Es sterben auch viele Leser - William Gaddis erzählte diese Geschichte gern und mit sichtlichem Behagen. Sie entsprach nicht nur seinem trockenen Humor, sondern auch seinem
ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl und seiner satirschen Spottlust, einer Spottlust, die aus nichts geringerem resultierte als aus schierer Verzweiflung über die gebrechliche Einrichtung der Welt. Ein fernes Echo davon fand sich in dem spanischen Sprichwort, das Gaddis als eine Art Motto seiner reichlich spät in Gang gekommenen Autorenkarriere betrachtete: "Sitze auf der Schwelle deines Hauses und warte, bis man die Leichen deiner Feinde an dir vorüberträgt."
William Gaddis mußte darauf lange warten, sehr lange. 1956 hatte der aus der Ostküsten-Aristokratie Amerikas stammende Harvardabsolvent seinen ersten Roman veröffentlicht, "The Recognitions". In den USA ist dieser Roman mittlerweile als Klassiker der Gegenwartsliteratur kanonisiert, Autoren wie Thomas Pynchon, William Gass und Don DeLillo haben ihm Reverenz erwiesen, das Buch gilt als der Paukenschlag, mit dem die amerikanische Postmoderne begann. Doch Mitte der 50er Jahre fiel der Roman bei der amerikanischen Kritik komplett durch, wurde grotesk mißverstanden oder schlicht ignoriert.
Der Zufall will es, daß "The Recognitions" in diesen Tagen unter dem Titel "Die Fälschung der Welt" mit über 40 Jahren Verspätung auf deutsch erscheint. Bei unserem letzten Gespräch in seinem Haus in Easthampton fragte ich William Gaddis, mit welchen Gefühlen, mit welchen Gedanken er diesen Roman heute, im Abstand von fast fünfzig Jahren nach der Niederschrift, wieder zur Hand nimmt:
"Der Roman ist vom Stil her und so weiter ganz anders als alles, was ich heute schreiben würde", so Gaddis. "Die Idee hinter diesem Buch wirkte aber auch in meinen anderen Romanen nach, es sind dieselben Obsessionen, dieselben Interessen. Ein bißchen ist es so, als ob man in eine Stadt zurückkehrt, die man aus seiner Jugend kennt. In meinem Fall wäre das Madrid oder Sevilla. Ich bin vor einigen Jahren nach Madrid gegangen und habe mich auf die Suche nach der Pension gemacht, in der ich früher gewohnt hatte, konnte sie aber nicht finden. Schließlich wurde mir klar, daß ich mich gar nicht nach diesem realen Ort zurücksehnte, sondern nach meiner Jugend. Dasselbe geht in einem vor, wenn man ein Buch von sich nach fünfzig Jahren liest. Man zuckt innerlich zusammen, wenn man an Stellen gerät, die einem heute peinlich, übertrieben oder schlicht pubertär erscheien. Letzten Endes bleibt aber ein Gefühl von Sympathie, wenn nicht für das Buch, so doch für einen selbst in dem Alter, in dem man damals war, und Sympathie auch für das, was man damals mit dem Buch machen wollte. Im Fall von ‘The Recognitions’ glaubte ich, daß ich die Welt verändern würde. Als das Buch erschien, hieß es in den Kritiken, es sei ein äußerst pessimistischer und negativer Roman. Aber wenn ich mich heute in der Welt umsehe, denke ich: was würden dieselben Leute über die Wirklichkeit heute wohl sagen? Später ist es mir mit meinem Roman "JR" genauso ergangen: zehn Jahre vor Reaganomics habe ich über einen Elfjährigen geschrieben, der die Reaganomics erfindet. Es sind also sehr gemischte Gefühle."
Vier Romane hat William Gaddis insgesamt veröffentlicht, nicht eben viel als Bilanz eines 75jährigen Schriftstellerlebens. Doch Gaddis schrieb sehr umfangreiche Bücher, Großromane von äußerst komplexer Struktur. "Die Fälschung der Welt" zählt in der deutschen Übersetzung über zwölfhundert engbedruckte Seiten. Wofür Gaddis diese Fläche braucht, läßt das programmatische Zitat aus "Faust II" erahnen, das er der amerikanischen Orginalausgabe in Deutsch vorangestellt hat: "Was gibt es denn?/ Es wird ein Mensch gemacht."
Nach dem Mißerfolg von "The Recognitions" verschlug es dem Schriftsteller Gaddis fast zwei Jahrzehnte lang die Sprache. Er arbeitete als Redenschreiber für Großkonzerne wie IBM oder Eastman Kodak, lernte die Welt des Big Busineß von innen kennen. Das Streben nach beruflichem Aufstieg und Erfolg erschien ihm ausgesprochen kindisch, die Wirtschaft als ein gigantisches Sandkastenspiel.
In "JR", seinem zweiten Roman, inszenierte Gaddis diesen Tanz ums goldene Kalb in Form einer Gesellschaftssatire. Der Titelheld JR, ein elfjähriger Schüler an einer High School Neuenglands, ist ein Kaspar Hauser des Kapitalismus. Aufgewachsen ohne moralische Werte, von seinen Eltern vernachlässigt, von seiner Schule allein auf die Maximen des Erwerbsstrebens verpflichtet, beginnt der Sechstklässler, sich ein Vermögen zu ergaunern.
"Follow the money", folge dem Geld, lautete die goldene Regel, die den Journalisten Bob Woodward und John Bernstein die Aufdeckung des Watergate Skandals ermöglichte. Es könnte auch eine Beschreibung des literarischen Programms von William Gaddis sein. In den folgenden Romanen "Die Erlöser" und "In letzter Instanz" wandte er dieses Programm auf die Welt der Religion und der Justiz an. Kein anderer amerikanischer Schriftsteller war so besessen von homogenen Sprachwelten. William Gaddis gelang es, aus diesen Fachsprachem Literatur zu machen.
William Gaddis, der gestern im Alter von 75 Jahren starb, blieb der Trost, daß seine Bücher überleben werden. Gaddis wußte, daß literarische Unsterblichkeit ein schwacher, ein schaler Trost ist - aber er wußte auch, daß es der einzige Trost ist.
Andere mögen Bücher schreiben, ich schreibe Literatur, hat er einmal gesagt. Ein stolzer, ein fast arroganter Satz. Nur wer das Werk von William Gaddis kennt, wird die Untertreibung darin heraushören. Dabei sind die Romane von William Gaddis alles andere als elitärem Hermetismo verpflichtet, sie zählen durch ihren grandiosen Witz zu den vergnüglichsten Lektüren der Gegenwartsliteratur.
"Listen!" -"Hör zu!", diese Aufforderung zum Dialog ist die häufigste Formulierung in ihnen.Doch immer gibt ein Wort das andere, und so reden die Künstler und Juristen, die Schulkinder und Wirtschaftsmagnaten, die Kunst- und Geldfälscher und Bedeutungsfälscher im literarischen Kosmos des William Gaddis letztlich alle aneinander vorbei und noch nicht einmal zu sich selbst: davor steht das Wortgeklingel, das weiße Rauschen, das ihnen aus den stets präsenten Medien, den unablässig schrillenden Telefonen entgegenquillt. Darin liegt die Komik - und letztlich die Tragik - dieser Romane, der Zeit und der Gesellschaft, die sie beschreiben.
William Gaddis hat die deutsche Veröffentlichung von "Die Fälschung der Welt" noch erlebt. Auch deutsche Leser können nun den Anfang des Wegs von William Gaddis in die Weltliteratur mitgehen. Es ist ein Weg, den man nach über tausend Seiten nur ungern verläßt, denn nirgendwo in der Gegenwart findet sich ein unterhaltsamerer, klügerer oder anregenderer Gefährte.
ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl und seiner satirschen Spottlust, einer Spottlust, die aus nichts geringerem resultierte als aus schierer Verzweiflung über die gebrechliche Einrichtung der Welt. Ein fernes Echo davon fand sich in dem spanischen Sprichwort, das Gaddis als eine Art Motto seiner reichlich spät in Gang gekommenen Autorenkarriere betrachtete: "Sitze auf der Schwelle deines Hauses und warte, bis man die Leichen deiner Feinde an dir vorüberträgt."
William Gaddis mußte darauf lange warten, sehr lange. 1956 hatte der aus der Ostküsten-Aristokratie Amerikas stammende Harvardabsolvent seinen ersten Roman veröffentlicht, "The Recognitions". In den USA ist dieser Roman mittlerweile als Klassiker der Gegenwartsliteratur kanonisiert, Autoren wie Thomas Pynchon, William Gass und Don DeLillo haben ihm Reverenz erwiesen, das Buch gilt als der Paukenschlag, mit dem die amerikanische Postmoderne begann. Doch Mitte der 50er Jahre fiel der Roman bei der amerikanischen Kritik komplett durch, wurde grotesk mißverstanden oder schlicht ignoriert.
Der Zufall will es, daß "The Recognitions" in diesen Tagen unter dem Titel "Die Fälschung der Welt" mit über 40 Jahren Verspätung auf deutsch erscheint. Bei unserem letzten Gespräch in seinem Haus in Easthampton fragte ich William Gaddis, mit welchen Gefühlen, mit welchen Gedanken er diesen Roman heute, im Abstand von fast fünfzig Jahren nach der Niederschrift, wieder zur Hand nimmt:
"Der Roman ist vom Stil her und so weiter ganz anders als alles, was ich heute schreiben würde", so Gaddis. "Die Idee hinter diesem Buch wirkte aber auch in meinen anderen Romanen nach, es sind dieselben Obsessionen, dieselben Interessen. Ein bißchen ist es so, als ob man in eine Stadt zurückkehrt, die man aus seiner Jugend kennt. In meinem Fall wäre das Madrid oder Sevilla. Ich bin vor einigen Jahren nach Madrid gegangen und habe mich auf die Suche nach der Pension gemacht, in der ich früher gewohnt hatte, konnte sie aber nicht finden. Schließlich wurde mir klar, daß ich mich gar nicht nach diesem realen Ort zurücksehnte, sondern nach meiner Jugend. Dasselbe geht in einem vor, wenn man ein Buch von sich nach fünfzig Jahren liest. Man zuckt innerlich zusammen, wenn man an Stellen gerät, die einem heute peinlich, übertrieben oder schlicht pubertär erscheien. Letzten Endes bleibt aber ein Gefühl von Sympathie, wenn nicht für das Buch, so doch für einen selbst in dem Alter, in dem man damals war, und Sympathie auch für das, was man damals mit dem Buch machen wollte. Im Fall von ‘The Recognitions’ glaubte ich, daß ich die Welt verändern würde. Als das Buch erschien, hieß es in den Kritiken, es sei ein äußerst pessimistischer und negativer Roman. Aber wenn ich mich heute in der Welt umsehe, denke ich: was würden dieselben Leute über die Wirklichkeit heute wohl sagen? Später ist es mir mit meinem Roman "JR" genauso ergangen: zehn Jahre vor Reaganomics habe ich über einen Elfjährigen geschrieben, der die Reaganomics erfindet. Es sind also sehr gemischte Gefühle."
Vier Romane hat William Gaddis insgesamt veröffentlicht, nicht eben viel als Bilanz eines 75jährigen Schriftstellerlebens. Doch Gaddis schrieb sehr umfangreiche Bücher, Großromane von äußerst komplexer Struktur. "Die Fälschung der Welt" zählt in der deutschen Übersetzung über zwölfhundert engbedruckte Seiten. Wofür Gaddis diese Fläche braucht, läßt das programmatische Zitat aus "Faust II" erahnen, das er der amerikanischen Orginalausgabe in Deutsch vorangestellt hat: "Was gibt es denn?/ Es wird ein Mensch gemacht."
Nach dem Mißerfolg von "The Recognitions" verschlug es dem Schriftsteller Gaddis fast zwei Jahrzehnte lang die Sprache. Er arbeitete als Redenschreiber für Großkonzerne wie IBM oder Eastman Kodak, lernte die Welt des Big Busineß von innen kennen. Das Streben nach beruflichem Aufstieg und Erfolg erschien ihm ausgesprochen kindisch, die Wirtschaft als ein gigantisches Sandkastenspiel.
In "JR", seinem zweiten Roman, inszenierte Gaddis diesen Tanz ums goldene Kalb in Form einer Gesellschaftssatire. Der Titelheld JR, ein elfjähriger Schüler an einer High School Neuenglands, ist ein Kaspar Hauser des Kapitalismus. Aufgewachsen ohne moralische Werte, von seinen Eltern vernachlässigt, von seiner Schule allein auf die Maximen des Erwerbsstrebens verpflichtet, beginnt der Sechstklässler, sich ein Vermögen zu ergaunern.
"Follow the money", folge dem Geld, lautete die goldene Regel, die den Journalisten Bob Woodward und John Bernstein die Aufdeckung des Watergate Skandals ermöglichte. Es könnte auch eine Beschreibung des literarischen Programms von William Gaddis sein. In den folgenden Romanen "Die Erlöser" und "In letzter Instanz" wandte er dieses Programm auf die Welt der Religion und der Justiz an. Kein anderer amerikanischer Schriftsteller war so besessen von homogenen Sprachwelten. William Gaddis gelang es, aus diesen Fachsprachem Literatur zu machen.
William Gaddis, der gestern im Alter von 75 Jahren starb, blieb der Trost, daß seine Bücher überleben werden. Gaddis wußte, daß literarische Unsterblichkeit ein schwacher, ein schaler Trost ist - aber er wußte auch, daß es der einzige Trost ist.
Andere mögen Bücher schreiben, ich schreibe Literatur, hat er einmal gesagt. Ein stolzer, ein fast arroganter Satz. Nur wer das Werk von William Gaddis kennt, wird die Untertreibung darin heraushören. Dabei sind die Romane von William Gaddis alles andere als elitärem Hermetismo verpflichtet, sie zählen durch ihren grandiosen Witz zu den vergnüglichsten Lektüren der Gegenwartsliteratur.
"Listen!" -"Hör zu!", diese Aufforderung zum Dialog ist die häufigste Formulierung in ihnen.Doch immer gibt ein Wort das andere, und so reden die Künstler und Juristen, die Schulkinder und Wirtschaftsmagnaten, die Kunst- und Geldfälscher und Bedeutungsfälscher im literarischen Kosmos des William Gaddis letztlich alle aneinander vorbei und noch nicht einmal zu sich selbst: davor steht das Wortgeklingel, das weiße Rauschen, das ihnen aus den stets präsenten Medien, den unablässig schrillenden Telefonen entgegenquillt. Darin liegt die Komik - und letztlich die Tragik - dieser Romane, der Zeit und der Gesellschaft, die sie beschreiben.
William Gaddis hat die deutsche Veröffentlichung von "Die Fälschung der Welt" noch erlebt. Auch deutsche Leser können nun den Anfang des Wegs von William Gaddis in die Weltliteratur mitgehen. Es ist ein Weg, den man nach über tausend Seiten nur ungern verläßt, denn nirgendwo in der Gegenwart findet sich ein unterhaltsamerer, klügerer oder anregenderer Gefährte.