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Ein Schreckgespenst für Peking

Während die chinesische Regierung in Peking mit allen Mitteln die Religion in Tibet unterdrückt und den Einfluss des Dalai Lama zu ignorieren versucht, stößt der tibetische Buddhismus neuerdings vor allem in Singapur und sogar in der Volksrepublik China auf ein zunehmendes Interesse.

Von Ingrid Norbu | 25.01.2012
    Aus einem Lautsprecher ertönt religiöser Gesang. Gläubige mit Bündeln von Räucherstäbchen bitten Gottheiten um einen guten Geschäftsabschluss oder das Bestehen einer Prüfung. In einem Käfig warten kleine Vögel darauf, gegen eine Spende freigelassen zu werden, um wenig später wieder an den sicheren Futterplatz zurückzufliegen. Rauch steht über einem tonnenförmigen Ofen, in dem nach chinesischer Tradition wertloses Scheingeld verbrannt wird, damit die Ahnen das Familienvermögen schützen. Bunt und laut geht es zu in einem chinesischen Tempel, dessen geschwungene Dächer Drachen schmücken. Mahayana-Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus bilden zusammen das komplexe System der traditionellen chinesischen Religion. Doch viele der Jüngeren wenden sich von den Glaubensformen ihrer Eltern ab und anderen Richtungen zu, beispielsweise dem tibetischen Buddhismus. Aileen Kho ist 41 Jahre alt. Sie arbeitet für eine Agentur, die Arbeitskräfte für die expandierende Wirtschaft Singapurs anwirbt.

    "Ich komme aus einer chinesischen Familie, die stets an Festtagen in den Mahayana Tempel zum Beten gegangen ist, um den Segen der Götter zu erlangen, bis ich den tibetischen Buddhismus entdeckte. Durch ihn machte ich die völlig neue Erfahrung, dass man Buddhismus aktiv praktizieren kann. Warum interessiert mich ausgerechnet der tibetische Buddhismus? Weil nur diese Richtung gewissermaßen garantiert, dass man Erleuchtung innerhalb einer Lebensspanne erreichen kann, natürlich nur soweit man die richtige Praxis vermittelt bekommt. Das war für mich der Pluspunkt."

    Tibetische Mönche aus dem indischen Exil sind regelmäßig zu Gast im Gaden Shartse Dro-Phen Ling Tempel in Singapur. Flackerndes Kerzenlicht erleuchtet Buddhafiguren aus glänzendem Messing, die auf dem Altar stehen. An der Wand hängt neben den Fotos hoher Geistlicher des tibetischen Buddhismus, auch das des Dalai Lama. Jamie Looi:

    "Ein oder zweimal im Jahr besucht unser höchster Lehrer dieses Zentrum, aber wir versuchen auch andere Rinpoches aus Indien, aus Dharamsala, nach Singapur einzuladen. Wir organisieren große Events. Etwa 2000 Menschen besuchen dann für drei Tage die Unterweisungen eines hohen Lamas. Zu normalen Zeiten treffen wir uns dreimal in der Woche im buddhistischen Zentrum und befassen uns mit verschiedenen Themen, wie Meditation, dem Pfad der Befreiung, der Leerheit, in ganz unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen. Wir organisieren aber auch Pilgerreisen nach Indien. Durch diese Aktivitäten sind wir das ganze Jahr über beschäftigt.''"

    Viele jüngere Chinesen in Singapur haben die Verbindung zu China verloren und verstehen weder Mandarin noch Kantonesisch. Den Sutras in den chinesischen Mahayana Tempeln könnten sie nicht folgen. Die aus Indien kommenden tibetischen Lehrer unterrichten in Englisch. Michael Tan, 44 Jahre alt, Makler und Versicherungsvertreter, kommt das sehr entgegen. Die tibetisch-buddhistische Praxis habe sein Leben verändert, sagt Michael Tan.

    ""Früher wurde ich schnell wütend und brauchte lange, bis ich wieder normal reagieren konnte. Nun muss ich immer daran denken, dass ich mein Karma durch solche Aktionen negativ beeinflussen werde. Deshalb versuche ich ganz bewusst, solche Regungen zu unterdrücken."

    Jamie Looi fügt hinzu:

    "Der Dharma vervollständigt unser Leben in vielen Bereichen, denn sonst wären wir wie all die anderen Menschen hier. Die denken nicht darüber nach, was nach dem Tode geschieht. Sie arbeiten, essen, aber spüren keine tieferen Bedürfnisse darüber hinaus. So fühlt man sich leer. Der Dharma dagegen hilft mir, Mitgefühl mit andern zu empfingen. Wir glauben, dass alles was wir tun, sei es Beten, Singen, das Darbieten von Opfergaben oder der Rückzug in Klausur, sich positiv auf ein nächstes Leben auswirkt und wir so allmählich die höchste Stufe, die er Erleuchtung erreichen können."

    Da Singapurs Politiker und Wirtschaftsgrößen gute Kontakte zu Peking pflegen, geraten die Anhänger der tibetischen Richtung des Buddhismus gelegentlich in Widerstreit mit ihrer Stadtstaatsregierung. Aileen Kho:

    "Wir jüngeren Singapurer versuchen Politik und Religion zu trennen. Wir ignorieren, wie das Thema Dalai Lama in China behandelt wird. Einerseits stammen unsere Eltern und Großeltern von dort. Andererseits wollen wir nicht, dass unser Glaube und unsere Gefühle gegenüber der tibetischen Religion beeinträchtigt werden. Aber im letzten Jahr hat unser Außenminister China und Tibet besucht und dort den von China ernannten Panchen Lama getroffen. Das hat vielen Mitgliedern unseres tibetisch-buddhistischen Zirkels in Singapur nicht gefallen und jemand hat dem Außenminister einen Brief geschrieben, weil er nicht sensibel genug mit diesem Thema umgegangen ist. Wir hier glauben an Wiedergeburten, die von hohen Lamas anerkannt werden. Wir glauben an den Dalai Lama. Die chinesische Regierung hat mit den Panchen Lama einen hohen Titelträger eingesetzt, der nicht anerkannt ist. Wir hier in Singapur glauben, dass eine enge Lehrer-Schüler-Beziehung alle hohen Lamas verbindet. Der Glaube an Titelträger, die von Politikern einfach ernannt werden, würde unser Karma negativ beeinflussen und das hätte Folgen für unser nächstes Leben. Deshalb sind wir sehr darauf bedacht, die wahren Lehrer zu finden, die von den Tibetern anerkannt sind und ihre Linie zurück bis zu Sakayamuni Buddha führen können."

    Nicht nur in Singapur, auch bei Chinesen in der Volksrepublik selbst wächst das Interesse am tibetischen Buddhismus. Diese Art der Linientreue ist der kommunistischen Führung in Peking ein Dorn im Auge, weil sie im intensiven religiösen Leben ihrer Bürger eine Art Konkurrenz wittert, zumal deren großzügige Spenden die Klosterkassen in Tibet füllen, mit dem Bumerangeffekt, dass sich Mönche in Tibet weiteren Repressionen der Regierung ausgesetzt sehen. Auch die wohlhabenden Chinesen aus Singapur tragen nicht unerheblich zum Reichtum der tibetischen Exilklöster bei. Jamie Looi:

    "Alle Spenden unserer Mitglieder sind freiwillig. Steht beispielsweise eine Renovierung oder ein Neubau an, sind unsere Sponsoren großzügig und mit Leidenschaft dabei, weil sie wissen, dass unser buddhistisches Zentrum mit seinen Aktivitäten helfen wird, vielen Menschen den Dharma nahe zu bringen."