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Ein Punkt auf der riesigen Landkarte des GULAG

Es ist eine geradezu unglaubliche Geschichte. Sie erinnert an Dantes Hölle und ist doch alles andere als Fiktion. Sie hat sich abgespielt im 20. Jahrhundert, in einem Staat, der sich nicht weniger als die Beglückung der Menschheit auf die Fahne geschrieben hatte. Und das ist die Geschichte:

Von Klaus Bednarz |
    Im Mai 1933 macht sich ein Konvoi von vier Lastkähnen mit mehr als 5.000 Deportierten von der Stadt Tomsk in Westsibirien auf den Weg nach Norden. Unter den in stickigen Laderäumen wie Vieh zusammengepferchten Menschen viele Alte, Invaliden, Frauen und auch Kinder. Die meisten in Lumpen gehüllt, abgemagert und so entkräftet, dass sie sich nicht auf den Beinen halten können. Nach einigen Tagen werden sie 900 Kilometer nördlich auf einer winzigen, unbewohnten Insel namens Nasino ausgeladen, mitten im mächtigen Flussbett des Ob.

    Der einzige Proviant, ein paar Schaufeln Mehl, wird von den Wachmannschaften auf die nackte Erde gekippt und ist bald mit einer Schneedecke überzogen. Es gibt keine Werkzeuge, die meisten der Deportierten besitzen weder eine Tasse noch einen Becher oder ein anderes Gefäß, um eine Essensration in Empfang zu nehmen. Die Glücklichsten halten ihre Mützen hin oder einen Schuh. Es kommt zu Menschenaufläufen, Schlägereien. Hunger und Kälte fordern täglich neue Opfer. Auf der Insel stapeln sich die Toten. Einige Kriminelle, Verzweifelte und Halbwahnsinnige fangen an, Leichen zu essen, grillen Menschenfleisch. Andere versuchen auf selbstgebastelten Flößen zu fliehen - fast alle ertrinken im eiskalten, reißenden Ob oder werden von den Lagerwachen erschossen. Als die Insel nach fünf Wochen geräumt wird, weil die Situation selbst für die Bewacher unerträglich geworden ist, ist nicht einmal mehr die Hälfte der Deportierten am Leben.

    All die Einzelheiten dieser Tragödie wurden nicht nur von überlebenden Augenzeugen berichtet, sondern finden sich - ein Glücksfall für die historische Forschung - in den Akten der sibirischen GULAG-Verwaltung und der sowjetischen Geheimpolizei OGPU, einem Vorläufer des KGB. Nicolas Werth hat das grausige Geschehen mit Hilfe russischer Historiker rekonstruiert und in den Kontext der Stalinschen Vernichtungspolitik gegenüber dem eigenen Volk gestellt - als Beispiel für die - wie er schreibt - "tödliche Umsetzung einer Utopie, eines gewaltigen Gesellschaftsprojektes."

    Anfang Februar 1933 hatte Genrich Jagoda, der Chef der sowjetischen Geheimpolizei, Josef Stalin einen großangelegten Plan zur Deportation von - wie es hieß - zwei Millionen "antisowjetischen Elementen" aus den Städten und ländlichen Gebieten des europäischen Teils der Sowjetunion nach Westsibirien und Kasachstan unterbreitet. Bereits in den vorangegangenen drei Jahren waren zweieinhalb Millionen sowjetischer Bauern als "Kulaken" nach Sibirien und in den Hohen Norden Russlands deportiert worden. Nun sollte der Kampf um die Festigung des Sowjetsystems in ein neues, umfassenderes Stadium treten, sollten, - wie Jagoda an Stalin schrieb -, "sämtliche Elemente, welche die entstehende Gesellschaft verunreinigen", aus ihren Heimatregionen vertrieben und in die wilden, unbewohnten Regionen des Riesenreiches Sowjetunion verbracht werden. Als sog. "Arbeitssiedler" sollten sie die unwirtlichen und menschenleeren Gebiete östlich des Ural bevölkern und wirtschaftlich erschließen. Stalin billigte Jagodas Plan, nannte ihn "großartig" und versah ihn handschriftlich mit der Bemerkung: "All diese Individuen für die Dauer von zehn Jahren deportieren."

    Ein Teil dieser "Individuen" waren tatsächlich Straffällige, zumeist allerdings jugendliche Kleinkriminelle, die wegen Überfüllung der Gefängnisse in ihren Heimatorten auf die Deportationslisten kamen. Die weitaus größere Gruppe aber waren wahllos Festgenommene, von der Polizei bei Razzien vor allem in Moskau und Leningrad zusammengetrieben und unter den unsinnigsten Anschuldigungen auf den Transport gen Osten gebracht. Schematisch wurden Deportationspläne erstellt und gemäß dem Zahlenkult der sozialistischen Planwirtschaft realisiert - unabhängig von Schuld oder Unschuld der Betroffenen. Aus der Ukraine, so die Planziffer, sollten 150.000 so genannte "deklassiert und sozial schädliche Elemente" deportiert werden, aus Moskau 60.000, aus Leningrad 40.000... Mancherorts deportierte die Geheimpolizei zur problemlosen Erfüllung des Plansolls sogar komplette Altersheime.

    Dass mit diesen "Arbeitssiedlern", die zum größten Teil schon krank und ausgehungert an ihren Bestimmungsorten ankamen, im grausamen Klima Sibiriens, ohne Nahrung, Unterkunft und medizinische Betreuung, an einen "Aufbau des Sozialismus" nicht im Traum zu denken war, dämmerte den politisch Verantwortlichen Sibiriens schon bald nach Bekanntwerden der Tragödie auf der Insel Nasino. Der Zustrom Hunderttausender "Parias der Gesellschaft", so der GULAG-Chef von Westsibirien habe "keinerlei Wert für die wirtschaftliche Nutzung und Erschließung der Region." Er sei vielmehr eine Quelle sozialer Unruhen und Unsicherheit. Ab der zweiten Jahreshälfte 1933 wurden die Massendeportationen zum Zweck der dauerhaften Ansiedlung in Sibirien und Kasachstan gestoppt.

    Wie viele Menschen dem "großartigen" Umsiedlungsplan des Geheimdienstchefs Jagoda und seines obersten Dienstherren Stalin im Jahr 1933 wirklich zum Opfer fielen, lässt sich, so Werth, nicht mehr mit Sicherheit ermitteln. Zu unzuverlässig sind die Statistiken der sowjetischen Geheimdienst- und GULAG-Archive, zu schwierig die Differenzierung zwischen verstorbenen und geflüchteten Deportierten. Doch von den rund 270.000 Menschen, die im Laufe des Jahres 1933 aus dem Westen der Sowjetunion nach Sibirien und Kasachstan deportiert wurden, dürften, das legen Werths Forschungen nahe, rund ein Drittel wie es offiziell heißt "verschwunden" sein - ein Kapitel der europäischen Vertreibungsgeschichte, das bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist - auch in der unlängst in Berlin eröffneten und heftig diskutierten Ausstellung über "Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts", die von der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibung" unter Vorsitz von Erika Steinbach initiiert wurde. Dort kommen die Millionen sowjetischer Vertreibungsopfer gar nicht vor.

    Das Buch von Nicolas Werth erinnert eindrucksvoll und schmerzlich daran, wie groß insgesamt die Flächen sein dürften, die in der Vertreibungsgeschichte des 20. Jahrhunderts noch immer "terra incognita." sind.

    Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag
    Siedler Verlag, Berlin 2006
    224 S., Euro 19,95
    ISBN-10: 3-88680-853-X
    ISBN-13: 978-3-88680-853-3