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Ein Schmuddelmarkt mitten in der Gesellschaft

Die mexikanische Enthüllungsjournalistin Lydia Cacho klagt darüber, dass die sexuelle Vermarktung von Frauen allmählich wieder aus der Schmuddelecke kommt, in die sie die Feministinnen einigermaßen erfolgreich vertrieben hatten, warnt Cacho. "Sklaverei" heißt ihr Buch zu diesem Thema.

Von Daniel Blum | 18.04.2011
    Als ich sieben Jahre alt war, warnte meine Mutter meine Schwester Sonia und mich, wenn wir auf die Straße gingen, wir sollten der Kinderfängerin aus dem Weg gehen. Die Kinderfängerin war eine alte Frau, von der es in der Nachbarschaft hieß, sie entführe Kinder: Sie locke sie mit Süßigkeiten in ihr Haus und verkaufe sie dann an Fremde. Damals kam mir die Geschichte wie ein Schauermärchen von Charles Dickens vor. Doch vier Jahrzehnte nach den Lektionen meiner Kindheit musste ich erfahren, dass dies keineswegs der Fall ist.

    Schreibt Lydia Cacho. Die mexikanische Journalistin erregte 2005 weltweit Aufsehen, als sie mit ihrem ersten Buch "Die Dämonen im Paradies" einen Päderastenring in ihrer Heimat enttarnte: Ein prominenter Unternehmer versorgte, mit Rückendeckung aus Justiz und Politik, Pädophile mit einschlägigen Pornovideos und entführten Kindern. Auch eine kurzzeitige Verhaftung und eine Verleumdungsklage machten Cacho nicht mundtot, ganz im Gegenteil: sie schürten nur ihr Engagement gegen sexuelle Gewalt. Cacho übernahm in Mexiko die Leitung eines Krisenzentrums für misshandelte Frauen und begann zudem, für ein neues Buch zu recherchieren. Im Mittelpunkt ihres Interesses: die Verstrickung der weltweiten Prostitution mit dem internationalen Frauen- und Kinderhandel. Dieses Buch ist kürzlich erschienen: "Sklaverei" heißt es, im Untertitel: "Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel". Die Benennung führt etwas in die Irre, denn die Journalistin behandelt nicht generell die Sklaverei, die es immer noch an vielen Orten der Welt und in den verschiedensten Formen gibt, sondern lediglich einen Ausschnitt: die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Frauen unter massivem Zwang. Für ihre Recherchen hat sie die halbe Welt bereist - und sich nicht gescheut, erhebliche Risiken einzugehen.

    Mein großes Vorbild war der deutsche Investigativ-Journalist Günter Wallraff, den ich vor einigen Jahren in Mexiko kennengelernt habe. Bei meiner Reise durch Zentralasien verkleidete ich mich und nahm verschiedene Identitäten an. Auf diese Weise gelang es mir, in Kambodscha mit einer philippinischen Menschenhändlerin eine Tasse Kaffee zu trinken; in Mexiko in einer Bar mit Hostessen zu tanzen; in Tokio ein Jugendbordell zu besuchen, dessen Besucher aussahen, als wären sie einem Manga-Komik entsprungen.

    Bei vielen ihrer Recherchen und Gesprächen arbeitete Cacho undercover, bei anderen Interviews zeigte sie offen, dass sie Journalistin ist. Die Materialfülle, die sie aus ihren Erlebnissen zieht, ist ebenso beeindruckend wie bedrückend. Die Schilderungen der Opfer, der Verschleppten und Misshandelten, gehen unter die Haut. Ebenso wie die Gespräche mit den Tätern, mit den Menschenhändlern und ihren Kunden, die mit kaltschnäuziger Chuzpe von diesem Geschäft profitieren. Und das ist der Frauen- und Kinderhandel letztlich, wie die Mexikanerin zeigt: es ist ein Geschäft, ein weltweiter Markt, auf dem Bedürfnisse nach sexueller Unterwerfung gegen Zahlung befriedigt werden können. Ein Markt, der schmuddelig ist, aber keineswegs ein Nischendasein führt, wie Cacho schreibt:

    Die Menschenhändler sind keine isolierten Grüppchen, die irgendwo im Untergrund agieren. Wir müssen nicht unter den Steinen nach ihnen suchen, sondern unter Anwälten, unter den Besitzern von Bars, Massagesalons und Restaurants, unter Pornoproduzenten, Kasinobetreibern, Fabrikbesitzern und Hoteliers. Sie alle bezahlen ihre Steuern, und darüber sowie über die Touristen, die es anlockt, bringt das Sexgewerbe dem Staat beste Erträge. Es ist aber auch der Sektor, in dem Drogenhändler und Waffenschieber das meiste Geld waschen.

    Nimmt man nur die Reportagestrecken, ist Lydia Cachos Buch spektakulär: Es belegt nachdrücklich, dass die sexuelle Ausbeutung verschleppter Frauen und Kinder ein Massenphänomen ist, dem Politik und Gesellschaft zu wenig Beachtung schenken. In seinen analytischen Passagen sind Cachos Ausführungen dagegen von wechselhafter Qualität; mitunter schießt sie in ihrem Bemühen, auf ein himmelschreiendes Unrecht aufmerksam zu machen, weit übers Ziel hinaus. Zwei Beispiele von vielen machen dies deutlich: Die Autorin suggeriert, dass europäische Männer, die in Thailand leben, in der Regel per se pädophil seien. Und dass alle Thailänderinnen, die in Europa leben und mit einheimischen Männern verheiratet sind, von diesen als, Zitat, "Sex- und Haussklavinnen" gehalten werden. Letzteres mag gerade für viele thailändische Immigrantinnen, die ohnehin schon über pauschale Vorurteile und unterschwelligen Rassismus klagen, wohl ein Schlag ins Gesicht sein. Lydia Cachos Vereinfachungen sind mitunter Verfälschungen - und bedauerlich, wenn auch verständlich bei der emotionalen Nähe, die die Journalistin zu den Gewaltopfern aufbaute:

    In diesem Buch habe ich versucht, die Dimension des Menschenhandels mit der Objektivität darzustellen, die jemand mitbringen kann, der Hunderte Geschichten von Vergewaltigung, Freiheitsberaubung, Mord, Täuschung, Erniedrigung, Verbrechen und Angst gehört hat. So objektiv ich bei meinen Recherchen vorgegangen bin, meine Wahrnehmung veränderte sich mit jedem Opfer und jedem Täter, der mir seine Geschichte erzählte und mir in die Augen blickte.

    Besonders streitlustig zeigt sich Cacho bei der Frage, ob Frauen auch freiwillig der Prostitution nachgehen können. Nie und nimmer, meint die Autorin, und es ficht sie dabei auch nicht an, dass viele Prostituierte, insbesondere in Europa, vom Staat verlangen, dass ihr Gewerbe legalisiert wird, damit die Frauen aus der Rechtlosigkeit des Rotlichtmilieus herauskommen. Cacho kommentiert:

    Die gesamte Sexbranche wird modernisiert und globalisiert und entwickelt neue Marketingmethoden und einen politisch korrekten Diskurs. Die Mafia spricht von unserer sexuellen Freiheit, während es in Wirklichkeit um die Versklavung und den Konsum von Menschen geht, und sie behauptet, die Frauen träfen freie Entscheidungen, während sie in Wirklichkeit Sklavinnen sind. Die Linke und die postmodernen Feministinnen kaufen ihnen diesen Diskurs ab.

    Auch wenn Lydia Cachos mitunter gesellschaftliche Verwerfungen glättet, um die Not der verschleppten Frauen und Kinder besser verdeutlichen zu können, ist ihr Buch doch allemal eine Lektüre wert. Insbesondere die Reportagepassagen beeindrucken - mit ihrer Anschaulichkeit und Ernsthaftigkeit.

    Lydia Cacho: Sklaverei. Im Inneren des Milliardengeschäfts.
    S.Fischer Verlag , 350 Seiten, 19, 95 Euro.
    ISBN: 978-3-200-10010-8