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Ein neuer Händel oder nicht?

Fest steht das Kompositionsdatum: 1706. Ob es sich bei "Germanico" um eine Oper oder nur um eine Serenata handelt, darüber gehen die Expertenmeinungen schon auseinander. Und erst recht darüber, ob das Werk auch tatsächlich Georg Friedrich Händel zuzuschreiben ist.

Von Thomas Migge | 03.08.2011
    Der römische Heerführer Germanicus kehrt in die Hauptstadt des Römischen Reiches zurück. Dort wird er als Sieger empfangen. Die Musik bringt den Triumph zum Ausdruck.

    Die Handlung ist kurios für ein barockes Werk: Es geht nicht um Liebe, Hass und Neid, sondern um eine Huldigung für Germanicus, der den Arminius besiegt hat, und es geht um einen Traum. Germanicus träumt von einem neuen Caesar, der in Nordeuropa ein goldenes Zeitalter anbrechen lässt, das das Erbe des Römischen Reiches antreten wird.

    Die Musik zu dieser Handlung stammt von Georg Friedrich Händel. Entdeckt wurde das Werk erst vor wenigen Jahren. Eine Weltsensation, frohlockt Sony; immerhin handelt es sich bei Händel um einen der am besten erforschten Barockkomponisten. Wiederentdeckt wurde die Komposition von Ottaviano Tenerani, Musiker und Leiter des Ensembles "Il Rossignolo". Er ist auch für die jetzt vorliegende Einspielung verantwortlich:

    "Ich fand die Komposition 2007 im Fondo Pitti des Florentiner Konservatoriums Cherubini. Der Bestandskatalog des Konservatoriums bezeichnet sie als ‚von Signor Händel'. Kurios ist, dass das Stück nicht in Händels Werkverzeichnis auftaucht. Wer also unter dem Namen ‚Händel' sucht, wird dieses Werk nicht finden. Fündig wird man nur, wenn man unter dem Werktitel ‚Germanico' sucht."

    "Germanico" wird von Sony als Oper bezeichnet. Das ist recht hoch gegriffen. Auch Ottaviano Tenerani ist da weitaus vorsichtiger:

    "Es handelt sich eher um eine Serenata. So bezeichnete man im Barock eine Art Kantate, die man bevorzugt im Freien aufführte. ‚Germanico' ist ein Einakter und bietet keine vollständige Handlung wie eine Oper. Nach meinen Studien gehe ich davon aus, dass es sich um ein Auftragswerk handelt, für einen privaten Anlass."

    Für welchen Anlass, ist bisher unbekannt. Fest steht aber das Kompositionsdatum: 1706. In diesem Jahr reiste der junge Händel nach Italien. Somit dürfte es sich im Fall von "Germanico" um das erste, auf ein italienisches Libretto geschriebene Werk des Barockmeisters handeln. Vorausgesetzt, der Autor ist wirklich Händel. Dem CD-Begleitheft zufolge sind Händelexperten wie Donald Burrows aufgrund erster historischer, musikwissenschaftlicher und stilkritischer Aspekte davon überzeugt, dass es sich um ein frühes Werk Händels handeln könnte. Wohlgemerkt: könnte.

    Für den international angesehenen Händelexperten Alan Curtis, Direktor des Ensembles "Complesso Barocco", ist die vermeintliche Weltneuheit "Germanico" nichts anderes als ein Bluff:

    "Hier wird die Aura einer Authentizität erzeugt, die nicht der Wahrheit entspricht. Das alles hat nichts mit Händel zu tun. Zum einen gibt es immer wieder Zuschreibungen, die aus dem Geist der Zeit entstanden sind, ohne der Wahrheit zu entsprechen. Zum anderen hört man schon, dass es sich nicht um Händel handelt, oder aber meine Ohren funktionieren nicht mehr richtig."

    Ja, was nun? Händel oder nicht? Auch wenn die Interpretation der ungemein frisch ist und die Stimmen ausgezeichnet sind: Anscheinend wurde hier nicht wissenschaftlich sauber gearbeitet, mit dem rein kommerziellen Ziel, unbedingt einen vermeintlich neuen Händel auf den Markt zu bringen.