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Archiv


Ein Nest in der Spionageabwehr

Dass es beim Übergang vom Dritten Reich zur bundesrepublikanischen Demokratie in vielen Staatsämtern personelle Kontinuitäten gegeben hat, ist keine neue Erkenntnis. Eine Forschergruppe entdeckte jetzt eine "verdeckte Integration" von NS-Belasteten auch beim Verfassungsschutz.

Von Isabel Fannrich | 16.05.2013
    Der Bundesnachrichtendienst hat einer historischen Kommission sein Archiv geöffnet. Bis zum Jahr 2016 läuft das Projekt zur "Erforschung der Geschichte des BND, seiner Vorläuferorganisationen sowie seines Personal- und Wirkungsprofils von 1945-1968 und des Umgangs mit dieser Vergangenheit" - so der sperrige Titel.

    Anders als diejenigen Bundesministerien, die derzeit ihre NS-Vorgänger oder ihre Entwicklung nach 1945 untersuchen lassen, wollen die Historiker des finanziell gut aufgestellten BND-Projekts eine Gesamtgeschichte schreiben – über die "Organisation Gehlen", die nach dem Zweiten Weltkrieg der CIA unterstand, über deren Chef Reinhard Gehlen, während des Krieges bei der SS und Chef der Ostspionage, sowie über den frühen, seit 1956 in Bundesdiensten stehenden Auslandsgeheimdienst – damals nach wie vor unter der Leitung von Gehlen.

    "Der Dienst entstand nach dem Krieg nicht nur in völliger Abschirmung von der Öffentlichkeit und auch von den Behörden, sondern auch in einer Art unkontrolliertem Wildwuchs – ganz anders als Bundeswehr, Auswärtiges Amt usw. Nur wenn wir die Rekrutierungs- und Karrieremuster kennen und verlässliche Aussagen zum durchschnittlichen Verstrickungsgrad treffen können, lässt sich auch die innerdienstliche Relevanz der NS-Belasteten und ihrer Dienstausübung beurteilen, ihrer Wirkung."

    Tatsächlich finden sich beim Vorläufer des BND nach Kriegsende zahlreiche personelle Kontinuitäten, wollten doch die US-Amerikaner das in NS-Militär und -Spionage vorhandene Wissen nutzen – im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion. Klaus Dietmar Henke, Professor für Zeitgeschichte an der TU Dresden, ist an den Forschungen beteiligt:

    "Erhebliche Bedeutung kam dem Dienst wohl auch für die politische
    Kanalisierung, wenn man es so nennen möchte, des flottierenden Milieus
    ehemaliger Offiziere der Wehrmacht und Waffen-SS zu, die es ja noch zu
    Zehntausenden gab. Und mit diesem Milieu war der militärisch geprägte
    Dienst Gehlens ja aufs Allerengste verwoben."

    Dass viele Mitglieder ehemaliger Nazi-Organisationen nach '45 in den Behörden der inneren Sicherheit mitarbeiten konnten, ist für die Wissenschaftler keine neue Erkenntnis. Imanuel Baumann hat das hohe Maß an Verstrickung insbesondere der Führungskräfte im frühen Bundeskriminalamt untersucht. Der Historiker war an dem Forschungsprojekt beteiligt, aus dem im Jahr 2011 ein Buch hervorging: "Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik":

    "Da hat sich ergeben, dass im Stichjahr 1959, das war das erste Stichjahr, das Führungspersonal zu 90 Prozent schon in der NS-Polizei oder in der Polizei vor '45 tätig war, zu drei Vierteln der NSDAP zugehörte und zu zwei Dritteln der SS. Das ist erst mal eine formale Belastung, sagt noch nichts darüber aus, ob diese Person auch an Verbrechen beteiligt war."

    Die sogenannte NS-Belastung im BKA sei bis 1969 nur allmählich gesunken, berichtet der Historiker, habe aber in den 70er-Jahren stark abgenommen – als viele Mitarbeiter in den Ruhestand gingen.

    Was NS-Belastung genau bedeutet, müssen die Historiker im Einzelfall klären. Dass jemand Mitglied der NSDAP gewesen sei, sage nichts darüber aus, inwieweit er oder sie sich zwischen 1933 und 1945 schuldig gemacht habe, betont Michael Wala:

    "Was er oder sie getan hat, in welchem Bereich diese Personen aktiv sind, wieweit sie Nationalsozialisten, Antisemiten waren, wissen wir deshalb noch lange nicht. Wir wissen deshalb auch noch lange nicht, ob sie diese Einstellung, diese Ideologie weiter getragen haben, ob sie sie vielleicht abgelegt haben, ob sie vielleicht eine Katharsis durchlebt haben."

    Der Professor für Geschichte Nordamerikas erforscht mit seinem Kollegen Constantin Goschler von der Ruhruniversität Bochum die Organisationsgeschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz von seiner Gründung im Jahr 1950 bis 1975. Besonders hinschauen wollen sie auf die NS-Bezüge früherer Mitarbeiter in der Gründungsphase.

    Vor allem die Auswirkungen. Gilt die bloße Aufzählung von NS-Mitgliedschaften in den betroffenen Forschungsprojekten als wenig Erkenntnis fördernd, soll zunächst die Frage geklärt werden, inwiefern die NS-Prägung in den Behörden debattiert worden sei – und wie sich die Einstellung dazu im Laufe der Zeit geändert habe.

    Anders als beim Bundesnachrichtendienst und beim Bundeskriminalamt unterlag der Verfassungsschutz einer starken Kontrolle der Westalliierten, galt er doch als wesentliches Element der inneren sowie der transatlantischen Sicherheit. Damit sich hier keine neue Gestapo entwickeln konnte, entschieden sie bis 1956 darüber, wer bei der Institution gegen Spionageabwehr arbeiten durfte. Wer vor '45 bei der Gestapo gewesen war, wurde abgewiesen. Nach dem Ende des Besatzungsstatuts 1955 änderte sich das, erzählt Constantin Goschler:
    "Nach dem Abschluss der Entnazifizierung hat man danach eigentlich nicht mehr gefragt. Damals hat sich eine Vorstellung von NS-Belastung durchgesetzt, wonach eigentlich nur derjenige belastet war, der sich entweder in ganz hohen zentralen staatlichen oder Parteifunktionen betätigt hatte oder – und das war eigentlich noch das Wichtigere – jemand, der an nachweisbaren Verbrechen beteiligt gewesen war."

    Dennoch habe bereits früh eine Art "verdeckter Integration" stattgefunden. So fanden die Bochumer Forscher heraus, dass eine Vielzahl von NS-Belasteten an der alliierten Kontrolle und der Amtsspitze vorbei geschleust und als freie Mitarbeiter für kürzere Ermittlungsaufträge engagiert wurden: etwa der ehemalige Kriminalkommissar Josef Baumer, der im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 an den Misshandlungen ausgerechnet des Bruders des BfV-Präsidenten, Hans John, beteiligt gewesen war. Er arbeitete für die Küsten-Nachrichtenstelle des Amtes in Hamburg und wurde 1957 zu einer Haftstrafe verurteilt.

    Dennoch: Unterm Strich seien vergleichsweise wenige NS-Belastete beim Verfassungsschutz gewesen, resümiert Goschler:

    "Die Frage ist ja immer: Wie verteilt sich das? Und da kann man eben feststellen, dass es zumindest ein – ich möchte es mal nennen – Nest gibt, an dem eine relativ hohe Konzentration phasenweise existierte, das war die Spionageabwehr. Und durch diese Verdichtung gab es dann eben auch atmosphärische Auswirkungen, also etwa ein extrem autoritärer Führungsstil."

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