Arvo Tordik ist ein wenig stolz, wenn er Besucher des Ölschieferkraftwerkes von Narwa in den neuen Kontrollraum führen kann. Lärmende Apparaturen und riesige Schalttafeln von früher findet man hier nicht. Stattdessen verbreiten versenkte Deckenleuchten ein warmes Licht. Beste Bedingungen für die beiden Kontrolleure, wechselnde Tabellen und Skalen auf den zahlreichen Bildschirmen zu erfassen. Mehr als drei Jahre hat der estnische Umweltexperte Arvo Tordik daran gearbeitet, die Stromproduktion in den Blöcken 8 und 11 auf europäischen Standard zu bringen.
" Hier wird alles per Computer gesteuert. Und das Schwefeldioxid haben wir auf 10 bis 20 mg reduziert. Mit den alten Brennöfen geht noch immer das Hundertfache in die Luft. Aber dieses Modernisierung hat 250 Millionen Euro gekostet. Für jede weitere fehlt uns das Geld. Darum bin ich sehr besorgt. Irgendetwas muss auf dem estnischen Energiemarkt passieren, sonst wissen wir ab 2016 nicht mehr, woher wir unseren Strom nehmen sollen."
In den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union konnte Estland eine Übergangsperiode für die Stromgewinnung aus dem schmutzigen Ölschiefer aushandeln. Der Brennstoff wird vor Ort über und unter Tage gewonnen und deckt zur Zeit noch nahezu den gesamten Strombedarf. Schon im Sozialismus wurden die zahlreichen Schornsteine im Nordosten des Landes, nahe der russischen Grenze errichtet. Aber Estland hat sich verpflichtet, dass nach dem 31. Dezember 2015 kein giftiges Schwefeldioxid mehr ausgestoßen wird.
Deshalb sucht der staatliche Stromversorger "Eesti Energie" fieberhaft nach neuen Lösungen. Große Hoffnungen haben die Experten bis vor kurzem in den Bau eines umweltfreundlicheren Gaskraftwerkes gesetzt. Dafür allerdings müsse man die Gasimporte drastisch erhöhen, erklärt Tönis Meriste, zuständig für Entwicklungsplanung. Die Erfahrungen des letzten Winters hätten aber gezeigt, dass sogar die Teilnahme an der russisch-deutschen Pipeline keine Lösung für Estland sei.
" Das Gas käme von der falschen Seite, aus Russland. Und Russland wird seine Geschäfte immer mit Politik vermischen. Man kann sich auf Moskau nicht verlassen. Wir haben alle den Druck auf die Ukraine und andere Staaten verfolgen können. Wir hatten keine Lieferprobleme, unser Gaspreis blieb auch niedrig, aber er wird steigen. Außerdem will Russland neuerdings sogar eine Schlüsselposition auf dem europäischen Energiemarkt einnehmen. Das beweist doch, dass die Russen Einfluss nehmen wollen. Deshalb war es mit unserer Euphorie für das Gas schnell vorbei. Alle, die das Gas propagiert hatten, waren plötzlich gewarnt und dachten über neue Möglichkeiten nach."
Die zukünftige Stromversorgung ist ein Problem, das alle drei baltischen Staaten tangiert. Weil der litauische Atommeiler "Ignalina" baugleich mit dem Unglücksreaktor von Tschernobyl ist, muss er bis 2009 abgeschaltet werden. Lettland verfügt nur über Wasserkraft und ist abhängig von Stromlieferungen aus Estland und Litauen. Die Lösung könnte ein gemeinsames Atomkraftwerk für das Baltikum sein. Es soll in Litauen, ganz in der Nähe von "Ignalina" errichtet werden.
Bis Jahresende wollen die Ministerpräsidenten der drei Ostsee-Republiken entscheiden, wie diese zukünftige Stromquelle finanziert werden kann. Einari Kisel ist Staatssekretär im estnischen Wirtschaftsministerium und leitet die Abteilung Energie. Er hat eine neue Energiestrategie für Estland ausgearbeitet und hofft, dass mit dem neuen Atommeiler ein baltischer Energiemarkt entsteht.
" Wir wollen uns bis 2015 selbst versorgen können und nicht mehr abhängig von Russland sein. Denn heute sind die drei baltischen Staaten noch Teil des russischen Stromnetzwerkes aus den siebziger Jahren. Über einen Ring sind wir mit Moskau, St. Petersburg, Weißrussland und der Ukraine verbunden.
Russland will an diesem Netzwerk festhalten, weil es auch den Stromtransit von Moskau nach Kaliningrad garantiert. Wir möchten aber auch gerne mit westlichen Netzen verbunden sein, das wäre eine Garantie unserer Sicherheit. Leider sind Estland, Lettland und Litauen völlig von der EU isoliert. Aber unsere drei Länder arbeiten seit Anfang der neunziger Jahre im Energiesektor eng zusammen. Technisch sind wir in der Lage, uns mit Strom zu beliefern. Und wir haben eine gemeinsame Geschichte, wir waren alle von der Sowjetmacht besetzt und können uns aufeinander verlassen. Das schweißt uns auch für einen gemeinsamen Energiemarkt zusammen."
Knapp 300 Kilometer von Tallinn entfernt wird in der lettischen Hauptstadt Riga das Netzwerk der baltischen Stromkreisläufe gesteuert und kontrolliert.
Eine Schaltzentrale, die zu gleichen Teilen Estland, Lettland und Litauen gehört. Je nach Bedarf, wird von hier per Computer Strom aus den Nachbarländern in das lettische Netz gespeist. Mehr als 40 Prozent seiner Energie müsse Lettland importieren, betont Aivars Kesko, der im staatlichen Energieversorger "Latvernergo" für die Stromproduktion verantwortlich ist.
" Sogar als Lettland noch Sowjetrepublik war, hatten wir zu wenig Strom. Am meisten liefert unser Wasserkraftwerk, ein kleiner Teil wird mit Gas in einer Heizzentrale produziert. Aber was passiert, wenn Litauen und Estland uns nicht mehr beliefern können? Wir sprechen von Diversifizierung, sind dann aber abhängig vom Gas. Wir haben keine Kohle, kein Öl, vor allem Gas. Bis jetzt gibt's keine Probleme mit Russland, aber wer weiß? Und alle wollen billigen Strom haben. Atomkraft ist billig. Wir denken auch an Windenergie oder neue Wasserkraftwerke, aber das reicht nicht und ist viel zu teuer."
Dabei hat Lettland direkt nach seiner Unabhängigkeit 1991 gerade auf den Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzt. Durch Lettland fließt nicht nur die Düna, das Land ist überdies von vielen kleinen Wasseradern durchzogen.
Deshalb regte die lettische Regierung den Ausbau der kleinen Wasserkraftwerke an und bot für jede Kilowattstunde den doppelten Tarif. Mittlerweile sind 149 Kraftwerke in Betrieb, die 2 Prozent des lettischen Strombedarfs decken. Nicht genug, meint Umweltexperte Valdis Bisters. Die kleine Wasserkraft sei völlig überschätzt worden, weil man scharfe Umweltauflagen wie Fischwege nicht bedacht hatte. Valdis Bisters entwirft im lettischen Umweltministerium Strategien für eine rentable Energiepolitik.
" Mit moderner Technologie könnten wir die Produktivität der kleinen Wasserkraftwerke noch um 20 Prozent erhöhen, aber wir sehen unser großes Potential eher in der Bioenergie. Uns fehlen 400 MW im Jahr, allein 100 MW könnte die Biomasse liefern, Holz. Das würde auch Arbeitsplätze und zusätzliche Steuereinnahmen bringen, aber das Thema kommt bei der Regierung nicht auf den Tisch. Alle sprechen jetzt nur von der Atomkraft. Wird der neue Meiler Realität, dann bleibt kein Geld mehr, um den Sektor der erneuerbaren Energien weiter auszubauen."
Anders als seine Nachbarn verfügt Lettland durch die Wasserkraft schon heute über mehr erneuerbare Energien, als Brüssel ab 2010 von allen EU-Mitgliedern verlangt. Auch die Politiker in Estland und Litauen tun sich mit ihrem Engagement für nachwachsende Rohstoffe oder Windenergie noch schwer. Doch nutzen in allen drei baltischen Republiken einige Unternehmen bereits die Biomasse Holz für die Heizung und Warmwasserversorgung von Gebäuden.
Während die Wärmeproduktion aus Holz in Lettland bereits auf Hochtouren läuft, bleibt die Stromgewinnung in Estland und Litauen ohne Unterstützung durch die Regierung noch in den Kinderschuhen stecken.
Auch das lettische Wirtschaftsministerium setzt vor allem auf den Ausbau der nuklearen Energie. Staatssekretär Ugis Sarma äußert die Hoffnung, dass die baltischen Länder mit einem großen Reaktor in Zukunft Überkapazitäten produzieren und an die skandinavischen Nachbarn verkaufen können. Bereits in diesem Herbst wird ein Kabel zwischen Estland und Finnland verlegt, das zum ersten Mal das Stromnetz der baltischen Länder mit dem Westen verbinden wird. Ugis Saarma hofft, dass weitere Schaltungen folgen werden.
" Wir wollen am Stromgeschäft auf dem nordischen Markt teilhaben, das ist das Wichtigste. Vielleicht kann unser Atommeiler aber auch zu einer Renaissance der Atomkraft in Europa führen. In EU-Ländern wie Schweden und Deutschland, da wollen Politiker die Atomkraftwerke schließen. Aber es gibt auch andere Beispiele wie Finnland, das jetzt einen neuen Meiler baut. Und vielleicht können wir das zweite wegweisende Beispiel sein."
Die Richtung sollte vor dreiundzwanzig Jahren auch der Atommeiler "Ignalina" vorgeben: Damals errichtete Moskau in der Sowjetrepublik Litauen die beiden größten Atomreaktoren der UdSSR. "Ignalina" liegt vier Autostunden von Riga entfernt, ganz im Osten des Baltikums, im Dreiländereck zwischen Lettland, Litauen und Weißrussland.
Einst waren auf dem riesigen Gelände vier Reaktoren geplant, doch nach dem Unfall in Tschernobyl wurden die Bauarbeiten an den beiden letzten eingestellt. Da sich die litauische Regierung in Brüssel verpflichtet habe, den Meiler bis 2009 abzuschalten, sei "Ignalina" genau der richtige Ort, um das erste gemeinsame Atomkraftwerk im Baltikum zu errichten. Diesen Standpunkt vertritt jedenfalls Direktor Viktor Shewaldin, der von Anfang an "Ignalina" geleitet hat.
" Wir haben genug Platz, um einen neuen Kernreaktor zu bauen. Die französische Firma "Arewa" hat ein halbes Jahr lang bei uns geologische Untersuchungen durchgeführt. In ihrem Abschlussbericht hat sie der litauischen Regierung geraten, hier einen neuen Meiler zu bauen. Wir verfügen über eine perfekte Infrastruktur, Stromleitungen, gut ausgebildete Leute und eine Stadt, in der man wohnen kann. Das ist günstiger, als einen neuen Standort zu suchen."
Zeitgleich mit "Ignalina" wurde die Kleinstadt Visaginas aus dem Boden gestampft. Wie auf einem Schachbrett haben die Sowjets damals Straßen und Plattenbauten zwischen Birken - und Kiefernwäldchen gesetzt. Am Horizont erheben sich die roten Schornsteine von "Ignalina" wie ein Wahrzeichen über der Stadt.
Besonders hohe Löhne im Atomkraftwerk lockten einst Tausende aus der ehemaligen Sowjetunion mit ihren Familien nach Visaginas. Deshalb zahlt Brüssel für die Stilllegung des Meilers jetzt Zuschüsse in Milliardenhöhe. Mit dem Geld sollen auch neue Wirtschaftsbranchen in Visaginas und Umgebung entstehen.
Wenn Jurgis Vilemas über das Thema "Ignalina" spricht, gerät er leicht in Rage. Jurgis Vilemas ist Wissenschaftler und leitet das Litauische Energieinstitut. Jahrelang hat er sich dafür stark gemacht, den alten sowjetischen Atommeiler nicht vom Netz zu nehmen, doch vom Bau eines neuen Kraftwerks will Jurgis Vilemas nichts wissen.
Hoch im Kurs steht bei den Partnern aus Estland, Lettland und Litauen zur Zeit der neuartige Druckwasserreaktor, der für 3 Milliarden Euro in Finnland errichtet wird. Entwickelt wurde dieser größte Meiler der Welt von der Firma "Arewa", an der die deutsche "Siemens AG" und die französische "Framatome" beteiligt sind. Es könne überhaupt nicht die Rede von einer gefährdeten Stromversorgung im Baltikum sein, meint Jurgis Vilemas, auch nach der Stilllegung von "Ignalina" in drei Jahren nicht. Dann werde in Litauen ein hochmodernes Kraftwerk reaktiviert, das aus einem Gemisch von Schweröl und Wasser Energie für alle drei baltischen Länder liefern könne.
" Wir haben es hier mit einer sehr starken Lobby der Firma "Arewa" zu tun. Sie hat bei Politikern und Stromproduzenten in allen drei Ländern für ihren neuen Reaktor geworben. Plötzlich wollen alle einen gemeinsamen baltischen Energiemarkt. Und "Arewa" verspricht besonders billige Kilowattstunden. Das sieht natürlich sehr attraktiv aus, vor allem vor dem Hintergrund des rasanten Preisanstiegs für Gas und Öl. Da ist auch die Unabhängigkeit von Russland ein treffendes Argument. Aber was, wenn Gas- und Ölpreis wieder fallen? "Arewa" will nur den finnischen Reaktor bei uns nachbauen, aber für uns ist er viel zu groß und ein finanzielles Risiko. Schwächster Punkt ist allerdings der Atommüll. Es gibt keine gemeinsame Strategie, was mit dem Müll passieren soll."
Um sich in Fragen "Endlagerung" zu beraten, hat der Staatssekretär im litauischen Wirtschaftsministerium, Arturas Dainius, gemeinsam mit seinen Kollegen vom litauischen Energieversorger "Lietuvos Energija" die Internationale Atom Energie Organisation in Wien aufgesucht. Denn bis heute wird der Atommüll des alten "Ignalina" Reaktors im Kraftwerk selbst zwischengelagert. Zwar strahlengeschützt in so genannten Castorbehältern verpackt, bleibt er trotzdem für hunderttausende von Jahren eine tickende Zeitbombe, die gut bewacht werden muss. Große Hoffnungen setzt Arturas Dainius deshalb in die neue amerikanisch-russische Initiative für den Umgang mit atomarem Brennstoff. Seit Anfang des Jahres suchen der amerikanische Präsident George W. Bush und sein Amtskollege Wladimir Putin nach Wegen, um einem nuklearen Terrorismus vorzubeugen. Arturas Dainius:
" Es gibt doch keinen Staat in Europa, der weiß, was er mit seinen genutzten Brennstäben machen soll. Frankreich überlegt Reaktoren zu bauen, die sie verwerten können, und wir denken daran, einen Teil des Brennstoffs zweimal zu nutzen. Neu ist die Idee, Atombrennstäbe zu leasen. Wir bestellen Uran, nutzen es im Atommeiler und schicken es später zum Lieferanten zurück. Natürlich wird das ein finanzielles Problem, weil der Brennstoff sicher doppelt so teuer wird. Aber es ist auch eine Möglichkeit, Kraftwerk und Atommüll nicht aufwendig vor Terroristen schützen zu müssen."
Die Idee eines neuen Atommeilers für das Baltikum wird in den Medien und von der Bevölkerung der drei baltischen Republiken heiß debattiert. Doch trotz mancher Kritik an der gefährlichen Stromerzeugung durch Kernspaltung zeigen sich die Menschen in Litauen, Lettland und Estland den Plänen gegenüber aufgeschlossen.
Frau (litauisch): " Zu Beginn unserer Unabhängigkeit haben wir in Litauen gegen die Atomkraft gekämpft, aber heute denke ich, ohne das Atomkraftwerk werden die drei baltischen Länder nicht überleben."
Mann (lettisch): " Russland ist kein stabiler Partner für uns Letten. Die Russen bauen doch diese Gasleitung mit Deutschland einfach an den baltischen Ländern vorbei. Das ist ein Schlag unter die Gürtellinie. Auf Russland kann man sich einfach nicht verlassen."
Mann (estnisch): " Die Idee gefällt mir. Es ist immer gut, etwas Eigenes zu haben. Mir wäre es allerdings lieber, wenn das Kraftwerk bei uns in Estland, in Narwa, gebaut würde."
In Narwa, ganz in der Nähe der großen Stromkraftwerke, wird auch der Ölschiefer gewonnen. Eine harte Arbeit über und unter Tage, die schon seit Generationen die gesamte Region ernährt. Riesige Lehmwüsten und brachliegende Abraumhalden haben die Landschaft völlig zerstört, aber langsam wird hier und da aufgeforstet und rekultiviert. Schädlich ist nicht nur das Schwefeldioxid, dass heute noch beim Verbrennen des Ölschiefers in die Luft geblasen wird. Giftig sind auch die Rückstände in der Asche, die allmählich ins Grundwasser sickern. Trotzdem beunruhige die Idee eines gemeinsamen baltischen Atomkraftwerkes seine Grubenarbeiter, bemerkt der Vorarbeiter Dmitrij Jokotustschenko. Er hat den Job noch von seinem Großvater übernommen und betrachtet die europäischen Umweltauflagen als große Belastung für Estland.
" Ich habe den Eindruck, dass Brüssel es nicht mag, wenn sich die kleinen Länder selbst mit Energie versorgen können. Unser Ölschiefer würde noch ewig reichen. Aber wir hoffen, dass auch mit dem Bau eines neuen Atomkraftwerks unsere Arbeit nicht eingestellt wird."
Ende des Jahres wird die Machbarkeitsstudie zeigen, ob es tatsächlich einen gemeinsamen Atommeiler im Baltikum geben wird. Aber die Zeichen stehen günstig, da auch Polen Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem neuen baltischen Energiemarkt signalisiert. Vielleicht wird ja dann neben der neuen Stromverbindung nach Finnland eine Vernetzung mit Zentraleuropa erfolgen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um die drei baltischen Länder in den europäischen Energiemarkt zu integrieren.
" Hier wird alles per Computer gesteuert. Und das Schwefeldioxid haben wir auf 10 bis 20 mg reduziert. Mit den alten Brennöfen geht noch immer das Hundertfache in die Luft. Aber dieses Modernisierung hat 250 Millionen Euro gekostet. Für jede weitere fehlt uns das Geld. Darum bin ich sehr besorgt. Irgendetwas muss auf dem estnischen Energiemarkt passieren, sonst wissen wir ab 2016 nicht mehr, woher wir unseren Strom nehmen sollen."
In den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union konnte Estland eine Übergangsperiode für die Stromgewinnung aus dem schmutzigen Ölschiefer aushandeln. Der Brennstoff wird vor Ort über und unter Tage gewonnen und deckt zur Zeit noch nahezu den gesamten Strombedarf. Schon im Sozialismus wurden die zahlreichen Schornsteine im Nordosten des Landes, nahe der russischen Grenze errichtet. Aber Estland hat sich verpflichtet, dass nach dem 31. Dezember 2015 kein giftiges Schwefeldioxid mehr ausgestoßen wird.
Deshalb sucht der staatliche Stromversorger "Eesti Energie" fieberhaft nach neuen Lösungen. Große Hoffnungen haben die Experten bis vor kurzem in den Bau eines umweltfreundlicheren Gaskraftwerkes gesetzt. Dafür allerdings müsse man die Gasimporte drastisch erhöhen, erklärt Tönis Meriste, zuständig für Entwicklungsplanung. Die Erfahrungen des letzten Winters hätten aber gezeigt, dass sogar die Teilnahme an der russisch-deutschen Pipeline keine Lösung für Estland sei.
" Das Gas käme von der falschen Seite, aus Russland. Und Russland wird seine Geschäfte immer mit Politik vermischen. Man kann sich auf Moskau nicht verlassen. Wir haben alle den Druck auf die Ukraine und andere Staaten verfolgen können. Wir hatten keine Lieferprobleme, unser Gaspreis blieb auch niedrig, aber er wird steigen. Außerdem will Russland neuerdings sogar eine Schlüsselposition auf dem europäischen Energiemarkt einnehmen. Das beweist doch, dass die Russen Einfluss nehmen wollen. Deshalb war es mit unserer Euphorie für das Gas schnell vorbei. Alle, die das Gas propagiert hatten, waren plötzlich gewarnt und dachten über neue Möglichkeiten nach."
Die zukünftige Stromversorgung ist ein Problem, das alle drei baltischen Staaten tangiert. Weil der litauische Atommeiler "Ignalina" baugleich mit dem Unglücksreaktor von Tschernobyl ist, muss er bis 2009 abgeschaltet werden. Lettland verfügt nur über Wasserkraft und ist abhängig von Stromlieferungen aus Estland und Litauen. Die Lösung könnte ein gemeinsames Atomkraftwerk für das Baltikum sein. Es soll in Litauen, ganz in der Nähe von "Ignalina" errichtet werden.
Bis Jahresende wollen die Ministerpräsidenten der drei Ostsee-Republiken entscheiden, wie diese zukünftige Stromquelle finanziert werden kann. Einari Kisel ist Staatssekretär im estnischen Wirtschaftsministerium und leitet die Abteilung Energie. Er hat eine neue Energiestrategie für Estland ausgearbeitet und hofft, dass mit dem neuen Atommeiler ein baltischer Energiemarkt entsteht.
" Wir wollen uns bis 2015 selbst versorgen können und nicht mehr abhängig von Russland sein. Denn heute sind die drei baltischen Staaten noch Teil des russischen Stromnetzwerkes aus den siebziger Jahren. Über einen Ring sind wir mit Moskau, St. Petersburg, Weißrussland und der Ukraine verbunden.
Russland will an diesem Netzwerk festhalten, weil es auch den Stromtransit von Moskau nach Kaliningrad garantiert. Wir möchten aber auch gerne mit westlichen Netzen verbunden sein, das wäre eine Garantie unserer Sicherheit. Leider sind Estland, Lettland und Litauen völlig von der EU isoliert. Aber unsere drei Länder arbeiten seit Anfang der neunziger Jahre im Energiesektor eng zusammen. Technisch sind wir in der Lage, uns mit Strom zu beliefern. Und wir haben eine gemeinsame Geschichte, wir waren alle von der Sowjetmacht besetzt und können uns aufeinander verlassen. Das schweißt uns auch für einen gemeinsamen Energiemarkt zusammen."
Knapp 300 Kilometer von Tallinn entfernt wird in der lettischen Hauptstadt Riga das Netzwerk der baltischen Stromkreisläufe gesteuert und kontrolliert.
Eine Schaltzentrale, die zu gleichen Teilen Estland, Lettland und Litauen gehört. Je nach Bedarf, wird von hier per Computer Strom aus den Nachbarländern in das lettische Netz gespeist. Mehr als 40 Prozent seiner Energie müsse Lettland importieren, betont Aivars Kesko, der im staatlichen Energieversorger "Latvernergo" für die Stromproduktion verantwortlich ist.
" Sogar als Lettland noch Sowjetrepublik war, hatten wir zu wenig Strom. Am meisten liefert unser Wasserkraftwerk, ein kleiner Teil wird mit Gas in einer Heizzentrale produziert. Aber was passiert, wenn Litauen und Estland uns nicht mehr beliefern können? Wir sprechen von Diversifizierung, sind dann aber abhängig vom Gas. Wir haben keine Kohle, kein Öl, vor allem Gas. Bis jetzt gibt's keine Probleme mit Russland, aber wer weiß? Und alle wollen billigen Strom haben. Atomkraft ist billig. Wir denken auch an Windenergie oder neue Wasserkraftwerke, aber das reicht nicht und ist viel zu teuer."
Dabei hat Lettland direkt nach seiner Unabhängigkeit 1991 gerade auf den Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzt. Durch Lettland fließt nicht nur die Düna, das Land ist überdies von vielen kleinen Wasseradern durchzogen.
Deshalb regte die lettische Regierung den Ausbau der kleinen Wasserkraftwerke an und bot für jede Kilowattstunde den doppelten Tarif. Mittlerweile sind 149 Kraftwerke in Betrieb, die 2 Prozent des lettischen Strombedarfs decken. Nicht genug, meint Umweltexperte Valdis Bisters. Die kleine Wasserkraft sei völlig überschätzt worden, weil man scharfe Umweltauflagen wie Fischwege nicht bedacht hatte. Valdis Bisters entwirft im lettischen Umweltministerium Strategien für eine rentable Energiepolitik.
" Mit moderner Technologie könnten wir die Produktivität der kleinen Wasserkraftwerke noch um 20 Prozent erhöhen, aber wir sehen unser großes Potential eher in der Bioenergie. Uns fehlen 400 MW im Jahr, allein 100 MW könnte die Biomasse liefern, Holz. Das würde auch Arbeitsplätze und zusätzliche Steuereinnahmen bringen, aber das Thema kommt bei der Regierung nicht auf den Tisch. Alle sprechen jetzt nur von der Atomkraft. Wird der neue Meiler Realität, dann bleibt kein Geld mehr, um den Sektor der erneuerbaren Energien weiter auszubauen."
Anders als seine Nachbarn verfügt Lettland durch die Wasserkraft schon heute über mehr erneuerbare Energien, als Brüssel ab 2010 von allen EU-Mitgliedern verlangt. Auch die Politiker in Estland und Litauen tun sich mit ihrem Engagement für nachwachsende Rohstoffe oder Windenergie noch schwer. Doch nutzen in allen drei baltischen Republiken einige Unternehmen bereits die Biomasse Holz für die Heizung und Warmwasserversorgung von Gebäuden.
Während die Wärmeproduktion aus Holz in Lettland bereits auf Hochtouren läuft, bleibt die Stromgewinnung in Estland und Litauen ohne Unterstützung durch die Regierung noch in den Kinderschuhen stecken.
Auch das lettische Wirtschaftsministerium setzt vor allem auf den Ausbau der nuklearen Energie. Staatssekretär Ugis Sarma äußert die Hoffnung, dass die baltischen Länder mit einem großen Reaktor in Zukunft Überkapazitäten produzieren und an die skandinavischen Nachbarn verkaufen können. Bereits in diesem Herbst wird ein Kabel zwischen Estland und Finnland verlegt, das zum ersten Mal das Stromnetz der baltischen Länder mit dem Westen verbinden wird. Ugis Saarma hofft, dass weitere Schaltungen folgen werden.
" Wir wollen am Stromgeschäft auf dem nordischen Markt teilhaben, das ist das Wichtigste. Vielleicht kann unser Atommeiler aber auch zu einer Renaissance der Atomkraft in Europa führen. In EU-Ländern wie Schweden und Deutschland, da wollen Politiker die Atomkraftwerke schließen. Aber es gibt auch andere Beispiele wie Finnland, das jetzt einen neuen Meiler baut. Und vielleicht können wir das zweite wegweisende Beispiel sein."
Die Richtung sollte vor dreiundzwanzig Jahren auch der Atommeiler "Ignalina" vorgeben: Damals errichtete Moskau in der Sowjetrepublik Litauen die beiden größten Atomreaktoren der UdSSR. "Ignalina" liegt vier Autostunden von Riga entfernt, ganz im Osten des Baltikums, im Dreiländereck zwischen Lettland, Litauen und Weißrussland.
Einst waren auf dem riesigen Gelände vier Reaktoren geplant, doch nach dem Unfall in Tschernobyl wurden die Bauarbeiten an den beiden letzten eingestellt. Da sich die litauische Regierung in Brüssel verpflichtet habe, den Meiler bis 2009 abzuschalten, sei "Ignalina" genau der richtige Ort, um das erste gemeinsame Atomkraftwerk im Baltikum zu errichten. Diesen Standpunkt vertritt jedenfalls Direktor Viktor Shewaldin, der von Anfang an "Ignalina" geleitet hat.
" Wir haben genug Platz, um einen neuen Kernreaktor zu bauen. Die französische Firma "Arewa" hat ein halbes Jahr lang bei uns geologische Untersuchungen durchgeführt. In ihrem Abschlussbericht hat sie der litauischen Regierung geraten, hier einen neuen Meiler zu bauen. Wir verfügen über eine perfekte Infrastruktur, Stromleitungen, gut ausgebildete Leute und eine Stadt, in der man wohnen kann. Das ist günstiger, als einen neuen Standort zu suchen."
Zeitgleich mit "Ignalina" wurde die Kleinstadt Visaginas aus dem Boden gestampft. Wie auf einem Schachbrett haben die Sowjets damals Straßen und Plattenbauten zwischen Birken - und Kiefernwäldchen gesetzt. Am Horizont erheben sich die roten Schornsteine von "Ignalina" wie ein Wahrzeichen über der Stadt.
Besonders hohe Löhne im Atomkraftwerk lockten einst Tausende aus der ehemaligen Sowjetunion mit ihren Familien nach Visaginas. Deshalb zahlt Brüssel für die Stilllegung des Meilers jetzt Zuschüsse in Milliardenhöhe. Mit dem Geld sollen auch neue Wirtschaftsbranchen in Visaginas und Umgebung entstehen.
Wenn Jurgis Vilemas über das Thema "Ignalina" spricht, gerät er leicht in Rage. Jurgis Vilemas ist Wissenschaftler und leitet das Litauische Energieinstitut. Jahrelang hat er sich dafür stark gemacht, den alten sowjetischen Atommeiler nicht vom Netz zu nehmen, doch vom Bau eines neuen Kraftwerks will Jurgis Vilemas nichts wissen.
Hoch im Kurs steht bei den Partnern aus Estland, Lettland und Litauen zur Zeit der neuartige Druckwasserreaktor, der für 3 Milliarden Euro in Finnland errichtet wird. Entwickelt wurde dieser größte Meiler der Welt von der Firma "Arewa", an der die deutsche "Siemens AG" und die französische "Framatome" beteiligt sind. Es könne überhaupt nicht die Rede von einer gefährdeten Stromversorgung im Baltikum sein, meint Jurgis Vilemas, auch nach der Stilllegung von "Ignalina" in drei Jahren nicht. Dann werde in Litauen ein hochmodernes Kraftwerk reaktiviert, das aus einem Gemisch von Schweröl und Wasser Energie für alle drei baltischen Länder liefern könne.
" Wir haben es hier mit einer sehr starken Lobby der Firma "Arewa" zu tun. Sie hat bei Politikern und Stromproduzenten in allen drei Ländern für ihren neuen Reaktor geworben. Plötzlich wollen alle einen gemeinsamen baltischen Energiemarkt. Und "Arewa" verspricht besonders billige Kilowattstunden. Das sieht natürlich sehr attraktiv aus, vor allem vor dem Hintergrund des rasanten Preisanstiegs für Gas und Öl. Da ist auch die Unabhängigkeit von Russland ein treffendes Argument. Aber was, wenn Gas- und Ölpreis wieder fallen? "Arewa" will nur den finnischen Reaktor bei uns nachbauen, aber für uns ist er viel zu groß und ein finanzielles Risiko. Schwächster Punkt ist allerdings der Atommüll. Es gibt keine gemeinsame Strategie, was mit dem Müll passieren soll."
Um sich in Fragen "Endlagerung" zu beraten, hat der Staatssekretär im litauischen Wirtschaftsministerium, Arturas Dainius, gemeinsam mit seinen Kollegen vom litauischen Energieversorger "Lietuvos Energija" die Internationale Atom Energie Organisation in Wien aufgesucht. Denn bis heute wird der Atommüll des alten "Ignalina" Reaktors im Kraftwerk selbst zwischengelagert. Zwar strahlengeschützt in so genannten Castorbehältern verpackt, bleibt er trotzdem für hunderttausende von Jahren eine tickende Zeitbombe, die gut bewacht werden muss. Große Hoffnungen setzt Arturas Dainius deshalb in die neue amerikanisch-russische Initiative für den Umgang mit atomarem Brennstoff. Seit Anfang des Jahres suchen der amerikanische Präsident George W. Bush und sein Amtskollege Wladimir Putin nach Wegen, um einem nuklearen Terrorismus vorzubeugen. Arturas Dainius:
" Es gibt doch keinen Staat in Europa, der weiß, was er mit seinen genutzten Brennstäben machen soll. Frankreich überlegt Reaktoren zu bauen, die sie verwerten können, und wir denken daran, einen Teil des Brennstoffs zweimal zu nutzen. Neu ist die Idee, Atombrennstäbe zu leasen. Wir bestellen Uran, nutzen es im Atommeiler und schicken es später zum Lieferanten zurück. Natürlich wird das ein finanzielles Problem, weil der Brennstoff sicher doppelt so teuer wird. Aber es ist auch eine Möglichkeit, Kraftwerk und Atommüll nicht aufwendig vor Terroristen schützen zu müssen."
Die Idee eines neuen Atommeilers für das Baltikum wird in den Medien und von der Bevölkerung der drei baltischen Republiken heiß debattiert. Doch trotz mancher Kritik an der gefährlichen Stromerzeugung durch Kernspaltung zeigen sich die Menschen in Litauen, Lettland und Estland den Plänen gegenüber aufgeschlossen.
Frau (litauisch): " Zu Beginn unserer Unabhängigkeit haben wir in Litauen gegen die Atomkraft gekämpft, aber heute denke ich, ohne das Atomkraftwerk werden die drei baltischen Länder nicht überleben."
Mann (lettisch): " Russland ist kein stabiler Partner für uns Letten. Die Russen bauen doch diese Gasleitung mit Deutschland einfach an den baltischen Ländern vorbei. Das ist ein Schlag unter die Gürtellinie. Auf Russland kann man sich einfach nicht verlassen."
Mann (estnisch): " Die Idee gefällt mir. Es ist immer gut, etwas Eigenes zu haben. Mir wäre es allerdings lieber, wenn das Kraftwerk bei uns in Estland, in Narwa, gebaut würde."
In Narwa, ganz in der Nähe der großen Stromkraftwerke, wird auch der Ölschiefer gewonnen. Eine harte Arbeit über und unter Tage, die schon seit Generationen die gesamte Region ernährt. Riesige Lehmwüsten und brachliegende Abraumhalden haben die Landschaft völlig zerstört, aber langsam wird hier und da aufgeforstet und rekultiviert. Schädlich ist nicht nur das Schwefeldioxid, dass heute noch beim Verbrennen des Ölschiefers in die Luft geblasen wird. Giftig sind auch die Rückstände in der Asche, die allmählich ins Grundwasser sickern. Trotzdem beunruhige die Idee eines gemeinsamen baltischen Atomkraftwerkes seine Grubenarbeiter, bemerkt der Vorarbeiter Dmitrij Jokotustschenko. Er hat den Job noch von seinem Großvater übernommen und betrachtet die europäischen Umweltauflagen als große Belastung für Estland.
" Ich habe den Eindruck, dass Brüssel es nicht mag, wenn sich die kleinen Länder selbst mit Energie versorgen können. Unser Ölschiefer würde noch ewig reichen. Aber wir hoffen, dass auch mit dem Bau eines neuen Atomkraftwerks unsere Arbeit nicht eingestellt wird."
Ende des Jahres wird die Machbarkeitsstudie zeigen, ob es tatsächlich einen gemeinsamen Atommeiler im Baltikum geben wird. Aber die Zeichen stehen günstig, da auch Polen Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem neuen baltischen Energiemarkt signalisiert. Vielleicht wird ja dann neben der neuen Stromverbindung nach Finnland eine Vernetzung mit Zentraleuropa erfolgen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um die drei baltischen Länder in den europäischen Energiemarkt zu integrieren.