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Ein Philosoph der Kommunikation

Spätestens nach seiner Aufnahme an der Académie française zählt der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Serres zu den ganz Großen seiner Zunft. Für ihn ist ein Umdenken des Menschen gefordert, das sich radikal von der hemmungslosen Ausbeutung der Erde distanziert.

Von Klaus Englert | 30.08.2010
    "Geboren wurde ich 1930. Als ich gerade neun oder zehn Jahre alt war, begann der Krieg. Ich erinnere mich sehr gut an diese Kindheitserinnerungen, denn ich erlebte in dieser Zeit nicht nur den 2. Weltkrieg, sondern auch den vorherigen Krieg, den spanischen Bürgerkrieg. Schließlich waren die Franzosen nach dem 2. Weltkrieg noch in zwei oder drei Kolonialkriege verwickelt, besonders in den Algerien-Krieg und den Indochina-Krieg. Folglich habe ich von meiner ganzen Jugend, ich würde sagen vom 9. bis zum 25. Lebensjahr, die Erinnerung an einen permanenten Krieg."

    Michel Serres, geboren vor 80 Jahren im Südwesten Frankreichs als Sohn eines armen Garonne-Schiffers, wollte zunächst auf die weiten Weltmeere hinausfahren. Mit neunzehn Jahren trat er in die Marine ein und wurde binnen kurzer Zeit zum Offizier befördert. Nachdem er jedoch die Suezkrise miterlebt hatte, beendete er seine Militärlaufbahn. Zurück in Paris entschied er sich für eine wissenschaftliche Karriere als Mathematiker und Philosoph. Rückblickend erkennt Serres, dass sich in der Nachkriegszeit nicht nur die Wissenschaften, sondern auch die ethischen Verantwortungen der Wissenschaftler stark veränderten.

    "( ... ) Als man damals von Atomkrieg oder Atombombe sprach, betraf die Verantwortung die Atomphysik, also eine sehr eingeschränkte Fachrichtung. Heute hat sich die Verantwortlichkeit auf alle Wissenschaften ausgeweitet. ( ... ). Für mich ergibt sich hieraus die Schlussfolgerung, dass ich mich mit all diesen Fragen beschäftige, das heißt, mit jenen Fragen, die durch die Beziehung zwischen dem Wissenschaftler und der Gesellschaft aufgeworfen werden."

    Dieser Haltung ist Serres bis heute treu geblieben. Nach seinem Weggang von Vincennes wechselte er an den Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der Pariser Sorbonne. 1984 folgte die Berufung an die kalifornische Stanford University. Und 1990 wurde er in die erlauchte "Académie française" gewählt – jene Elite-Einrichtung, der die sogenannten "Unsterblichen" der französischen Kultur angehören. Ganz nebenbei ist Serres ein gefragter Gesprächspartner im Kultursender France Culture, wo er des Öfteren wissenschaftliche Erkenntnisse allgemein verständlich erklärt.

    Der Geistes- und Naturwissenschaftler Michel Serres möchte das Verhältnis zwischen Mensch und Natur auf eine neue Grundlage zu stellen. Darin sieht er das Ethos der Wissenschaft. Wie weit wir von diesem Fundament entfernt sind, veranschaulicht er anhand eines berühmten Bildes von Francisco de Goya, das im Vordergrund zwei mit Knüppeln sich bekämpfende Riesen zeigt:

    "Mich hat dieses Bild von Goya sehr interessiert, weil diese beiden Personen, die mit Knüppeln aufeinander einschlagen, sehr durch ihren eigenen Kampf gebannt sind. Sie nehmen nichts anderes wahr als ihren Gegner, seine Waffe und die Position seiner Waffe. Während dieser Augenblicke des Kampfes merken sie nicht, dass der Sand unter ihnen nachgibt, sie merken nicht, dass sie immer tiefer einsinken und schließlich beide sterben müssen. Ich denke, das ist ein außerordentliches Paradigma für die Konkurrenzsituation. Die Handelnden in dieser Situation achten immer nur auf das, was der jeweils andere macht, ( ... ) sie nehmen niemals vollständig die Situation wahr, die außerhalb dieses Kampfes ( ... ) liegt. Mich interessiert an dieser Situation Folgendes: Jedesmal, wenn wir über die politischen Beziehungen zwischen zwei Personen, zwei gesellschaftlichen Klassen, zwei Nationen oder zwei Kontinenten nachdenken, hält man sich immer an den Kampf, der gerade ausgetragen wird. ( ... ) Doch die Bedingungen sind jedes Mal viel gravierender als die Konfliktsituation."

    Michel Serres verlangt, dass die Wissenschaften ihre einseitigen Blickrichtungen aufgeben müssen: die Naturwissenschaften ihren Blick auf eine Welt ohne Menschen, die Humanwissenschaften ihren Blick auf die Menschen ohne Welt. Die harten Wissenschaften ignorieren den Menschen und riskieren die Inhumanität. Die Humanwissenschaften ignorieren die Welt und setzen sich dabei der Unverantwortlichkeit aus. Aus diesem Welt-Verlust erwächst Serres' eindringliche Mahnung: Es wird Zeit, dass der Mensch die Welt nicht einfach als Um-Welt versteht. Dass er sie nicht als seine Welt versteht, die ihm, dem größten Parasiten der Erde, aufgrund eines Herrschafts- und Eigentumsrechts, zusteht. Ein neues Denken ist gefordert, das sich radikal von der hemmungslosen Ausbeutung der Erde distanziert. Ein Denken, das zu einem gleichwertigen, rechtlichen Verhältnis mit der Natur führt.

    "In meinem Buch "Der Naturvertrag" ging es mir darum, den Begriff des Rechtssubjekts zu verallgemeinern. Im Naturvertrag war mir die juristische Problematik wichtiger als die ethische oder moralische. Ich bin von der Vorstellung ausgegangen, dass der Begriff des Rechtssubjekts, der in der klassischen Antike lediglich den Männern, den Erwachsenen und den Reichen zugesprochen wurde, im Verlauf der Geschichte nach und nach auf Menschen übertragen wurde, die diesen Status nicht innehatten. Das heißt, er wurde zunächst auf die Kinder, dann auf die Frauen und später auf die Sklaven ausgeweitet. ( ... ) Schließlich kam er in der Deklaration der Menschenrechte zum Ausdruck, die den Status des Rechtssubjekts auf die ganze Menschheit übertrug. Der Naturvertrag reiht sich ein in diesen geschichtlichen Verlauf. Dies läuft auf die Feststellung hinaus, dass die Gegenstände der Natur ebenfalls Gegenstände des Rechts sind."

    In seinem kürzlich erschienenen Buch "Das eigentliche Übel" spinnt Serres diesen Gedankengang weiter. Darin brandmarkt er die parasitäre Aneignung der Welt, von der Verschmutzung der Umwelt bis hin zum "Tsunami der Zeichen" (Seite 76), der Überflutung des Internets mit banalen, kommerziellen und gefährlichen Inhalten. Serres möchte am liebsten die – wie er sagt - raubtierhafte Aneignung der Welt (Seite 79) durch ihre Enteignung rückgängig machen. Diese Enteignung versteht er, einigermaßen romantisch verklärt, als Symbiose mit der Welt. Während einer Buchvorstellung sprach Serres vom Vorbild evolutionsgeschichtlichen Übergangs vom parasitären zum symbiotischen – liebesfähigen - Stadium:

    "( ... ) Wenn ich von der Entwicklung des menschlichen Säuglings ausgehe und dabei an den "Naturvertrag" denke, stelle ich fest: Verhalten wir uns weiterhin als Parasit gegenüber der Erde, dann berauben wir uns der Möglichkeiten, auf ihr zukünftig leben zu können. Angesichts des Naturvertrags müssten wir zum Symbiotischen gelangen. So wie das Aufziehen des Kleinkindes der Übergang vom parasitären zum symbiotischen Zustand bedeutet."

    Wenn Serres vom Symbiotischen spricht, dann zielt er auf ein neues Denken, eine neue Aufklärung. Seit einigen Jahren nennt er seinen Helden tiers-instruit: Das ist der Gebildete der dritten Dimension, der Mischling zweier Kulturen, der Wissenschaftler und Künstler. Der Rationalist, der allzu gut die Grenzen des Rationalismus kennt. Er weiß, dass die Weisheit gepaart ist mit einer Sensibilität für die Fragilität der Dinge und Menschen.

    Michel Serres fordert die Rückkehr zu einem ganzheitlichen Wissenschaftsverständnis. Nur so seien die drängenden und komplexer gewordenen Probleme unseres Zusammenlebens und unserer Umwelt zu lösen. Wenn wir nicht endgültig damit aufhören, die Welt nur bis zu unserem Horizont wahrzunehmen - folgert Serres -, dann ist das "globale Inferno" unabwendbar. Natürlich ist diese Einsicht nicht neu. Doch die vor nahezu zwanzig Jahren geäußerte Mahnung ist heute drängender denn je.
    Serres' Forderung nach einer "allgemeinen Wissenschaft" ist bis heute nicht eingelöst. Schlimmer noch: Die ethischen Probleme, mit denen uns der wissenschaftliche Fortschritt konfrontiert, werden oft genug gar nicht erkannt. Während Geisteswissenschaftler diese Herausforderungen annehmen, scheinen die Naturwissenschaftler sie zu ignorieren:

    "Die Situation ist noch schlimmer. Es ist richtig, dass sich heute viele Naturwissenschaftler überhaupt nicht den ethischen Problemen stellen. Sie bleiben innerhalb ihres Forschungshorizonts, ohne an einer Diskussion über diese Probleme interessiert zu sein. Andererseits stellen die Philosophen ( ... ) Fragen zur Ethik, doch ihr Wissen reicht nicht aus, um gute Fragen zu stellen. Damit will ich sagen: Die Naturwissenschaftler verstehen nichts von der Philosophie, und die Philosophen verstehen nichts von den Naturwissenschaften. Dies führt dazu, dass zwischen beiden Bereichen ( ... ) Unverständnis herrscht. Doch das Spiel besteht nicht aus zwei, sondern aus drei Figuren. ( ... ) Die zivile Gesellschaft versteht nichts von der Wissenschaft und den ethischen Problemen, weil zwischen der Philosophie und der Naturwissenschaft die Medien stehen. Sie gehen an Probleme heran, ohne Kenntnis von der Geistes- oder Naturwissenschaft. ( ... ) Meiner Ansicht nach besteht heute eine Kluft zwischen der Gesellschaft, der Philosophie, der Wissenschaft und den Medien. ( ... ) Der Ausweg kann nur darin bestehen, dass die wissenschaftliche Information – die gute Information – im Besitz der Philosophen, der Naturwissenschaftler, der Medien und der Öffentlichkeit ist. Erst dann wird jeder genug wissen, um eine Ethik zu formulieren, für die sich alle entscheiden können."

    Und welche Aufgabe hat dann die Philosophie? Michel Serres lässt hier keinen Zweifel aufkommen. Wenn die Philosophie eine Stunde Arbeit lohnt, dann nicht, um Wissen anzusammeln, sondern um neues Wissen hervorzubringen. Was zählt, ist das Bekenntnis zu einer zukunftsoffenen, kreativen Philosophie:

    "Ich wünschte mir, dass die Philosophie kreativ aus Schönheit ist. Nicht nur aus Wahrheit, sondern auch aus Schönheit. Und dass sie dynamisch in der Suche nach den Formen von morgen, in der Schöpfung der Formen von morgen ist. ( ... ) Im Grunde bin ich der Auffassung, dass die Philosophie die Erfindung der Welt von morgen ist. Sie ist die Antizipation des Hauses, in dem die Menschheit morgen wohnen wird. Sie wird natürlich eine Menge lernen, aber vor allem wird sie uns behilflich sein, das gemeinsame Haus zu erfinden, in dem wir in Frieden wohnen werden"



    BIBLIOGRAPHIE

    Michel Serres: Hermes I – V., übers. von Michael Bischoff, Merve Verlag, Berlin 1991-1995, jeweils 35,00 Euro.

    Michel Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, übers. von Horst Brühmann, Suhrkamp, Frankfurt 1998, 1080 S.

    Michel Serres/Nayla Farouki (Hg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften, übers. von Michael und Ulrike Bischoff, Frankfurt a.M. 2001, 1178 S., 50,60 Euro.

    Michel Serres: Der Naturvertrag, übers. von Hans-Horst Henschen, Suhrkamp, Frankfurt 1994, 203 S., 9,00 Euro.

    Michel Serres: Le tiers-instruit, Gallimard, Paris 1992, 249 S., 7,10 Euro.

    Michel Serres: Aufklärungen: Gespräche mit Bruno Latour, übers. von Gustav Roßler, Merve Verlag, Berlin 2008, 260 S., 24,00 Euro.

    Michel Serres: Das eigentliche Übel, übers. von Alexandre Plank und Elisa Barth, Merve Verlag, 95 S., 9,00 Euro.