Sonderbar, dass Romanhelden nicht altern. Holden Caulfield aus Salingers "Fänger im Roggen" bleibt uns als ewiger Schüler im Gedächtnis; Tom Sawyer und Huckleberry Finn kann man sich als Erwachsene auch nicht so recht vorstellen, Heinrich Böll dafür gut verstehen, der mit Recht in der gleichnamigen Erzählung fragt: Was soll aus dem Jungen bloß werden? Darüber hatte sich Paul Ingendaay zunächst keine Sorgen gemacht. Marko Theunissen, der jugendliche Held aus seinem 2006 erschienenen Debütroman "Warum du mich verlassen hast", schien abgeschlossen, dessen Erlebnisse als Schüler eines katholischen Internats der 70er-Jahre erzählt. Ingendaay, der in Madrid lebt und als Korrespondent arbeitet, schrieb erst einen unveröffentlichten Spanien-Roman. Dann drängte sich Marko wieder auf.
"Und es war verblüffender Weise keine Fortsetzung, aber doch dasselbe Figurenpersonal 20 Jahre später. Derselbe Held in einem anderen Leben, in einem Berufsleben, seine Familie, die Konflikte, 20 Jahre weiter gedacht."
Marko ist jetzt 37 Jahre alt. Sein Studium der Germanistik hat er abgebrochen - er fand die Literatur durch die wissenschaftliche Analyse eher misshandelt als durchschaut. Eine Erfahrung, die Ingendaay durchaus mit seiner Figur teilt - obwohl er selbst durchgehalten hat; er promovierte über William Gaddis und arbeitete einige Jahre fest als Literaturredakteur. Wie Marko mit hoher Erwartung an der Universität antritt, dann in einen bizarren, realitätsfernen Raum abtaucht, ist eine der amüsantesten Rückblenden im Roman.
"Komik ist neben Trauer oder starker Emotion wie Sehnsucht. Es gibt so zwei, drei große Antriebswellen des Buches, oder überhaupt des Schreibens bei mir, und ohne Komik geht gar nichts. Ich könnte kein trockenes Buch schreiben, und bei der Uniszene, auf die sie anspielen, ging es natürlich da rum, sehr verknappt und auch verulkt und überzeichnet eigene Unbefriedigungen am Studium auszudrücken in einer Szene, die eben 20 Jahre nach meinem Unistudium liegt. Denn wir alle oder viele von uns haben mal gedacht, wenn wir Literatur lieben, wenn wir Bücher lieben, sei die Literaturwissenschaft für uns das richtige. Dieser Irrtum war fundamental. Ich hab mich da ziemlich verloren über Jahre. Für mich war Literatur alles. Und ist es noch. Aber ich kannte das Leben nicht."
Markos Leben nimmt eine bescheidene Wende. Eher zufällig landet er bei einer Versicherung, als Leiter einer Zweigstelle im niederrheinischen Provinzkaff Kleinhoek. Kundengewinnungsgespräche; eine kleine Affäre; Neid auf einen besseren, betrügenden Kollegen, der auch ihn erpresst. Nichts für 460 Seiten - wäre da nicht die Art, wie Marko die Welt betrachtet: leicht dozierend mit der Slap-Stick-Galanterie eines ewigen Verlierers mit erhobenem Haupt, der ständig darum kämpft, Besseres von sich zu halten als sein Umfeld; und der schon im nächsten Augenblick erschöpft ist von der Anstrengung, die es kostet, den Schein zu wahren.
"Und mich hat auch diese Loserposition, nicht ganz Loser, aber auf der unteren Ebene interessiert, ich finde es eine sehr schöne Perspektive zum Erzählen, wenn man nicht zu den Gewinnern gehört, sondern von schräg unten nach oben gucken muss, um die Hierarchie zu überschauen oder sogar einen Gegner zu bekämpfen, und er merkt an jedem Punkt, der Gegner ist stärker als er."
Markos größter, unsichtbarer Gegner ist sein Arbeitgeber, die Agentur, oder sagen wir es allgemeiner: das Eingekerkertsein im Berufsalltag, für jeden Romantiker eine harte Wirklichkeitsprüfung. Ingendaays Roman "Die romantischen Jahre" ist auch Angestelltenroman - eine Form, die spätestens seit Robert Walsers "Gehülfe" bis zur Prosa Wilhelm Genazinos gut taugt, um das moderne, zerrissene Subjekt abzubilden.
"Ich lese ein bisschen zu wenig in unserer Literatur von der Heutigkeit, der Alltäglichkeit von Berufen, die Mittelklasse, die ja sehr groß ist, sehr verschwommen, sehr schwer zu fassen, die wird selten präzise dargestellt."
Die Arbeit, insbesondere die Arbeit bei einer mit Tod und Leben hantierenden Firma liefert Ingendaay nicht zuletzt die Metaphern, die er halb ironisch, halb enthusiastisch in seinen Roman streut und an vielen kleinen Nebengeschichten prüft: Wie gut sind wir im Ernstfall abgesichert? Immer lauert der Sturz. Ein Mann besucht Marko täglich im Büro und erzählt von seiner kranken Frau - bis Marko erfährt, dass er schon lange Witwer ist. Ein Mädchen sucht seinen Vater, der die Familie längst verlassen hat. Selbst der Vertreter leidet innerhalb dieses Figuren-Ensembles unter einem gewaltigen Leidens- und Leistungsdruck.
"Es ist sehr viel von Versicherungsdenken in das Buch eingegangen, nämlich: Welche Ängste haben diese Leute? Sie müssen das Gespräch kriegen, sie müssen beim Kunden ins Haus kommen, sie müssen den Abschluss kriegen und sie brauchen die verdammte Unterschrift. Und es hat mich unendlich gereizt, einen Exkurs zu schreiben über die Bedeutung dieser blöden Unterschrift, und mit welchem Gefühl geht einer aus dem Haus, wenn er die Unterschrift in der Mappe hat. Und wie geht er schwitzend und niedergedrückt, wenn er sie nicht bekommt. Und eigentlich wollte ich auch eine Branche darstellen und ihren fundamentalen Widerspruch: Wenn einer in ihr anständig bleiben will, kann er's eigentlich nicht sehr weit bringen. Das ist seine Wahrheit."
Marko Theunissen merkt lange nicht, dass die Rheinische seinem moralischen Anspruch nicht standhält. Eher fühlt er sich geehrt, eine Wohnung in der weiträumigen Kleinstadt-Villa beziehen zu dürfen, wo Kollegen früher heimlich Feste feierten. Ordnung zu schaffen liegt ihm. Er vertieft sich auch geduldig in Lebenskrisengespräche mit einsamen Kunden statt sie für Verträge zu verpflichten. Bonifikationen aufgrund besonderer Leistung bekommt er nie. Das macht ihn liebenswürdig und den Roman lebensweise.
"Ich glaube übrigens, dass das in unserem Leben ständig vorkommt, am Abendbrottisch und am Frühstückstisch und wenn der erste Herzinfarkt kommt, was arbeiten wir, wie können wir überhaupt das abschütteln, um vernünftige Familienmenschen zu sein, wenn wir das denn sind, von Kindern mal ganz zu schweigen."
Die romantischen Jahre liegen für Marko schon eine Weile zurück oder waren überhaupt nur eine große Glücksfiktion. Sie sind in diesem Melancholiker, diesem freundlichen Ich-Erzähler Marko auf eine geradezu peinigende Weise präsent. Seine Kindheit, die Scheidung der Eltern, die ihm lange verschwiegen wurde; der Rausschmiss aus dem katholischen Internat und die immer gerade verpasste große Liebe Yvonne fließen in Markos Monologe ein, wann immer er irgendwo wartet; in seinem nicht gerade hoch frequentierten Büro; in seinem stillen Zuhause bei einem gepflegten Glas Wein; auf Besuch bei seiner Schwester in Madrid. Die Vergangenheit schlägt in diese erzählte Gegenwart Furchen und rüttelt an Marko.
"Ich brauche einen anderen Umgang mit Zeit. Und das war für mich eigentlich der Grundpfeiler des Buches: Wie kann ich etwas erzählen aus einer Jetztzeit eines 37-Jährigen, für den die Zeit aber nie abgeschlossen ist, die ältere nicht, die noch ältere nicht, und wie kann ich beim Erzählen über Zeiten reden, ohne die Gänge zu wechseln. Hörbar. Es darf nicht knirschen. Ich wollte im Grunde eine Art von Flux der Zeit schaffen, und das war für mich die große Herausforderung und der Riesenspaß am Buch. Dass alles sich durchdringt."
Und so bewegt sich der Roman vom Angestelltenschicksal weg, auf ein Nadelöhr zu, das zu durchqueren besondere Fähigkeiten verlangt: Markos in Köln lebender Vater, krank und pleite, möchte seine zerstreute und zerstrittene Familie, vor allem aber seine Ex-Frau am 75. Geburtstag um sich haben. Alte Wunden werden aufgerissen, neue geschlagen.
"Ein wichtiger Punkt bei mir war, dass es ein Gefühl von Nostalgie, von versuchter Wiedergewinnung von Zeit, von Schönheit, von Erlebnissen gibt. Das betrifft nicht nur den Helden Marko Theunissen, sondern auch seinen Vater, den sogar noch mehr als alle anderen. Ein Mann, der eigentlich die Zeit gerne angehalten hätte und etwas wieder kriegen will, was unwiederbringlich verloren ist. Der zweite Teil des Romans handelt vor allen Dingen vom Vater und von der Familie, wie sie auf diesen Vater reagiert. Und wie die Familie in die Pflicht genommen wird wieder."
"Die romantischen Jahre" ist in diesem Sinn auch ein Buch über Alter und Krankheit, sogar die Nähe des Todes. Paul Ingendaay - das ist vielleicht das Faszinierendste an seiner Prosa - erzählt davon ganz ohne Dramatik, mit einer betörenden Natürlichkeit, wie sie eben diesen vielfach geteilten Familiendingen innewohnt. Und so gleitet man aus Markos eintönigem Versicherungsalltag immer wieder in die dunklen Kompliziertheiten nie verarbeiteter Verletzungen.
"Wie gehen denn Ehepaare um, wenn der eine weggeht und der andere sich erinnert. Oder noch Ansprüche erhebt. Alle diese Fragen, die jetzt die emotionale Biografie betreffen, faszinieren mich unendlich. Die Familie bleibt eigentlich die große Schatztruhe für Themen. Ich wollte Zwischenbereiche des Gefühls oder auch das Erlebens darstellen. Sie mussten spannend sein, man muss die 500 Seiten lesen wollen, aber man muss nicht dauernd wissen, was man da liest. Am liebsten sind mir Bücher, bei denen man gar nicht genau weiß, wo's lang geht, aber die man trotzdem lesen will."
Ingendaays Held mag sich im Berufsleben etwas linkisch anstellen - mit Eltern und Geschwistern geht er erstaunlich feinfühlig um, fast ist er sogar der harmonisierende Pol. Jahrelang hat er den Schmerz verdrängt. An seiner Fähigkeit zu langfristigen Beziehungen ist zu zweifeln. Trotzdem rührt ihn der hilflose Vater, der, wohlwollend betrachtet, keine andere Liebe zu geben hat als eine sehr indirekte, kaum spürbare. Der Roman zittert vom verpassten, ungestümen Leben, kennt aber auch eine Lebenskunst, die auf Bescheidenheit beruht.
"Das Wort Gnade finde ich herrlich, das Wort Gnade berührt mich, und ich glaube nicht, dass es im Roman vorkommt, und ich glaube nicht, dass ich mich jemals getraut hätte, es öffentlich zu sagen. Da sie's gesagt haben, darf ich's. Es hat etwas von Annehmen, zumindest oder von sich-nicht-arrangieren, sondern akzeptieren, dass die Dinge irgendwann auch vorbei sind und man sich beeilen muss mit dem, was man noch kriegen kann."
Der Roman "Die romantischen Jahre" ist keineswegs nur Porträt einer in den 70er- und 80er-Jahren groß gewordenen Generation, Ingendaays eigene, der er hier durchaus ein Denkmal setzt.
"Ganz merkwürdig, das ist eine innere Welt, für die ich kaum irgendwelche Requisiten und keine historischen Dokumente brauchte."
Durch die enge Verknüpfung mit Markos zerbrochener Familie werden über diese Generation hinaus die großen Lebensfragen verhandelt. Was arbeite ich und wie bleibe ich trotz allem ein Mensch? Wie verkrafte ich, dass plötzlich die Kinder für die Eltern sorgen müssen, nicht umgekehrt? Was heißt Erwachsenwerden in Bezug auf die Beziehungen, die wir führen?
"Es ist glaube ich die Frage, die wir im Leben oft stellen müssen: Erkennen wir überhaupt, was der andere zu geben hat? Und sind wir bereit, es unter dessen Bedingungen zu akzeptieren? Vielfach können wir das nicht, und da scheint das Buch so eine Antwort nahezulegen, wenn wir überhaupt was haben wollen von den Anderen, müssen wir wohl auf deren Ebenen uns begeben. Und müssen versuchen, die Augen und das Herz offen zu haben. Es soll jetzt nicht so rührselig klingen - aber es ist schon der Versuch, zu verstehen, ganz einfach zu verstehen."
Auf der Oberfläche umspielt dieser Roman das Scheitern mit all seinen komischen und tragischen Sequenzen. Im Kern geht es aber um Bindungsangst oder, im Versichertenjargon, um die sprichwörtliche "Abschlusspanik". Paul Ingendaay gestaltet diese inneren Konflikten in unterschiedlichsten Tonarten aus, ohne sie letztlich glätten zu wollen. Diese Ambivalenz auszuhalten ist Markos Projekt, das irgendwann eine Fortsetzung haben soll - allerdings nicht im verschlafenen Kleinhoek, da hat Ingendaay Erbarmen.
"Und da muss er auch im dritten Band wieder raus, ich kann ihn da nicht lassen."
Paul Ingendaay: "Die romantischen Jahre", Piper Verlag, München 2011, 467 Seiten, 19,99 Euro
"Und es war verblüffender Weise keine Fortsetzung, aber doch dasselbe Figurenpersonal 20 Jahre später. Derselbe Held in einem anderen Leben, in einem Berufsleben, seine Familie, die Konflikte, 20 Jahre weiter gedacht."
Marko ist jetzt 37 Jahre alt. Sein Studium der Germanistik hat er abgebrochen - er fand die Literatur durch die wissenschaftliche Analyse eher misshandelt als durchschaut. Eine Erfahrung, die Ingendaay durchaus mit seiner Figur teilt - obwohl er selbst durchgehalten hat; er promovierte über William Gaddis und arbeitete einige Jahre fest als Literaturredakteur. Wie Marko mit hoher Erwartung an der Universität antritt, dann in einen bizarren, realitätsfernen Raum abtaucht, ist eine der amüsantesten Rückblenden im Roman.
"Komik ist neben Trauer oder starker Emotion wie Sehnsucht. Es gibt so zwei, drei große Antriebswellen des Buches, oder überhaupt des Schreibens bei mir, und ohne Komik geht gar nichts. Ich könnte kein trockenes Buch schreiben, und bei der Uniszene, auf die sie anspielen, ging es natürlich da rum, sehr verknappt und auch verulkt und überzeichnet eigene Unbefriedigungen am Studium auszudrücken in einer Szene, die eben 20 Jahre nach meinem Unistudium liegt. Denn wir alle oder viele von uns haben mal gedacht, wenn wir Literatur lieben, wenn wir Bücher lieben, sei die Literaturwissenschaft für uns das richtige. Dieser Irrtum war fundamental. Ich hab mich da ziemlich verloren über Jahre. Für mich war Literatur alles. Und ist es noch. Aber ich kannte das Leben nicht."
Markos Leben nimmt eine bescheidene Wende. Eher zufällig landet er bei einer Versicherung, als Leiter einer Zweigstelle im niederrheinischen Provinzkaff Kleinhoek. Kundengewinnungsgespräche; eine kleine Affäre; Neid auf einen besseren, betrügenden Kollegen, der auch ihn erpresst. Nichts für 460 Seiten - wäre da nicht die Art, wie Marko die Welt betrachtet: leicht dozierend mit der Slap-Stick-Galanterie eines ewigen Verlierers mit erhobenem Haupt, der ständig darum kämpft, Besseres von sich zu halten als sein Umfeld; und der schon im nächsten Augenblick erschöpft ist von der Anstrengung, die es kostet, den Schein zu wahren.
"Und mich hat auch diese Loserposition, nicht ganz Loser, aber auf der unteren Ebene interessiert, ich finde es eine sehr schöne Perspektive zum Erzählen, wenn man nicht zu den Gewinnern gehört, sondern von schräg unten nach oben gucken muss, um die Hierarchie zu überschauen oder sogar einen Gegner zu bekämpfen, und er merkt an jedem Punkt, der Gegner ist stärker als er."
Markos größter, unsichtbarer Gegner ist sein Arbeitgeber, die Agentur, oder sagen wir es allgemeiner: das Eingekerkertsein im Berufsalltag, für jeden Romantiker eine harte Wirklichkeitsprüfung. Ingendaays Roman "Die romantischen Jahre" ist auch Angestelltenroman - eine Form, die spätestens seit Robert Walsers "Gehülfe" bis zur Prosa Wilhelm Genazinos gut taugt, um das moderne, zerrissene Subjekt abzubilden.
"Ich lese ein bisschen zu wenig in unserer Literatur von der Heutigkeit, der Alltäglichkeit von Berufen, die Mittelklasse, die ja sehr groß ist, sehr verschwommen, sehr schwer zu fassen, die wird selten präzise dargestellt."
Die Arbeit, insbesondere die Arbeit bei einer mit Tod und Leben hantierenden Firma liefert Ingendaay nicht zuletzt die Metaphern, die er halb ironisch, halb enthusiastisch in seinen Roman streut und an vielen kleinen Nebengeschichten prüft: Wie gut sind wir im Ernstfall abgesichert? Immer lauert der Sturz. Ein Mann besucht Marko täglich im Büro und erzählt von seiner kranken Frau - bis Marko erfährt, dass er schon lange Witwer ist. Ein Mädchen sucht seinen Vater, der die Familie längst verlassen hat. Selbst der Vertreter leidet innerhalb dieses Figuren-Ensembles unter einem gewaltigen Leidens- und Leistungsdruck.
"Es ist sehr viel von Versicherungsdenken in das Buch eingegangen, nämlich: Welche Ängste haben diese Leute? Sie müssen das Gespräch kriegen, sie müssen beim Kunden ins Haus kommen, sie müssen den Abschluss kriegen und sie brauchen die verdammte Unterschrift. Und es hat mich unendlich gereizt, einen Exkurs zu schreiben über die Bedeutung dieser blöden Unterschrift, und mit welchem Gefühl geht einer aus dem Haus, wenn er die Unterschrift in der Mappe hat. Und wie geht er schwitzend und niedergedrückt, wenn er sie nicht bekommt. Und eigentlich wollte ich auch eine Branche darstellen und ihren fundamentalen Widerspruch: Wenn einer in ihr anständig bleiben will, kann er's eigentlich nicht sehr weit bringen. Das ist seine Wahrheit."
Marko Theunissen merkt lange nicht, dass die Rheinische seinem moralischen Anspruch nicht standhält. Eher fühlt er sich geehrt, eine Wohnung in der weiträumigen Kleinstadt-Villa beziehen zu dürfen, wo Kollegen früher heimlich Feste feierten. Ordnung zu schaffen liegt ihm. Er vertieft sich auch geduldig in Lebenskrisengespräche mit einsamen Kunden statt sie für Verträge zu verpflichten. Bonifikationen aufgrund besonderer Leistung bekommt er nie. Das macht ihn liebenswürdig und den Roman lebensweise.
"Ich glaube übrigens, dass das in unserem Leben ständig vorkommt, am Abendbrottisch und am Frühstückstisch und wenn der erste Herzinfarkt kommt, was arbeiten wir, wie können wir überhaupt das abschütteln, um vernünftige Familienmenschen zu sein, wenn wir das denn sind, von Kindern mal ganz zu schweigen."
Die romantischen Jahre liegen für Marko schon eine Weile zurück oder waren überhaupt nur eine große Glücksfiktion. Sie sind in diesem Melancholiker, diesem freundlichen Ich-Erzähler Marko auf eine geradezu peinigende Weise präsent. Seine Kindheit, die Scheidung der Eltern, die ihm lange verschwiegen wurde; der Rausschmiss aus dem katholischen Internat und die immer gerade verpasste große Liebe Yvonne fließen in Markos Monologe ein, wann immer er irgendwo wartet; in seinem nicht gerade hoch frequentierten Büro; in seinem stillen Zuhause bei einem gepflegten Glas Wein; auf Besuch bei seiner Schwester in Madrid. Die Vergangenheit schlägt in diese erzählte Gegenwart Furchen und rüttelt an Marko.
"Ich brauche einen anderen Umgang mit Zeit. Und das war für mich eigentlich der Grundpfeiler des Buches: Wie kann ich etwas erzählen aus einer Jetztzeit eines 37-Jährigen, für den die Zeit aber nie abgeschlossen ist, die ältere nicht, die noch ältere nicht, und wie kann ich beim Erzählen über Zeiten reden, ohne die Gänge zu wechseln. Hörbar. Es darf nicht knirschen. Ich wollte im Grunde eine Art von Flux der Zeit schaffen, und das war für mich die große Herausforderung und der Riesenspaß am Buch. Dass alles sich durchdringt."
Und so bewegt sich der Roman vom Angestelltenschicksal weg, auf ein Nadelöhr zu, das zu durchqueren besondere Fähigkeiten verlangt: Markos in Köln lebender Vater, krank und pleite, möchte seine zerstreute und zerstrittene Familie, vor allem aber seine Ex-Frau am 75. Geburtstag um sich haben. Alte Wunden werden aufgerissen, neue geschlagen.
"Ein wichtiger Punkt bei mir war, dass es ein Gefühl von Nostalgie, von versuchter Wiedergewinnung von Zeit, von Schönheit, von Erlebnissen gibt. Das betrifft nicht nur den Helden Marko Theunissen, sondern auch seinen Vater, den sogar noch mehr als alle anderen. Ein Mann, der eigentlich die Zeit gerne angehalten hätte und etwas wieder kriegen will, was unwiederbringlich verloren ist. Der zweite Teil des Romans handelt vor allen Dingen vom Vater und von der Familie, wie sie auf diesen Vater reagiert. Und wie die Familie in die Pflicht genommen wird wieder."
"Die romantischen Jahre" ist in diesem Sinn auch ein Buch über Alter und Krankheit, sogar die Nähe des Todes. Paul Ingendaay - das ist vielleicht das Faszinierendste an seiner Prosa - erzählt davon ganz ohne Dramatik, mit einer betörenden Natürlichkeit, wie sie eben diesen vielfach geteilten Familiendingen innewohnt. Und so gleitet man aus Markos eintönigem Versicherungsalltag immer wieder in die dunklen Kompliziertheiten nie verarbeiteter Verletzungen.
"Wie gehen denn Ehepaare um, wenn der eine weggeht und der andere sich erinnert. Oder noch Ansprüche erhebt. Alle diese Fragen, die jetzt die emotionale Biografie betreffen, faszinieren mich unendlich. Die Familie bleibt eigentlich die große Schatztruhe für Themen. Ich wollte Zwischenbereiche des Gefühls oder auch das Erlebens darstellen. Sie mussten spannend sein, man muss die 500 Seiten lesen wollen, aber man muss nicht dauernd wissen, was man da liest. Am liebsten sind mir Bücher, bei denen man gar nicht genau weiß, wo's lang geht, aber die man trotzdem lesen will."
Ingendaays Held mag sich im Berufsleben etwas linkisch anstellen - mit Eltern und Geschwistern geht er erstaunlich feinfühlig um, fast ist er sogar der harmonisierende Pol. Jahrelang hat er den Schmerz verdrängt. An seiner Fähigkeit zu langfristigen Beziehungen ist zu zweifeln. Trotzdem rührt ihn der hilflose Vater, der, wohlwollend betrachtet, keine andere Liebe zu geben hat als eine sehr indirekte, kaum spürbare. Der Roman zittert vom verpassten, ungestümen Leben, kennt aber auch eine Lebenskunst, die auf Bescheidenheit beruht.
"Das Wort Gnade finde ich herrlich, das Wort Gnade berührt mich, und ich glaube nicht, dass es im Roman vorkommt, und ich glaube nicht, dass ich mich jemals getraut hätte, es öffentlich zu sagen. Da sie's gesagt haben, darf ich's. Es hat etwas von Annehmen, zumindest oder von sich-nicht-arrangieren, sondern akzeptieren, dass die Dinge irgendwann auch vorbei sind und man sich beeilen muss mit dem, was man noch kriegen kann."
Der Roman "Die romantischen Jahre" ist keineswegs nur Porträt einer in den 70er- und 80er-Jahren groß gewordenen Generation, Ingendaays eigene, der er hier durchaus ein Denkmal setzt.
"Ganz merkwürdig, das ist eine innere Welt, für die ich kaum irgendwelche Requisiten und keine historischen Dokumente brauchte."
Durch die enge Verknüpfung mit Markos zerbrochener Familie werden über diese Generation hinaus die großen Lebensfragen verhandelt. Was arbeite ich und wie bleibe ich trotz allem ein Mensch? Wie verkrafte ich, dass plötzlich die Kinder für die Eltern sorgen müssen, nicht umgekehrt? Was heißt Erwachsenwerden in Bezug auf die Beziehungen, die wir führen?
"Es ist glaube ich die Frage, die wir im Leben oft stellen müssen: Erkennen wir überhaupt, was der andere zu geben hat? Und sind wir bereit, es unter dessen Bedingungen zu akzeptieren? Vielfach können wir das nicht, und da scheint das Buch so eine Antwort nahezulegen, wenn wir überhaupt was haben wollen von den Anderen, müssen wir wohl auf deren Ebenen uns begeben. Und müssen versuchen, die Augen und das Herz offen zu haben. Es soll jetzt nicht so rührselig klingen - aber es ist schon der Versuch, zu verstehen, ganz einfach zu verstehen."
Auf der Oberfläche umspielt dieser Roman das Scheitern mit all seinen komischen und tragischen Sequenzen. Im Kern geht es aber um Bindungsangst oder, im Versichertenjargon, um die sprichwörtliche "Abschlusspanik". Paul Ingendaay gestaltet diese inneren Konflikten in unterschiedlichsten Tonarten aus, ohne sie letztlich glätten zu wollen. Diese Ambivalenz auszuhalten ist Markos Projekt, das irgendwann eine Fortsetzung haben soll - allerdings nicht im verschlafenen Kleinhoek, da hat Ingendaay Erbarmen.
"Und da muss er auch im dritten Band wieder raus, ich kann ihn da nicht lassen."
Paul Ingendaay: "Die romantischen Jahre", Piper Verlag, München 2011, 467 Seiten, 19,99 Euro