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Ein randvolles Epos

Dieses Buch ist in mehr als einer Hinsicht eine Überraschung in der literarischen Welt. Erstens: Der 1946 geborene Schweizer Charles Lewinsky ist auf dem deutschen Buchmarkt fast unbekannt, gilt er doch eher als Spezialist für das Leichte. Seit den Achtzigerjahren verfasst er satirische Kurzgeschichten, Theaterstücke und Musicals, Familienserien für das Schweizer Fernsehen und TV-Shows. Für die Transvestiten-Kunstfigur Mary zum Beispiel schreibt Lewinsky seit 1990 die Programme.

Von Beatrix Langner | 14.06.2006
    Zweitens: Lewinsky konfrontiert uns mit einem Thema, das in der Schweizer Geschichte gewöhnlich als Marginalie behandelt wird: das Verhältnis der Schweizer zu "ihren" Juden. Drittens: Sein feiner Humor, die Sicherheit der szenischen Settings, die knappe, aber um so berührendere Zeichnung der Personen machen das Lesen dieses 775-Seiten-Romans zu einem so intensiven Vergnügen, wie man sich lange nicht mehr erinnern kann, es an einem so dicken deutschsprachigen Buch gefunden zu haben. Vielleicht hat sich der Autor selber überrascht. Vor sechs Jahren erschien "Johannistag", eine poetische Dorfnovelle. Kritiker konzedierten ihm daraufhin den Willen zur großen Form. Nun ist sie da, von der Schweizer Kritik begeistert gefeiert, die große Form, der große Roman, "Melnitz".

    Man hätte aber auch, viertens, kaum erwartet, in einem Roman des 21. Jahrhunderts auf jiddische Viehhändler, Schneider und Schächter zu stoßen, die eher an die galizischen Schtetl-Geschichten von Scholem Alejchem oder Bashevis Singer erinnern als an ein Schweizer Dorf 25 km nordwestlich von Zürich. In diesem Dorf Endingen lebten um die Mitte des 19. Jahrhunderts nachweislich etwa eintausendfünfhundert jüdische Einwohner, die Hälfte der Bevölkerung. Einer von ihnen ist Salomon Meijer mit seiner Frau Golde und ihren Töchtern, der stillen Chanele und der kapriziösen Mimi. Eines Tages steht ein abgerissener Soldat vor der Tür und stellt sich als Janki Meijer vor, Sohn eines sehr entfernten Onkel Jossel aus dem Elsass. Damit beginnt ein verzweigtes, an Ereignissen, Zwischen-, Unglücks- und Todesfällen, Heiraten, Taufen und Geschäftseröffnungen randvolles Epos einer jüdischen Schweizer Familie über vier Generationen zwischen 1870 und 1945.

    Die Erzählweise des Romans unterwirft sich konsequent dem Zeitgefühl seiner Personen und nicht etwa der des Lesers. Es ist ein bisschen wie im Kino: Wir sehen, wie sich Salomon schwerfällig von seinem Küchenhocker aufstemmt, wie Golde seinen Gehrock über die Stuhllehne hängt, wir sehen die Schabbeslampe über dem Tisch schaukeln, wir sind beim Seder und beim Pessach-Fest dabei und wie der Brautwerber Janki mit Chanele verkuppelt. Wir erleben eine Schiwe, die siebentägige Trauerwache. Es ist ein Bilderbuch-Judentum, das uns Lewinsky vorführt, doch wenn es allzu gemütlich wird im jüdischen Winkel der Schweiz, lässt er Onkel Melnitz auftauchen, den Wiedergänger, die jüdische Seele, das uralte Gedächtnis des europäischen Judentums. Melnitz erscheint, wenn jemand stirbt, um die andern daran zu erinnern, warum es sie noch gibt. "Vielleicht", sagt Onkel Melnitz, "vielleicht gibt es uns Juden ja überhaupt nur noch, weil wir so viele Feinde haben. Sie sorgen dafür, dass wir nicht vergessen, wer wir sind..."

    Der alltägliche Antisemitismus war in der Schweiz um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht weniger spürbar als anderswo in Europa. Je reicher die Kinder und Enkel von Salomon und Golde werden, um so mehr wird ihr Judentum ihnen zum Schicksal, dem auch durch Übertritt zum Christentum und Änderung des Namens nicht zu entgehen ist. Dieser alltägliche Antisemitismus sickerte in die einfachen Momente des Lebens. Die Schweizer Juden blieben Bürger dritter Klasse, selbst wenn sie, wie Janki Meijer und seine Frau Chanele, aus einem kleinen Stoffgeschäft ein prosperierendes Wirtschaftsunternehmen machten. Sie waren brave Schweizer Bürger, die unter dem Zylinder das Käppchen trugen.

    Indem Lewinsky die Erfolgsgeschichte des jüdischen Kaufhauses Mejer in Baden und später an der Züricher Bahnhofstrasse erzählt, schildert er die Boykotte, die verweigerten Bankkredite, die täglichen Kämpfe um die bürgerliche Anerkennung in den so genannten besseren Kreisen. Wenn er von Mimis später Liebe zu Pinchas Pomeranz, dem Schächter berichtet, wird das politische Schächtverbot von 1896 miterzählt. Wenn er Jankis Schwiegersohn, den Ostjidden Zalman, 1913 nach Galizien zurückfahren lässt, damit er seinen Sohn Ruben vor dem Erschießen rettet, dann sind die antisemitischen Massaker marodierender russischer Truppen mitgemeint. Wenn wir von der Liebe zwischen Desirèe und Jankis Enkel Alfred hören, der als französischer Soldat im ersten Weltkrieg stirbt, dann geht es auch um die neuen Reformgemeinden Zürichs Ende des 19. Jahrhunderts, um die Anfänge der zionistischen Bewegung, um die Gründung der Jüdischen Logen, Turn- und Bildungsvereine, das Hillel-Studentenheim und die Flüchtlingshilfsvereine. Und wenn wir dem Lebensweg von Jankis Sohn Arthur folgen, der 1937 eine Frau aus dem faschistischen Deutschland herausheiratet, als deren Kindern im Jüdischen Kinderheim in Heiden die Abschiebung droht, und wenn er schließlich den deutschen Emigranten, Herrn Grün, auftreten lässt, der im Vorkriegsberlin mit seinem Kompagnon Herrn Blau ein berühmtes Komikerpaar darstellte, dann ist der millionenfache Tod in den Lagern miterzählt, ohne dass darüber auch nur ein Wort fällt. "Guten Tag, Herr Grün. Guten Tag, Herr Blau." Ich habe nie eine bessere Geschichte über den gewöhnlichen Faschismus gelesen als diese bittere kleine Humoreske.

    Nur ganz selten rücken die große und die kleine Geschichte so eng zusammen, dass sich die Figuren ein wenig plakativ der alles in allem versöhnlichen Logik des Romans anschmiegen müssen, vor allem im letzten Teil, als Hillel, der jüngste Meijer, ausgerechnet einen Fröntler - so nannten sich die Schweizer Faschisten - zum besten Schulfreund erwählt und nach einer Saalschlacht mit ihm eine Polizeizelle teilen muss. Lewinsky macht den Schweizern keinen Vorwurf. "Ihre" Juden hatten noch Glück mit ihnen. Er hat alle dramaturgischen Finessen aufgeboten, damit "Melnitz" ein prachtvoll lebendiges Familienbild vor dem Hintergrund schweizerischer Normalität wird und sich als feinfühliger Konservator erwiesen. Er hat mit ethnologischem Blick die innere Abgeschlossenheit der jüdischen Diaspora-Gemeinden gegen ihre Schweizer Umgebung analysiert und in ihrer Umgangssprache porträtiert. Im Phonogrammarchiv der Universität Zürich sind noch Tondokumente dieser verschwundenen Schweizer Minderheitensprache aufbewahrt: das Surbtaler Jiddisch. Und trotzdem. Die kluge Lebenswahrheit dieses jüdischen Familienromans bleibt Metapher, wenn auch vorzüglich gearbeitet. Eine Imitation, zu der das Original verloren gegangen ist; ein Pyrrhussieg der Kunst über die Geschichte.

    Seine Meisterschaft beweist Lewinsky schließlich in der poetischen Schlussapotheose des Romans. Wir sind im Jahr 1943. Die Figuren treten zurück, der Erzähler übergibt seine Stimme an Melnitz, das jüdische Gedächtnis, die jüdische Seele, die immer nur zur Hälfte sich selbst gehört, zur andern Hälfte ihren Feinden. Melnitz hat sich vervielfacht. Es wird zuviel gestorben in Deutschland. Er ist ein Teil der Luft geworden, die die Juden atmen. Weil einer allein gar nicht so viele Geschichten erzählen kann, wie er sagt. Oder, wie es Emanuel Goldfarb ausdrückt, der gern ein " ganz gewöhnliche Jude" von heute wäre: Viel zu viel Geschichte für so wenig Leute. Goldfarb will kein Streicheljude für Philosemiten sein. Aber ob er will oder nicht: auch er ist ein Melnitz. Denn wo es nichts zu vergessen gibt, da gibt es auch nichts zu erzählen.

    Charles Lewinsky: "Melnitz"
    (Nagel Kimche Verlag, Zürich)