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Ein Phrasendrescher, wie er im Buche steht

In den 1930er-Jahren war Jewgenij Petrow Kommissar bei der Kriminalpolizei in Odessa. Später schrieb er mit seinem Freund Ilja Ilf für das Feuilleton der Parteizeitung Prawda. Der größte Triumph des Duos blieb aber die Romanfigur Ostap Bender, dessen Sprichwörter in ganz Russland bekannt sind.

Von Uli Hufen | 20.06.2013
    Als ich zu Beginn der 90er Jahre zum Studium nach Sankt Petersburg kam, musste ich mich an allerhand Neues gewöhnen. Wodka, Krimsekt und moldawischen Weißwein kaufte man nicht im Laden, sondern an "Betrunkene Ecke" genannten geheimen Straßenkreuzungen. Meine gleichaltrigen russischen Freunde waren mit Anfang 20 oft schon geschieden. Und wenn mir einer dieser Freunde sagen wollte, dass etwas nicht so war, wie ich es erwartet hatte oder gewohnt war, dann hieß es oft mit einem schlauen Grinsen: "Das ist hier nicht wie in Rio de Janeiro, mein Lieber!" Es dauerte eine Weile, bis ich herausfand, dass der rätselhafte Satz - genau wie unzählige andere in der russischen Umgangssprache - auf einen Mann namens Ostap Bender zurückging, der Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre in der jungen Sowjetunion sein Unwesen als Trickbetrüger getrieben hatte. Nicht in Wirklichkeit allerdings, sondern in zwei Büchern:

    Das erste der beiden hieß "Zwölf Stühle", erschien 1928 und erzählte davon, wie Ostap Bender und einige andere nicht minder exzentrische Gestalten kreuz und quer durch die Sowjetunion einem Schatz nachjagen, der in einem von zwölf Stühlen einer vorrevolutionäreren Esszimmergarnitur versteckt ist. Das Buch traf den Geist der Zeit, der Ära der Neuen Ökonomischen Politik der 20er Jahre, wie kein anderes und machte das junge Autorenduo Ilja Ilf und Jewgenij Petrow auf einen Schlag zu Stars. Ostap Bender allerdings musste sterben.

    "Zwei Zettel kamen in die Zuckerdose, auf einen davon war mit zitternder Hand ein Totenschädel nebst zwei Hühnerknochen gemalt. Dieser Zettel wurde gezogen, und eine halbe Stunde später war der große Kombinator nicht mehr. Ein Rasiermesser hatte ihm die Kehle durchgeschnitten."

    Drei Jahre später ließen Ilf und Petrow Ostap Bender in "Das Goldene Kalb" von den Toten auferstehen. Bender ist jetzt 33 Jahre alt - wie Jesus Christus! - auf dem Kopf trägt er eine weiße Schirmmütze, in der Hand ein Hebammenköfferchen, seine Augen versprühen nachsichtige Neugier. Das zentrale Objekt dieser nachsichtigen Neugier ist dasselbe wie drei Jahre zuvor in "Zwölf Stühle": Ostap Bender braucht Geld: 500.000 Rubel um genau zu sein.

    "Und wo wollen Sie die fünfhunderttausend hernehmen?", fragte Balaganow leise. "Ganz egal", antwortete Ostap. "Zeigen Sie mir einen reichen Mann, dann nehme ich ihm das Geld weg." "Wie? Mord?", fragte Balaganow noch leiser und war einen Blick zu den Nachbartischen, wo die Arbatower einander mit erhobenen Gläsern zuprosteten. "Wissen Sie", sagte Ostap, "Sie hätten die sogenannte Sucharewa-Konvention nicht unterschreiben sollen. Diese geistige Übung scheint sie völlig entkräftet zu haben. Sie verdummen zusehends. Merken Sie sich, Ostap Bender hat noch nie einen umgebracht. Ihn wollte man schon umbringen, das ja. Er selbst jedoch steht sauber da vor dem Gesetz. Natürlich bin ich kein Engel. Ich habe keine Flügel, aber ich achte das Strafgesetzbuch. Das ist eine Schwäche von mir." "Und wie wollen Sie ihm das Geld wegnehmen?" "Wie ich das machen will? Die Wegnahme oder Entführung variiert je nach den Umständen. Ich persönlich verfüge über 400 vergleichsweise ehrliche Methoden der Geldwegnahme. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass es heutzutage keine Reichen gibt. Darin besteht das Furchtbare meiner Situation."

    Ostap Bender ist ein entfernter Nachkomme von Don Quijote, ein früher Vorfahre von Pippi Langstrumpf und ein Erbe des französischen Meisterdiebs Arsene Lupin. Er sieht auf eine Weise gut aus, die Frauen jeden Alters zu schätzen wissen. Er ist ein verständiges Kerlchen, das schnell kapiert, prima lügt und begnadet intrigiert. Er verfügt über reiche Fantasie, Humor und natürlich: erstaunliches Sprachtalent. Kurz gesagt: ein Mann aus Odessa, genau wie seine Erfinder. Russischen Lesern war das nebenbei gesagt ohnehin klar. Allein der Name Ostap Bender, der jüdische, moldawische und ukrainische Untertöne vermengt, weißt unmissverständlich in Richtung der Schwarzmeermetropole, die in Russlands kultureller Mythologie seit zweihundert Jahren ein anarchistisches Paradies der Gauner, Dichter, Scherzbolde und Sänger am Rande des Imperiums verkörpert.

    Recht schnell verlagert sich auch die Handlung von "Das Goldene Kalb" aus dem provinziellen Arbatow nach Odessa, auch wenn Ilf und Petrow ihre Heimatstadt hier Tschernomorsk nennen - auf gut Deutsch: Schwarzmeerstadt. In der Schwarzmeerstadt Odessa verbirgt sich eins der letzten Exemplare jener flüchtigen Gattung, auf deren Jagd Bender spezialisiert ist: Ein Reicher. Der Mann heißt Alexander Korejko und hat mit genialisch krummen Geschäften, die eines Bender würdig wären, ein Vermögen verdient. Doch ein offenes Leben in Saus und Braus ist im sowjetischen Odessa unmöglich. Darum verbirgt Korejko sein Vermögen in einem Bahnhofsschließfach, lebt offiziell von 46 Rubel Buchhalterlohn und wartet geduldig auf den Regimewechsel. Diese Geduld unterscheidet ihn mehr als alles andere von Bender:

    "Fünfhunderttausend vollgewichtige Rubelchen sind mein Minimum, mein Orientierungspunkt. Ich will verreisen, Schura, sehr weit weg, nach Rio de Janeiro."
    "Haben Sie dort Verwandte?", fragte Balaganow.
    "Was denn, sehe ich etwa aus wie einer, der Verwandte hat?"
    "Nein, aber ich..."
    "Ich habe keine Verwandten, Schura, ich bin mutterseelenallein auf der Welt. Ich hatte einen Vater, der war türkischer Untertan und starb vor langer Zeit unter schrecklichen Krämpfen. Darum geht's nicht. Ich will weg von hier. Letztes Jahr sind bei mir ernsthafte Unstimmigkeiten mit der Sowjetmacht entstanden. Sie will den Sozialismus aufbauen, ich will das nicht. Das ist mir zu langweilig.


    Korejko erweist sich als formidabler Gegner für Bender und sein Team, der Kampf um die Million wogt hin und her. Das aber gibt Ilf und Petrow Gelegenheit, das Leben und die Menschen im Odessa der frühen 30er Jahre in allen Einzelheiten satirisch aufzubereiten. Das Essen und die Kleidung, Sitten und Moral, Architektur und Geschäftswelt, die Beamten von Staat und Partei, das Volk der Arbeiter, Bauern und Angestellten, sogar die sowjetische Psychiatrie. Jeder bekommt sein Fett weg und doch ist falsch, wenn es auf dem Cover des Buches heißt, es wirke wie ein Wunder, dass dieses Buch in der Sowjetunion Stalins habe erscheinen dürfen. Erstens erschien das Buch eben schon 1932, zwei Jahre bevor das Dogma des Sozialistischen Realismus verkündet wurde. Zweitens sind Ilfs und Petrows Werke zwar durch und durch respektlos, aber trotzdem in keiner Weise plump anti-sowjetisch. Ilf und Petrow waren nach allem was man weiß in vieler Hinsicht typische jüdische sowjetische Intellektuelle, so seltsam uns das heute erscheinen mag. Die Revolution hatte die antisemitischen Beschränkungen der Zarenzeit hinweggespült.

    Nach 1917 machten Hunderttausende junge Juden in den sowjetischen Metropolen Karriere: als Juristen und Ärzte, als Offiziere und Polizisten, als Maler, Architekten, Lehrer, Wissenschaftler und Schriftsteller. Jewgenij Petrow war von 1920 bis 1923 Komissar der Odessaer Kriminalpolizei. Von 1932 bis zu Ilfs frühem Tod 1937 - Ilf fiel nicht Stalins Säuberungen, sondern der Tuberkulose zum Opfer - schrieb das Duo Feuilletons für die Parteizeitung Prawda, darunter fabelhafte Reisereportagen aus den USA, die auch als Buch erschienen. Doch ihr größter Triumph blieb die Figur des Ostap Bender. Die beiden Bender-Romane wurden in viele Sprachen übersetzt und in Russland, Kuba, Deutschland und den USA verfilmt. In Russland und der Ukraine gibt es mindestens zehn Denkmäler für den großen Kombinator. Doch der wichtigste Beweis für Benders Unsterblichkeit und Ilfs und Petrows Genialität sind seine geflügelten Worte in der russischen Umgangssprache: "Ein Automobil ist kein Luxus, sondern ein Fortbewegungsmittel." "Jetzt muss ich umlernen und Hausmeister werden!", "Bier wird nur an Gewerkschaftsmitglieder ausgeschenkt!" Und vor allem das in Russland jederzeit nützliche: "Das ist hier kein Rio de Janeiro!"


    Ilja Ilf und Jewgenij Petrow: Das Goldene Kalb oder die Jagd nach der Million
    Roman, Übersetzt aus dem Russischen und anhand des erstmals vollständig vorliegenden russischen Originals überarbeitet von Thomas Reschke, Die Andere Bibliothek, 469 Seiten, 38 Euro