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Ein Relikt des Zweiten Weltkriegs

Während und nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden der belgischen Regierung zum Wiederaufbau mehr als 60.000 deutsche Kriegsgefangene zugewiesen. Als es ihnen später frei stand, nach Deutschland zurückzukehren, blieben rund 5.000 von ihnen in Belgien - und fanden eine neue Heimat.

Von Thielko Grieß |
    "Männerstimme: "Also, fangen wir an!"
    "Frauen antworten: Jaha." "

    Joachim Schmidt greift in die Tasten seiner kleinen Orgel, die in seinem Wohnzimmer in einer Ecke steht. Ein schmaler, aber langer Raum, der Platz bietet für zwei Tische hintereinander. An einem Ende liegt eine aufgeschlagene Bibel, davor brennt eine Kerze. Im Raum sitzen sieben Menschen, vier Frauen und drei Männer.

    "Der größte Teil von unserer Gemeinde, die noch leben, das sind ungefähr noch 40 bis 45 Gemeindeglieder, die können überhaupt nicht mehr aus’m Haus. Auch nicht mehr mit Autos ... unser ältestes Gemeindeglied ist 94."

    In Schmidts Wohnhaus, gelegen in einer Arbeitersiedlung in Lüttich, feiern die deutschstämmigen Südbelgier einen Gottesdienst. An einem Samstagvormittag. Ein Prädikant der evangelischen Gemeinde in Brüssel ist angereist, er hält die Predigt.

    Sie sind pragmatisch, die Deutschen im Süden Belgiens. Hier feiern Katholiken und Protestanten gemeinsam die Messe, damit überhaupt noch genügend Menschen zusammenkommen. Nach einer guten Dreiviertelstunde blasen sie die Kerze aus, der Tisch wird abgeräumt und die Bibel beiseite gelegt.

    Joachim Schmidt, der 84-jährige Hausherr, klappt den Deckel der Orgel zu. Die Runde wird nun gemeinsam zu Mittag essen. Die Gemeinde der Südbelgier, erzählt Jochen Schmidt, bedeutet für viele vor allem ein Dach, unter dem sie Deutsche sein können.

    "Von den ganzen Gemeindegliedern, wenn die alle nach Deutschland gegangen wären, dann wären vielleicht, weiß nicht, zehn Prozent weiter zum Gottesdienst gekommen. Aber hier hat halt der Zusammenhalt zwischen den Deutschen gezählt, wir waren ja immerhin in der Fremde."

    Schmidt selbst stammt aus Stollberg im Erzgebirge. Sein Weg nach Lüttich verlief typisch für die deutschen Südbelgier: Schmidt war Wehrmachtssoldat, überlebte die Front und geriet in Kriegsgefangenschaft. Er wurde den belgischen Behörden übergeben – die ihn und Tausende andere in den Kohlebergwerken in der Montanregion in Lüttich und Charleroi einsetzten.

    "Ich hatte das Glück, dass ich hier nach Lüttich kam, denn das war bekannt, dass die Lütticher Region am humansten war."

    Er durfte über Tage arbeiten – andere kamen weniger gut davon, mussten in die Stollen und starben später früh mit der Diagnose Staublunge. Nach 1947 hätte Schmidt zurückgehen können, nach Deutschland. Aber seine Heimat, das Erzgebirge, gehörte inzwischen zur sowjetischen Besatzungszone – dorthin wollte er nicht.

    Die meisten, die blieben, stammen aus dem heutigen Ostdeutschland, andere aus Schlesien oder Ostpreußen. Annie Schloosch ist ihrem Mann, auch einem Kumpel aus dem Memelgebiet, nach Belgien gefolgt. Schwere Jahre waren es, erzählt sie, die als Bauernmädchen im Memelgebiet aufgewachsen war. Allein die Sprache! Französisch!

    "Ja, wie ein ABC-Schütze müssen Sie anfangen. Man muss lesen lernen. Lesen kann ich bis heute nicht richtig. Man muss sprechen lernen. Ach, furchtbar, furchtbar."

    Deshalb suchte sie immer wieder den Kontakt zu den Landsleuten und damit zur Gemeinde.

    "Da freut man sich, wieder unter Deutschen zu sein. Ja, ist wahr."

    "Man gibt ja Namen, das ist zum Beispiel das Haus von den Franzosen. Und wir sind das Haus von den Boches."

    Von den Boches, das war früher ein Schimpfwort für die Deutschen, erinnert sich Beate Schmidt, Tochter von Joachim Schmidt. Sie gehört zur nächsten Generation. Die Frau von Mitte 50 ist mit einem Belgier verheiratet. Gerade steht sie in der Küche und bereitet das Mittagessen für die kleine Gemeinde vor: Tomaten- und Gurkensalat, Aufschnitt und dunkles Brot. Am Gottesdienst hat sie nicht teilgenommen.

    "Ich bin Belgiern, nee: Europäerin! Ich hab immer schon an Europa geglaubt, ob ich jetzt Belgierin bin oder Italienerin oder Deutsche oder Spanierin – das ist eben Europa!"

    Am Mittagstisch sitzt unter all den Deutschen ein einziger Belgier. Als junger Mann war auch Jaques Gheysen Soldat – und hat später eine Deutsche geheiratet. Gemeinsam mit Joachim Schmidt, dem Sachsen, der in Lüttich geblieben ist, sorgt er dafür, dass die südbelgische Gemeinde lebendig bleibt. Er organisiert den monatlichen Gottesdienst.

    "Wenn Herr Schmidt ausfällt, fällt alles aus. Wenn ich ausfalle, fällt auch alles aus. Dann ist es aus. Wenn einer von beiden aufgibt, gibt es nichts mehr."

    Gheysen ist der Jüngste im Raum. Er ist 78.