartigen Blüten darüber abknicken. Der Zwiebelanbau ist ein mühsames Geschäft, dass heutzutage kaum noch etwas einbringt. Und alles ist Handarbeit, betont die Rentnerin:
"Ich bin jetzt 70 Jahre alt und alles Geld, was ich habe, bekomme ich durch den Zwiebelanbau. Ein Brot kostet zum Beispiel zwei Euro und ich verkaufe ein Kilo Zwiebeln für zwei Euro. Ich habe Geld, um mir Essen zu kaufen und wir haben unser eigenes Haus und kaum weitere Kosten. Das Geld, was wir zum Leben brauchen, verdiene ich mit den Zwiebeln."
Die Altgläubigen leben sehr zurückgezogen. Schon im 18. Jahrhundert haben sie sich am westlichen Peipussee und am Fluss Narva niedergelassen, um Verfolgungen im eigenen Land zu entkommen. Sie pflegen ihren Glauben und ihre Tradition und sind Fremden gegenüber verschlossen. Ein wenig Öffnung gibt es gegenüber dem Tourismus, ein kleines Heimatmuseum in Kolkja bietet Kurse in Stoffdruck und Schnitztechnik an, in einem inzwischen sehr beliebten Restaurant kann man die Spezialitäten der Zwiebelrussen probieren.
Meine Tour führt weiter, über das verschlafene Räpina nach Värska am südlichen Ende des Peipussees – hier beginnt das Siedlungsgebiet der Setu. Die Setu sind ein Volksstamm mit eigenständiger Sprache und Kultur, ähnlich wie die Sorben in Sachsen. Ingrid Kala ist die Vorsitzende eines Handwerkerverbands.
Der unermüdlichen Arbeit der 42-jährigen ist es mit zu verdanken, dass die Kultur der Setu inzwischen im ganzen Land anerkannt ist und vor allem die Frauen ihr Wissen um kostbare Stickereien und Webarbeiten weitergeben.
"Ich bin für das Organisatorische verantwortlich. Ich mache Projekte, treibe Geld auf, organisiere Räume und vor allem die Lehrer, die ihre Kenntnisse an die jungen Leute weitergeben. Alte Setu-Frauen, die 70, 80 Jahre alt sind, geben ihre ganze Erfahrung und ihre Fertigkeiten, die sie über 40 Jahre lang nicht nutzen durften, weiter. Das organisiere ich, die Weitergabe des Wissens der alten Frauen."
Die Setu wurden oft von Esten und Russen gleichermaßen abgelehnt. In Sowjetzeiten durften sie weder ihre Kultur leben, noch ihre eigene Sprache sprechen. Traditionen wurden nur im Geheimen bewahrt. Ingrid Kala lebt die Setu-Kultur, hat Sticken und Weben gelernt und ihre prachtvollen Festtags-Trachten, mit Silberschmuck, Perlen geschmückter Haube und rot bestickten Blusenärmeln komplett selbst gefertigt. Zu den bunten Trachten der Frauen gehört auch immer ein großes Wolltuch.
"Diese großen Wolltücher waren wie vom Erdboden verschluckt während der Sowjetherrschaft. In alten Häusern haben wir aber alte Stücke gefunden, die schon zerfetzt waren, davon haben wir die Muster abgeschaut und sie neu gemacht. Wir wussten nicht genau, wie die Tücher aussahen, sie waren wie ausgestorben. Nun sind sie quasi wieder auferstanden."
Wenn Ingrid erzählt, steigen ihr tatsächlich manchmal Tränen in die Augen, so sehr berührt sie das Schicksal ihres Volkes. Doch ihre mühevolle Arbeit hat Erfolg: Viele Esten interessieren sich inzwischen für die Kultur der Setu, auf manchen Märkten gibt es Hemden, Blusen, bestickte Bänder und warme Wolltücher zu kaufen. Doch Ingrid ist in Eile. Nicht nur vier Kinder warten auf die junge Sportlehrerin, sondern vor allem die letzten Vorbereitungen für ein großes Fest der Setu, morgen, auf dem Friedhof in Saatse!
Am nächsten Tag führt die Tour weiter in Richtung Süden, nach Saatse. Saatse ist ein kleines Setu-Dorf, dass dicht an der Grenze zu Russland in einem der abgelegensten Winkel der EU liegt. Die unbefestigte Straße, die sogar wenige Kilometer durch Russland führt, ist normalerweise so gut wie menschenleer – heute reiht sich ein Wagen an den anderen und zieht eine Staubwolke hinter sich her! Auf dem Friedhof von Saatse findet am letzten Freitag im Juli jedes Jahr ein großes Fest statt – Päädnitsa – das Fest zu Ehren der verstorbenen Ahnen.
"Morgens ist erst Gottesdienst, der um 9 Uhr beginnt und um 12 Uhr endet. Es endet damit, dass die Ikone um die Kirche herum getragen wird, jeder darunter her gehen kann und man sich etwas wünscht. Dann gibt es Essen auf dem Friedhof."
Auch Ülle Pärnoja ist mit ihrer Familie dabei. Auf dem kleinen Friedhof drängen sich die Menschen um die Gräber. Sie sitzen auf Bänken und Steinmauern, wandeln vorbei an Grabsteinen und Grün. Leise plaudernd treffen sich Freunde und Verwandte. Ülle Pärnoja:
"Für die Setu ist es sehr wichtig, auf dem Friedhof zu sein und zu essen – so hat man Zeit über seine Ahnen nachzudenken und mit ihnen zusammen zu sein. Man denkt über seine Wurzeln nach, wo man herkommt, wer man ist – es ist ein Teil der Identität. Für Setu ist es wichtig, dass alles zusammen ist - Kirche, Arbeit und Spaß."
Für alle ist das Ende des Gottesdienstes der Startschuss zu einem reichhaltigen Picknick. Es gibt das Beste aus Küche und Keller, süße Torten und salzige Pilz- oder Fischkuchen, belegte Brote, saure Gurken, selbst gemachten Käse, russische gefüllte Pelmeni und natürlich Alkohol!
"Wir haben auch starken Schnaps und Wein. Eine Person bietet es allen andern an, nicht jeder bringt seinen eigenen Schnaps mit. Nur eine Person bietet es an. Es ist auch eine alte Tradition und so vermeidet man, dass Leute sich betrinken. Und man macht außerdem Spaß mit demjenigen, der es anbietet: Man nimmt nicht gleich etwas. Man muss sich unterhalten, Späße machen, er muss den ersten Schluck nehmen – also der Schnapsanbieter, muss aufpassen, dass er nicht der Betrunkene ist! Das ist sehr wichtig!"
Nach dem Picknick gibt es Musik und Tanz und traditionellen Leelo-Gesang und dann zerstreuen sich die meisten Familien. - Für mich geht es zurück, Richtung Norden, nach Kallaste, ans Ufer des Peipussees.
Ein heftiger Sturm im Norden Estlands hat den vorher beinahe spiegelglatten, riesigen See aufgewühlt, weiße Schaumkronen schmücken die kurzen Wellen. Ein stetiges Rauschen liegt in der Luft, es hört sich an, wie die Nordsee bei Flut! Auf einem Campingplatz, direkt am Seeufer trifft sich ein Trupp Radler; einige Männer und Frauen, eines kleinen estnischen Fahrradklubs, der sich einmal jährlich irgendwo im Land für ein gemeinsames Radelwochenende trifft und die mich diesmal mitnehmen. Mit dabei ist Rein Lepik, ein echter Radelfreak, der zusammen mit Freunden das Radwegenetz Estlands ausgezeichnet hat. Den Radler und Naturfilmer fasziniert der Peipussee.
"Das Wetter kann sehr unterschiedlich sein, windig oder nicht, manchmal hat er Wellen, man kann schwimmen gehen, und manchmal war ich am See wenn er total glatt war – wie ein Spiegel! Und wenn der Mond am Abend aufgeht – ist es so schön hier – es gibt kaum etwas Schöneres!"
Wir radeln am Abend nach Norden, die Straße entlang. Ab und zu blinkt der Binnensee blau in der Ferne, bis zum Horizont ist kein Land zu sehen, Russland liegt irgendwo im Dunst. Irgendwann biegen wir ab, auf eine unbefestigte Straße, die wieder ans Seeufer führt. Ein kleiner, mit Abertausenden von Schneckenhäusern übersäter Strand liegt vor uns, auf der Wiese eine rund gebaute Holzsauna mit ebensolchem Plumsklo!
Tiina, naturverbundene Radlerin mit Leib und Seele, würde sich am liebsten auf der Stelle zum Baden in den Peipussee stürzen:
"Für mich ist es eine Landmarke Estlands. Er ist der größte See Estlands und es ist toll, am Ufer zu sein. Möglichst einmal im Jahr – ich brauche das! Am Ufer zu stehen und aufs Wasser zu blicken, das ist ein Gefühl von Freiheit."
Geschäftsführerin Külli Must übernimmt die Führung. Fotos aus den zehnjährigen Renovierungsarbeiten schmücken eine Wand, alte Öfen, antikes Mobiliar, ein Musiksaal – es wirkt, als hätte die Familie von Nolcken gerade mal kurz die Räume verlassen.
"Wir sind im Schlafzimmer der Baronin, einem der historischen Räume des Schlosses und hier an der Wand können Sie die Fotos der Familie sehen, die hier gelebt hat. Das sind alte Fotos aus dem Archiv."
Arved Georg von Nolcken war eine besondere Persönlichkeit. Külle Must:
"Er hatte keinerlei architektonische Ausbildung und für die damalige Zeit war es fantastisch, dass so jemand die Planung gemacht hat, die Zeichnungen. Normalerweise hat man einen bekannten Architekten angeheuert, aber er hat alle Zeichnungen selbst gemacht."
Wir wandeln durch Schloss und Park und danach geht es weiter, Richtung Peipussee, auf die "Zwiebelroute". An den Ufern des Sees haben sich die sogenannten Altgläubigen niedergelassen, deren bunte Holzhäuser sich kilometerlang die Straße entlang ziehen. Die Tour führt über Kolkja, Kasepää bis Varnja. An Holzständern am Straßenrand, vor allem in Kasepää hängen dicke Zwiebelzöpfe zum Verkauf, manchmal gibt es Kartoffeln, Tomaten, Johannisbeeren auf kleinen Tischen - je nach Saison. Aber vor allem die Zwiebeln sind es, die die Region bekannt gemacht haben. "Zwiebelrussen" nennt man die Altgläubigen auch, weil sie auch heute noch vom Zwiebelanbau leben. Doch es sind nur noch die Alten, die in mühevoller Handarbeit das Gemüse setzen und ernten. Raissa Iwanowna ist eine von ihnen. Mit flinken Händen sortiert sie Zwiebeln in unterschiedlichen Größen
"Das sind die ganz kleinen, "Baby-Zwiebeln" sozusagen, das sind die Zwiebeln für die nächste Aussaat. Das sind die nächst Größeren und das sind die Letzten, die ganz ausgereiften."
Drei, vier Schritte über die Straße sind es zum alten Schuppen und zu einem der Gärten von Raissa Iwanowna.
In einem kleinen Gewächshaus sind in einem halben Meter Höhe Netze aus dickem, weißem Baumwollgarn gespannt – es verhindert, dass die weißen, doldenartigen Blüten darüber abknicken. Der Zwiebelanbau ist ein mühsames Geschäft, dass heutzutage kaum noch etwas einbringt. Und alles ist Handarbeit, betont die Rentnerin:
"Ich bin jetzt 70 Jahre alt und alles Geld, was ich habe, bekomme ich durch den Zwiebelanbau. Ein Brot kostet zum Beispiel zwei Euro und ich verkaufe ein Kilo Zwiebeln für zwei Euro. Ich habe Geld, um mir Essen zu kaufen und wir haben unser eigenes Haus und kaum weitere Kosten. Das Geld, was wir zum Leben brauchen, verdiene ich mit den Zwiebeln."
Die Altgläubigen leben sehr zurückgezogen. Schon im 18. Jahrhundert haben sie sich am westlichen Peipussee und am Fluss Narva niedergelassen, um Verfolgungen im eigenen Land zu entkommen. Sie pflegen ihren Glauben und ihre Tradition und sind Fremden gegenüber verschlossen. Ein wenig Öffnung gibt es gegenüber dem Tourismus, ein kleines Heimatmuseum in Kolkja bietet Kurse in Stoffdruck und Schnitztechnik an, in einem inzwischen sehr beliebten Restaurant kann man die Spezialitäten der Zwiebelrussen probieren.
Meine Tour führt weiter, über das verschlafene Räpina nach Värska am südlichen Ende des Peipussees – hier beginnt das Siedlungsgebiet der Setu. Die Setu sind ein Volksstamm mit eigenständiger Sprache und Kultur, ähnlich wie die Sorben in Sachsen. Ingrid Kala ist die Vorsitzende eines Handwerkerverbands.
Der unermüdlichen Arbeit der 42-jährigen ist es mit zu verdanken, dass die Kultur der Setu inzwischen im ganzen Land anerkannt ist und vor allem die Frauen ihr Wissen um kostbare Stickereien und Webarbeiten weitergeben.
"Ich bin für das Organisatorische verantwortlich. Ich mache Projekte, treibe Geld auf, organisiere Räume und vor allem die Lehrer, die ihre Kenntnisse an die jungen Leute weitergeben. Alte Setu-Frauen, die 70, 80 Jahre alt sind, geben ihre ganze Erfahrung und ihre Fertigkeiten, die sie über 40 Jahre lang nicht nutzen durften, weiter. Das organisiere ich, die Weitergabe des Wissens der alten Frauen."
Die Setu wurden oft von Esten und Russen gleichermaßen abgelehnt. In Sowjetzeiten durften sie weder ihre Kultur leben, noch ihre eigene Sprache sprechen. Traditionen wurden nur im Geheimen bewahrt. Ingrid Kala lebt die Setu-Kultur, hat Sticken und Weben gelernt und ihre prachtvollen Festtags-Trachten, mit Silberschmuck, Perlen geschmückter Haube und rot bestickten Blusenärmeln komplett selbst gefertigt. Zu den bunten Trachten der Frauen gehört auch immer ein großes Wolltuch.
"Diese großen Wolltücher waren wie vom Erdboden verschluckt während der Sowjetherrschaft. In alten Häusern haben wir aber alte Stücke gefunden, die schon zerfetzt waren, davon haben wir die Muster abgeschaut und sie neu gemacht. Wir wussten nicht genau, wie die Tücher aussahen, sie waren wie ausgestorben. Nun sind sie quasi wieder auferstanden."
Wenn Ingrid erzählt, steigen ihr tatsächlich manchmal Tränen in die Augen, so sehr berührt sie das Schicksal ihres Volkes. Doch ihre mühevolle Arbeit hat Erfolg: Viele Esten interessieren sich inzwischen für die Kultur der Setu, auf manchen Märkten gibt es Hemden, Blusen, bestickte Bänder und warme Wolltücher zu kaufen. Doch Ingrid ist in Eile. Nicht nur vier Kinder warten auf die junge Sportlehrerin, sondern vor allem die letzten Vorbereitungen für ein großes Fest der Setu, morgen, auf dem Friedhof in Saatse!
Am nächsten Tag führt die Tour weiter in Richtung Süden, nach Saatse. Saatse ist ein kleines Setu-Dorf, dass dicht an der Grenze zu Russland in einem der abgelegensten Winkel der EU liegt. Die unbefestigte Straße, die sogar wenige Kilometer durch Russland führt, ist normalerweise so gut wie menschenleer – heute reiht sich ein Wagen an den anderen und zieht eine Staubwolke hinter sich her! Auf dem Friedhof von Saatse findet am letzten Freitag im Juli jedes Jahr ein großes Fest statt – Päädnitsa – das Fest zu Ehren der verstorbenen Ahnen.
"Morgens ist erst Gottesdienst, der um 9 Uhr beginnt und um 12 Uhr endet. Es endet damit, dass die Ikone um die Kirche herum getragen wird, jeder darunter her gehen kann und man sich etwas wünscht. Dann gibt es Essen auf dem Friedhof."
Auch Ülle Pärnoja ist mit ihrer Familie dabei. Auf dem kleinen Friedhof drängen sich die Menschen um die Gräber. Sie sitzen auf Bänken und Steinmauern, wandeln vorbei an Grabsteinen und Grün. Leise plaudernd treffen sich Freunde und Verwandte. Ülle Pärnoja:
"Für die Setu ist es sehr wichtig, auf dem Friedhof zu sein und zu essen – so hat man Zeit über seine Ahnen nachzudenken und mit ihnen zusammen zu sein. Man denkt über seine Wurzeln nach, wo man herkommt, wer man ist – es ist ein Teil der Identität. Für Setu ist es wichtig, dass alles zusammen ist - Kirche, Arbeit und Spaß."
Für alle ist das Ende des Gottesdienstes der Startschuss zu einem reichhaltigen Picknick. Es gibt das Beste aus Küche und Keller, süße Torten und salzige Pilz- oder Fischkuchen, belegte Brote, saure Gurken, selbst gemachten Käse, russische gefüllte Pelmeni und natürlich Alkohol!
"Wir haben auch starken Schnaps und Wein. Eine Person bietet es allen andern an, nicht jeder bringt seinen eigenen Schnaps mit. Nur eine Person bietet es an. Es ist auch eine alte Tradition und so vermeidet man, dass Leute sich betrinken. Und man macht außerdem Spaß mit demjenigen, der es anbietet: Man nimmt nicht gleich etwas. Man muss sich unterhalten, Späße machen, er muss den ersten Schluck nehmen – also der Schnapsanbieter, muss aufpassen, dass er nicht der Betrunkene ist! Das ist sehr wichtig!"
Nach dem Picknick gibt es Musik und Tanz und traditionellen Leelo-Gesang und dann zerstreuen sich die meisten Familien. - Für mich geht es zurück, Richtung Norden, nach Kallaste, ans Ufer des Peipussees.
Ein heftiger Sturm im Norden Estlands hat den vorher beinahe spiegelglatten, riesigen See aufgewühlt, weiße Schaumkronen schmücken die kurzen Wellen. Ein stetiges Rauschen liegt in der Luft, es hört sich an, wie die Nordsee bei Flut! Auf einem Campingplatz, direkt am Seeufer trifft sich ein Trupp Radler; einige Männer und Frauen, eines kleinen estnischen Fahrradklubs, der sich einmal jährlich irgendwo im Land für ein gemeinsames Radelwochenende trifft und die mich diesmal mitnehmen. Mit dabei ist Rein Lepik, ein echter Radelfreak, der zusammen mit Freunden das Radwegenetz Estlands ausgezeichnet hat. Den Radler und Naturfilmer fasziniert der Peipussee.
"Das Wetter kann sehr unterschiedlich sein, windig oder nicht, manchmal hat er Wellen, man kann schwimmen gehen, und manchmal war ich am See wenn er total glatt war – wie ein Spiegel! Und wenn der Mond am Abend aufgeht – ist es so schön hier – es gibt kaum etwas Schöneres!"
Wir radeln am Abend nach Norden, die Straße entlang. Ab und zu blinkt der Binnensee blau in der Ferne, bis zum Horizont ist kein Land zu sehen, Russland liegt irgendwo im Dunst. Irgendwann biegen wir ab, auf eine unbefestigte Straße, die wieder ans Seeufer führt. Ein kleiner, mit Abertausenden von Schneckenhäusern übersäter Strand liegt vor uns, auf der Wiese eine rund gebaute Holzsauna mit ebensolchem Plumsklo!
Tiina, naturverbundene Radlerin mit Leib und Seele, würde sich am liebsten auf der Stelle zum Baden in den Peipussee stürzen:
"Für mich ist es eine Landmarke Estlands. Er ist der größte See Estlands und es ist toll, am Ufer zu sein. Möglichst einmal im Jahr – ich brauche das! Am Ufer zu stehen und aufs Wasser zu blicken, das ist ein Gefühl von Freiheit."