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Ein Sommer auf dem Lande

In den Sommermonaten sind Russlands Metropolen wie ausgestorben. Die Städter reisen aufs Land und ziehen auf ihre Datscha. Die Neuerungen der postsowjetischen Gesellschaft machen auch vor diesem Symbol der russischen Alltagskultur nicht halt. Neben einfachen Holzhäusern entstehen luxuriöse Kottedschi der reichen Russen. Die Datscha wird mehr und mehr zur Statusfrage.

Von Gesine Dornblüth; Redakteur am Mikrofon: Thilo Kößler |
    Hinaus auf die Datscha - Das Wochenende beginnt im Stau
    Freitagnachmittag in Moskau. Igor Gusarov steht in knielangen Shorts, T-Shirt und Treckingsandalen im Flur seiner Vier-Zimmer-Wohnung. Bevor er ins Wochenende fährt, ruft er bei der Miliz an und aktiviert die Alarmanlage seiner Wohnung.

    "Ich bekomme ein Codewort. Innerhalb einer Minute müssen wir die Wohnung verlassen. Haben wir alles?"

    Während der Wochenenden steigt die Zahl der Wohnungseinbrüche erheblich an.

    Igor Gusarov ist auf dem Weg auf die Datscha. Eine Datscha ist mehr als eine Laube. Eine Datscha ist ein Land- oder Gartenhaus, in dem russische Großstädter die Sommerwochenenden verbringen. Manche Rentner ziehen von Mai bis September hinaus und verbringen den ganzen Sommer auf dem Land. Besonders für die Bewohner des Molochs Moskau ist ein Leben ohne Datscha nicht vorstellbar.

    Igors Datscha liegt etwa 80 Kilometer von Moskau entfernt in einem Dorf und ist ein russisches Holzhaus mit Ofen, Schuppen und Plumpsklo in der hintersten Ecke des Gartens. Igors Frau Marina ist mit den beiden Kindern und einer Freundin schon vorgefahren. Marina ist Innenausstatterin, Igor handelt mit Immobilien. Die Gusarovs zählen zum neuen Moskauer Mittelstand.

    Auf der Rückbank des Kleinwagens liegt ein Karton mit einem aufblasbaren Planschbecken. Es ist heiß. Igor öffnet beide Fenster, aber der Fahrtwind bringt nur wenig Abkühlung.

    "Das ist jetzt eine schlechte Zeit, um loszufahren. Es wird Staus geben. Ohne Staus braucht man eine Stunde, mit Staus anderthalb. In Moskau leben offiziell etwa zehn Millionen Menschen, und mehr als die Hälfte fährt am Wochenende hinaus."

    Und deshalb beginnt ein Wochenende auf der Datscha für die Moskauer meist im Stau oder in überfüllten Bussen und Vorortzügen. Igor biegt auf die Chaussee in Richtung Südwesten ein, die mehrspurige Ausfallstraße ist gesäumt von Hochhaussiedlungen und führt nach Kaluga.

    "In Moskau weht der Wind meist aus Westen oder Nordwesten. Der Smog zieht deshalb nach Osten oder Südosten ab. Deshalb liegen die teuersten und schicksten Datschen, wie zum Beispiel an der Rubljovskoe Chaussee, westlich von Moskau. Dort ist schon der Boden wahnsinnig teuer, der Quadratmeter kostet dort 1000 Dollar, unbebaut."

    Der erste Stau. Noch vor dem Autobahnring stehen die Wagen in Dreierreihen - obwohl es nur zwei Fahrspuren gibt. Der rasant wachsende Wohlstand Moskaus ist am deutlichsten auf den Straßen zu spüren. Nirgendwo fahren so viele Luxuslimousinen. Igor lenkt sein Auto nach rechts und fährt auf dem unbefestigten Seitenstreifen an der Schlange vorbei.

    "Natürlich ist das auch bei uns verboten. Aber willst du etwa in diesem Stau stehen? Wir haben noch viele Staus vor uns. Hält man sich in Deutschland etwa an alle Verkehrsregeln?"

    Bald hinter dem Autobahnring lösen neue Siedlungen die Hochhausviertel ab: Einfamilienhäuser meist aus rotem Klinker, oft etwas zu groß für die Grundstücke, mit kleinen Fenstern und hohen Mauern rundherum: Die so genannten Kottedschi der Neureichen. So nennen sie die gemauerten Eigenheime nach dem Vorbild der britischen Cottages. Dann der nächste Stau.

    "Na gut, stehen wir eben mal ein bisschen. Auf der Kiewer Chaussee ist der Verkehr noch dichter. Sie ist zwar doppelt so breit, aber dort fahren auch viel mehr Autos. Unfälle sieht man eigentlich jeden Tag, und zwar mehrere."

    Einige Zeit und wenige Kilometer später säumt mannshoher Bärenklau mit seinen mächtigen weißen Dolden die Straße. Die Landschaft öffnet sich. Dunkle Wolken stehen am Himmel, es blitzt. Igor biegt von der Fernstraße ab, endlich. Jetzt sind es nur noch wenige Kilometer.

    "Ich erhole mich beim Fahren von der Arbeit. Es erfordert Aufmerksamkeit, und das lenkt die Gedanken ab. Natürlich ist es auch anstrengend. Deshalb muss man sich auf der Datscha unbedingt erst mal ausruhen. Und das ist doch auch eine feine Sache."

    Die russische Datscha hat eine lange Tradition. Die Zaren beschenkten Adlige und höfische Günstlinge mit Grundstücken auf dem Land. In der Sowjetzeit wurde die Datscha zum Massenphänomen. Betriebe vergaben Grundstücke an ihre Arbeiter, Parteiorganisationen an ihre Mitglieder. Die Größe war für jedermann vorgeschrieben: Dem normalen Sowjetbürger standen nicht mehr als 600 Quadratmeter zu. Parteifunktionäre, Wissenschaftler, systemtreue Schriftsteller bekamen die Sahnestücke. Auch der Dichter Boris Pasternak erhielt, bevor er bei den Sowjetherrschern in Ungnade fiel, eine Datscha vom Literaturfonds. Pasternak schrieb dort, baute Gemüse an - und lud seine Cousine Olga Freudenberg immer wieder dorthin ein.

    "Liebe Olja!
    Komm zu uns! Wir werden auf der Datscha biwakieren. Ohne Möbel, aber mit Gemüsegarten. Werden Kartoffeln häufeln, Beete jäten, Würmer vom Kohl lesen. Wirklich, überleg es Dir! Du erholst Dich.
    Beeile Dich, der Sommer geht schon zur Neige. Nur eines zählt: raff Dich auf, komm her.
    Küsse Dich herzlich. Dein Borja"



    Kleinfamilienglück im Grünen - Ein Wochenendhaus auf dem Dorf
    Das Haus von Igor und Marina Gusarov steht am Dorfrand. Es ist frisch gestrichen, dunkelgrün und violett die Holzfassade, die Fensterrahmen leuchten weiß. Den Weg durch den Vorgarten säumen frisch gepflanzte Heidesträucher.

    Der vierjährige Danilo, barfuß und in Latzhosen, läuft seinem Vater entgegen. Seine zwei Jahre ältere Schwester Bogdana steht abwartend auf der Veranda. Sie trägt ein Sommerkleid.

    In der Küche bereiten die Frauen das Abendessen zu. Marina verteilt selbstgemachte Käsecreme auf Tomatenscheiben. Ihre Freundin Jana schneidet Paprika und Radieschen klein. Außerdem gibt es Salzgurken und Bockwurst. Im ganzen Haus riecht es nach Holz und Heu und ein bisschen muffig. Das kommt von dem riesigen gemauerten Ofen, mit dem das Haus im Winter beheizt wird. Alles ist sehr einfach. Nur Marinas gepflegte lange rote Fingernägel passen nicht so recht ins Bild. Ihr Mann Igor gießt Wodka ein: auf das Beisammensein. Die Frauen verdünnen den Wodka mit Saft, Igor spült ihn pur hinunter und beißt danach in ein Stück Speck.

    Die Gusarovs haben das Haus vor einem halben Jahr einer alten Frau abgekauft, die zu ihren Kindern in die Stadt gezogen ist. Die Alte hielt im Winter ihre Ziege im Flur. Igor hat den Verschlag herausreißen und stattdessen eine Treppe auf den ehemaligen Heuboden einbauen lassen. Oben sind nun die Schlafräume.

    "In meiner Kindheit bin ich oft zu Verwandten aufs Dorf gefahren. Kindheitserinnerungen sind die schönsten. Deshalb wollte ich ein Haus mit solchen Gerüchen. Und dann ist so ein Dorf in die Landschaft gewachsen: Die Wege verlaufen nicht gerade, hier fließt ein Flüsschen, die Häuser stehen an dessen Ufer. In klassischen Datschensiedlungen dagegen ist alles streng parallel und rechtwinklig angelegt. Hier ist es interessanter. Und dann gibt es Nachbarn, die das ganze Jahr hier leben, sie haben frische Milch, Sauerrahm und Quark."

    Marina geht hinaus auf die Veranda. Die Kinder drängeln. Ihr Vater möge ihnen doch bitte endlich das neue Planschbecken aufbauen. Ein Gewitter zieht auf. Marina streicht ihrem Sohn über das Haar.

    "Die Kinder finden es schön hier. Sie sind den ganzen Tag an der Luft. Auch im Winter. Dann liegt hier viel Schnee, und wir sind den ganzen Tag damit beschäftigt, ihnen trockene Sachen anzuziehen."

    "Ich komme aus einer kleinen Stadt, aus Kasan an der Wolga. Meine Eltern hatten auch eine Datscha, aber übernachtet haben wir dort nie. Das hat sich nicht gelohnt, wir konnten zu Fuß dort hingehen. Die Zeiten damals waren schwer, und deshalb haben meine Eltern Kartoffeln angepflanzt, für die eigene Küche. Das tun sie heute hoch. Aus Gewohnheit. Dabei braucht heute keiner mehr eigenes Gemüse. Natürlich ist das sehr lecker. Meine Mutter macht fantastische Gurken ein. Sie schickt uns welche. Wir essen sie, wenn Gäste da sind. Aber wir können auch ohne das."

    Igor hat das Planschbecken aufgepumpt und den Gartenschlauch hineingelegt. Das Wasser kommt aus einem Brunnen. Den haben die Gusarovs bohren lassen, um nicht, wie die vorige Bewohnerin, mit Eimern zum Fluss gehen zu müssen.

    Die Mücken beginnen zu stechen. Im Plumpsklo am Zaun geht eine Lampe an. Danilo klettert in den Apfelbaum. Er will die Äpfel zeigen. Seine Schwester guckt ihm von unten zu. Der Baum trägt gut in diesem Jahr. Danilo klettert höher und höher. Die Früchte sind noch klein und grün und in der Dämmerung kaum vom Laub zu unterscheiden.

    "Haben Sie die Äpfel gesehen? Wenn Sie sie gesehen haben, dann kann ich ja wieder runterkommen. Aber morgen Abend, wenn die Äpfel größer geworden sind, dann zeige ich sie Ihnen wieder."

    Marina lächelt. Sie steht mit ihrer Freundin auf der Veranda. Die beiden kauen geröstete Sonnenblumenkerne und rauchen.

    "Wir werden das Haus nicht ewig behalten. Wenn wir Geld haben, kaufen wir uns etwas, das näher an Moskau liegt, etwas Zivilisierteres, mit Toilette und heißem Wasser. Das fehlt hier nämlich sehr. Eine Toilette."

    Jana, die Freundin, nickt. Sie hat keine eigene Datscha.

    "Wenn Igor und Marina nichts dagegen haben, dann kaufe ich ihnen, sobald ich Geld habe, das Stück Brachland hinter dem Zaun ab und baue dort meine eigene Datscha. Natürlich gibt es Stadtmenschen, die mit dem Leben auf der Datscha nichts anfangen können. Aber ich gehöre nicht dazu. Ich hätte sehr gern eine Datscha. Ich brauche Ruhe und Erholung von dieser rasenden Zeit. Die Stadt frisst einen auf, die ist wie ein Vampir.

    Heute haben Marina und ich Blumen gepflanzt. Wir wissen beide nicht, wie das geht, aber es hat einen Riesenspaß gemacht. Wir haben das einfach mal ausprobiert."

    "Liebe Oljuschka!
    Hauptsache, Du hast diesen frohen Entschluss getroffen, komme, wann Du magst - meinetwegen morgen! Am besten wäre für dich Juli, dann sind auch Schura und Irina auf der Datscha. Über Deine zwei, drei Tage, das heißt über Deine Aufenthaltsdauer, reden wir, wenn Du hier bist. Für alle Fälle die Adresse der Datscha: Kiewer Bahnlinie, Station Peredelkino (bei Kilometer 18), Schriftstellersiedlung, Datscha 3, Pasternak. Wenn ich keine Zeit habe, soll Schura Dich abholen."


    Peredelkino (Teil 1) - Gartenarbeit als Quelle für Poesie
    Nur wenige Kilometer von Moskaus Stadtrand entfernt liegt Peredelkino. Ende der 30er Jahre erhielten die Schriftsteller der Sowjetunion hier auf Geheiß Stalins komfortable Häuschen. Die Literaten sollten in ruhiger Umgebung systemtreue Werke schaffen. Zugleich waren sie in der abgegrenzten Kolonie besser zu überwachen.

    Heute hat auch in Peredelkino der Kapitalismus Einzug gehalten. Neben den alten Holzhäusern entstehen moderne Bungalows und mehrstöckige Wohnklötze. Meterhohe Bretterzäune und dicke Mauern schützen die Anwesen vor neugierigen Blicken. Reklameschilder werben für Automatiktore, Alarmanlagen, Internetanschlüsse.

    Am Rand der Siedlung, auf einem der wenigen lichten und einsehbaren Grundstücke, steht die Datscha des Literaturnobelpreisträgers Boris Pasternak. Heute ist sie ein Museum. Unter hohen Bäumen sitzt eine zierliche Frau. Sie trägt ein tailliertes Sommerkleid und eine Perlenkette. Ihr Füße stecken in weißen Sandaletten. Svetlana Kuzmina ist Schauspielerin und führt donnerstags bis sonntags Besucher durch das Haus. Die Datscha Pasternaks sei eine Art Pilgerstätte und Heiligtum, erzählt sie. Und das ist es offenbar auch für sie selbst. Pasternak nennt sie ehrfürchtig Boris Leonidovitsch.

    "An diesem Ort hat sich trotz allem etwas Wahrhaftiges erhalten. Nicht nur unser Körper braucht Nahrung, sondern auch unsere Seele. Hier erhalten die Menschen Denkanstöße und Inspiration. Dank der Poesie Pasternaks beginnen sie, darüber nachzudenken, wie die Welt erschaffen ist. Unsere besten Dichter suchen hier Inspiration und Segen. Junge Leute kommen hierher wie in eine Kathedrale."

    Pasternak hatte von seinem Schreibtisch aus freien Blick auf ein Feld. Das ist heute hinter einem Bauzaun verborgen. Bagger fressen sich durch den Boden. Auf dem Gelände sollen Kottedschi entstehen, wie überall. Sie hätten versucht, das zu verhindern, um die Harmonie des Ortes zu erhalten, erzählt Svetlana Kuzmina und fährt sich über die Stirn. Aber die kommerziellen Interessen hätten gesiegt. Die Schauspielerin wendet sich dem Garten zu. Weißkohlköpfe spreizen ihre kräftigen Blätter. Kartoffelpflanzen blühen.

    "Den Gemüsegarten bestellen wir bis heute. Boris Leonidovitsch hat Kartoffeln, Gurken, Zucchini gepflanzt, so wie wir jetzt. Er hatte auch Erdbeeren. Vor kurzem waren Besucher hier, ältere Leute, die haben erzählt, dass sie als kleine Jungs manchmal hier im Garten waren, weil Boris Leonidovitsch so leckere süße Erdbeeren hatte, und dass er so getan hat, als würde er nicht sehen, wie sie seine Erdbeeren stibitzten.

    Hier haben wir noch Möhren und Salat, Dill, Zwiebeln, Knoblauch und Petersilie. Pasternak hat auch Obstbäume gepflanzt, Apfelbäume zum Beispiel, Kirschen. Das, was damals üblich war und bei uns am besten wächst."

    Die Datscha des Dichters, eine zweistöckige Villa aus Holz, ist hell und freundlich. Die Räume sind aufgeräumt und blitzblank geputzt. Im Wintergarten wachsen Grünpflanzen. Teegeschirr steht auf dem Tisch. Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt den Dichter auf dem Acker vor seiner Datscha. Hemdsärmlig und in Gummistiefeln stützt er sich auf einen Spaten.

    "An diesem Tisch hat Pasternak vor allem im Sommer gesessen, denn der Wintergarten wurde nicht beheizt. In dem gebrochenen Licht herrschte eine sehr kreative Atmosphäre, und man blickt von hier in den Garten. Die Arbeit im Garten bereitete Pasternak große Freude und Befriedigung, und sie verlieh ihm positive Energie für seine Poesie."

    Svetlana Kuzmina stellt ein Bein vor und hebt den rechten Zeigefinger. Ihr Körper strafft sich, die braunen Augen blicken in die Ferne.

    "Das Gedicht 'Juli' ist diesem Haus gewidmet:"

    ""Juli

    Im Hause ist es nicht geheuer.
    Den ganzen Tag tappt's oben rum.
    Es huschen Schatten durch die Scheuer.
    Im Hause geht der Hausgeist um.

    Taucht ständig auf am falschen Platze,
    Hat sich in alles eingemischt,
    Schleicht sich im Schlafrock zur Matratze
    Und zerrt das Tischtuch uns vom Tisch.

    Putzt sich die Schuh nicht ab am Tore,
    Stürmt mit dem Durchzug rein im Lauf
    Und schwingt sich tanzend, mit dem Store
    Als Dame, bis zur Decke rauf.

    Wer ist's nur, der so täppisch geistert,
    Wer ist der Wiedergänger-Spuk?
    Ja, das ist unser Zugereister,
    Ist unser Sommerhaus-Besuch.

    Das ganze Haus ist ihm vermietet
    Für seine kurze Ferienfrist.
    Der Julihauch, der Donner brütet,
    Zu Gast in unsern Zimmern ist.

    Der Juli, der am Anzug immer
    Hat Kletten, Pusteblumenflaus,
    Der durch das Fenster steigt ins Zimmer,
    Der alles lauthals prahlt heraus.

    Der ungekämmte Steppenbengel,
    Der riecht nach Heu- und Lindenduft,
    Nach Dill und Rote-Bete-Stengel -
    Es ist die Juliwiesenluft.""


    "Dieses Gedicht hat er hier auf der Datscha geschrieben."

    Eine Frau kommt dazu, lässt sich auf einen der Korbsessel sinken: Die Hausherrin, Natalia Pasternak, die Schwiegertochter des Dichters. Sie wohnt im kleineren Gartenhaus neben der Datscha. 1962, zwei Jahre nach dem Tod des Nobelpreisträgers, zog dessen Sohn mit ihr hier ein. Das Museum durften sie erst 1990, zum 100. Geburtstag des Dichters, eröffnen. Natalia Pasternak fährt sich über das dichte, lockige Haar.

    "Pasternak war süchtig nach Arbeit, er hat sehr viel gearbeitet. Draußen an der Pumpe hat er seinen Kopf mit kaltem Wasser gewaschen, bis zum ersten Schnee. Er liebte das einfache Leben, schlichte Möbel, geistige und körperliche Arbeit. Und er war ein gütiger Mensch. Er hat vielen Menschen geholfen."

    Seine Schwiegertochter dagegen sorgt dafür, dass das Andenken des Dichters Geld einbringt. Nichts geht hier ohne Bezahlung. Kamerateams zahlen 100 Dollar für Aufnahmen.

    "Alles verändert sich. Jetzt werden hier große Häuser gebaut. Hinter unserem Grundstück stehen bereits welche. Vor uns auf dem Feld beginnen sie gerade mit dem Bau. Aber dieser Prozess ist wohl unausweichlich. Womit das alles endet, weiß keiner."


    Peredelkino (Teil 2) - Das Ende eines Mythos
    Ein Viertelstunde Fußmarsch von Pasternaks Datscha entfernt, am anderen Ende von Peredelkino, geht die Rentnerin Alexandra Zhuravleva durch das hohe Gras in ihrem Garten. Sie trägt eine bequeme wadenlange Hose mit vielen Taschen. Ihre Füße stecken in Gummigaloschen. 72 Jahre ist Alexandra Zhuravleva alt. Sie wohnt schon länger als 50 Jahre in der Schriftstellersiedlung, aber Pasternak hat sie niemals getroffen.

    "Damals war ja alles verboten. Und wir waren ja provinziell gegenüber den Städtern. Wir wussten gar nicht, wer hier wohnt. Ein paar Namen kursierten hier: Rozhdestvenskij, Evtuschenko. Aber von Pasternak wusste ich nichts."

    Sie fährt sich über das gewellte weiße Haar. Alexandra Zhuravleva stammt aus einfachen Verhältnissen. Die Datscha, ein Holzhaus mit zwei Stockwerken, gehörte ihrer Schwiegermutter, die einen einflussreichen Kommunisten in der Verwandtschaft hatte. Als Alexandra Zhuravleva in die Familie einheiratete, bekam das junge Paar hier ein eigenes Zimmer. Über die Jahre haben sie das Sommerhaus ausgebaut, haben Wasser, Strom und sogar einen Telefonschluss gelegt. Eine Hälfte des Häuschens ist für mehrere hundert Euro im Monat vermietet. Das bringt Alexandra Zhuravleva ein hübsches Zubrot zur Rente. Mittlerweile besitzt sie zwar auch eine Stadtwohnung; die Rentnerin zieht das Leben in der ruhigen Waldsiedlung aber vor. Trotz der Veränderungen, die auch vor Peredelkino nicht halt machen.

    "Ich glaube nicht, dass Peredelkino jetzt noch eine besonders vergeistigter Ort ist. Früher war er das. Da traf sich hier die Elite. Das 'Haus des Schaffens' hat für die Schriftsteller die Straßen in Ordnung gehalten. Jetzt ist jeder Hauseigentümer für den Abschnitt vor seinem Grundstück selbst verantwortlich und muss die Reparaturen aus eigener Tasche bezahlen."

    Die Straßen seien viel schlechter geworden.

    "Heute weiß doch niemand, wer hier hinter dem Zaun sitzt: ob das ein Bandit ist oder ein Intellektueller, ob er jemals in seinem Leben im Kino war oder ein Buch gelesen hat."

    Im Schatten unter dem Apfelbaum stehen vier Plastikstühle. Alexandra Zhuravleva wischt mit einem Lappen über die Sitzflächen und bittet, Platz zu nehmen. Etwas verstohlen blickt sie zum Nachbargrundstück hinüber. Ein zweistöckiger Neubau aus gelbem Klinker, rundherum gemähter Rasen. Die Kinder aalen sich in der Sonne, während ihre Mutter Laub aus dem Pool fischt. Ab und zu schlägt der Schäferhund an. Die Nachbarn sind erst vor kurzem eingezogen.

    "Früher wurden die Grundstücke weitergegeben. Da gab es Wartelisten. Jetzt werden die Grundstücke verkauft. Und wer am meisten Geld hat, bekommt es.

    Früher haben sich die Nachbarn gegenseitig besucht und Setzlinge ausgetauscht. Jetzt stehen überall Zäune. Und keiner geht zu dem anderen hinüber. Wenn es unausweichlich ist, dann ruft man vorher an und fragt, ob man rüberkommen darf. Bei allen sind die Pforten geschlossen.

    Und keiner von unseren Nachbarn hat Erdbeeren, keiner hat Petersilie. Die haben nichts außer Asphalt, Wege und Rasen."

    Alexandra Zhuravleva dagegen gärtnert aus Leidenschaft. Sie steht auf und geht ein paar Schritte hinüber zu einem Gewächshaus, das sie aus alten Fenstern und Folie zusammengezimmert hat.

    "Hier habe ich Tomaten. Das ist eine besondere Sorte, die heißt Stierherz. Schauen Sie, die Früchte sehen aus wie Herzen. Die werden ganz fleischig und lecker. Und dahinten wächst Paprika. Eine habe ich schon geerntet und damit Salat verziert."

    In Zeiten der Mangelwirtschaft baute fast jeder Datschenbesitzer Kartoffeln, Zwiebeln und andere Grundnahrungsmittel an. Die Ernte der Hobbygärtner hatte zeitweise erheblichen Anteil an der Lebensmittelversorgung der Sowjetunion. Auch Alexandra Zhuravleva schuftete in jeder freien Minute im Garten - zusätzlich zu ihrer Arbeit als Eisenbahnerin in Moskau.

    "Wir hatten ein großes Feld mit Sonnenblumen und eins mit Erdbeeren. Die haben wir körbeweise nach Moskau auf den Markt getragen. Das Kilo brachte 90 Kopeken. Aber es kostete 60 Kopeken, den Stand und eine Waage zu bekommen. Zucker kostete 90 Kopeken. Wir haben fünf, sechs Kilo Erdbeeren hingeschleppt und für den Erlös Zucker gekauft, um uns selbst Marmelade zu kochen. Finanzieren konnten wir uns von dem Garten nicht. Wir mussten ja auch noch Kohle kaufen. Früher hatten wir keine Holzheizung. Und eine Lieferung Kohle kostete 80 Rubel. Wieviel Erdbeeren hätten wir dafür verkaufen müssen?"

    Alexandra Zhuravleva fährt sich mich dem Handrücken über die Stirn. Ihre Fingernägel sind schwarz, die Hände voller Schwielen.

    "Die Stachelbeeren werde ich in zwei Tagen ernten und daraus Zarenmarmelade kochen. Das ist eine Teufelsarbeit. Schauen Sie sich bloß mal meine Fingernägel an! Ich verstecke schon immer meine Hände. Aber was soll es. Mit Handschuhen geht das nicht."

    Schnell verschränkt Alexandra Zhuravleva ihre Hände hinter dem Rücken. Ihr Garten mit der Datscha in Peredelkino ist ein Vermögen wert. Sie könnte das Grundstück für mehrere hunderttausend Euro verkaufen wie die Nachbarn. Doch das kommt der Rentnerin nicht in den Sinn.

    "Das Geld von heute kann morgen nichts mehr wert sein.
    Ich habe schon mal gespart. Als ich in Rente ging, hatte ich 3000 Rubel auf der Bank. Damals hätte ich mir davon ein halbes Auto kaufen können. Nach der Rubelentwertung 1998 war mehr als ein Drittel des Geldes weg, und heute kann man dafür gar nichts mehr kaufen.

    Ich behalte das Grundstück zur Sicherheit. Meine Enkeltochter wird bald mit der Schule fertig sein. Sie geht jetzt in die neunte Klasse. Eine Ausbildung kostet Geld. Mit unseren Mieteinnahmen können wir zum Beispiel Studiengebühren bezahlen. Das ist uns lieber, als eine große Summe Geld auf einmal. Außerdem schläft man ruhiger. Sonst kommt noch einer und bringt dich um wegen des Geldes. Ist doch so."

    "Liebe Olja!
    Wie geht es Dir, was macht Deine Gesundheit? Schade, dass Du nicht gekommen bist. Schura und Irina waren da, Sinas Sohn mit seiner Frau, Schenja kam, Nina Tabidse war zu Gast, viele Leute, Du hättest Dich wohl gefühlt und nicht gelangweilt. Ljonja und Sina hätten Dir Glücksspiele beigebracht.
    Hier ist es schön. Wahrscheinlich übersiedele ich auch bald in die Stadt. Wir buddeln die Kartoffeln aus, dann ziehe ich.
    Küsse Dich. Dein B."''
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    Mit Geld geht alles - Bauen - keine unendliche Geschichte mehr
    Eine Datschensiedlung in der Nähe der Kleinstadt Tschechow, etwa 70 Kilometer von Moskau. Schnurgerade Wege auf ehemals freiem Feld, einfache neue Holzhäuser, wenige junge Bäume. Igor Andreev steht in Polohemd und Shorts auf einem Plastikstuhl und repariert das Gestänge seines Gartenpavillons. Es hat erneut gewittert, und die dünnen Zeltstangen haben den Böen nicht standgehalten. Sorgfältig schient Igor Andreev das geborstene Metall mit Holzlatten, umwickelt diese mit Kreppband und dann noch mit Schnur. Sein Sohn Andrej und dessen Freund Oleg stehen, jeder mit einem Glas Bier in der Hand, daneben und kommentieren die Reparaturarbeiten. Der Enkel planscht in einem Plastikbecken. Das werde sowieso nur bis zum nächsten Windstoß halten, scherzen die jungen Männer. Ein Billigprodukt aus China eben.

    Igor Andreev hat sich gerade eine Datscha gebaut - oder besser: bauen lassen: Zwei Stockwerke aus Holz, mit dicken Stämmen und Moos dazwischen zum Isolieren. Fünf Zimmer, Küche, eine geräumige Veranda, Dusche und WC. Igor Andreev arbeitet für ein Online-Unternehmen und ist beruflich stark eingebunden. Bauarbeiter sind in Russland billig. Sie kommen aus den angrenzenden GUS-Staaten und arbeiten meist schwarz, für höchstens zwanzig Euro am Tag. In ihrer Heimat, in Tadschikistan oder der Republik Moldau etwa, ist das viel Geld, in Moskau sind 20 Euro wenig. Viele Hauptstädter kaufen die Grundstücke von Nachbarn dazu, um immer größere Datschen zu errichten, die auch im Winter bewohnbar sind.

    ""Es gibt nur noch wenig Leute, die selbst bauen. Ich müsste dafür mehrere Monate Urlaub nehmen, und das geht nicht. Wenn du nur die Wochenenden hast, brauchst du zehn Jahre. Wir wollten unsere Datscha aber so schnell wie möglich nutzen."

    Die Datscha ist zum Prestige-Objekt geworden, jeder baut nach seinen Möglichkeiten. Igor Andreev steigt vom Stuhl. Der Pavillon wackelt, aber er hält erst mal. Karina Andreeva bringt Kaffee und Konfekt. Das Ehepaar hat fast jedes Wochenende Besuch, von den Kindern oder von Freunden. Der Enkelsohn stürzt sich auf die Bonbons.

    Noch etwas hat den Bauboom in den Datschensiedlungen um Moskau vorangetrieben: Die russische Regierung hat vor einiger Zeit ein Gesetz verabschiedet, das es den Laubenbesitzern erleichtert, ihr Grundstück mit allen Gebäuden zu privatisieren. Dann sind sie erstmals offiziell im Grundbuch eingetragen. Das Verfahren kostet zwar immer noch Zeit und Nerven, aber es funktioniert.

    "Als wir mit dem Bau begonnen haben, standen auf dem ganzen Feld zwei Häuser. Das große da am Waldrand, und das da hinten. All die anderen Häuser sind in den letzten Jahren gebaut worden. Die schießen wie die Pilze aus dem Boden."

    Karina Andreeva räumt die Bonbons wieder weg.
    Igor Andreev bringt das Werkzeug ins Haus und gönnt sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

    "Das größte Problem ist, gute Arbeiter zu finden, die billig sind, aber trotzdem etwas können. Denn bei sehr vielen Brigaden aus der Ukraine oder Weißrussland weiß nur einer von sechs Leuten, was er tut. Aber sie behaupten, sie könnten alles. Oft ist die Qualität sehr schlecht. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Trupps hier gearbeitet haben. Fünf oder sechs waren es bestimmt. Und es gab sehr große Probleme. Zum Beispiel hatten wir einen Ofensetzer aus Weißrussland. Einen sehr guten Burschen, aber leider Alkoholiker. Als wir den Ofen in Betrieb genommen haben, den er uns gebaut hat, ist uns fast das Haus abgebrannt."

    Das war Neujahr, bei der Einweihungsfeier, mit 15 Gästen. Igor Andreev fasst sich an den Kopf bei der Erinnerung daran. Nein, zu bauen sei keine Freude.

    "Wir mussten uns Geld leihen. Dann hatten wir damit zu tun, es rechtzeitig zurückzuzahlen. Das ist nicht einfach. Vieles konnten wir uns erst nach und nach leisten. Strom haben wir erst seit diesem Frühjahr. Vorher haben wir hier bei Kerosinlampen und Kerzen gesessen. Aber es war trotzdem schön."

    Nur, dass er warmes Bier habe trinken müssen, das sei hart gewesen. Karina Andreeva nimmt sich ein Glas Tee und setzt sich auf den Diwan auf der Veranda. Hier ist es angenehm kühl. Ein leichter Wind weht durch die geöffneten Fenster und verfängt sich in den roten Stores. Trockensträuße hängen an den Holzwänden und über der Tür ein Hufeisen. In der Sowjetunion war es schwer, Baumaterial zu beschaffen. Ein Sowjetbürger habe in seinem Leben nur 5000 Ziegelsteine kaufen dürfen, erzählt Igor Andreev. So wollten die Kommunisten jede Form von bürgerlichem Großgrundbesitz im Keim ersticken. Heute gibt es diese Probleme nicht mehr. Fünf Jahre hat es gedauert, bis die Datscha der Andreevs schließlich fertig war.

    "Mein Traum hat sich erfüllt. Und ich wollte immer schon eine echte Datscha, kein Kottedsch aus Stein, sondern ein Holzhaus, mit Veranda und Wiese drum herum. Jetzt müssen nur noch Bäume wachsen, unter denen wir im Schatten sitzen können."

    Auf eine Urlaubsreise möchte sie deshalb aber nicht verzichten. Immer mehr Moskauer leisten sich beides: Reisen und eine Datscha.

    "Eine Woche könnte ich mir hier vorstellen, aber zwei? Da fahre ich lieber ans Meer. Wir sind keine Datschen-Fanatiker, die jede freie Minute hier verbringen. Aber die Wochenenden schon. Wir waren schon Ewigkeiten nicht mehr in Moskau im Kino oder in einer Ausstellung. Wochenenden im Sommer - das heißt natürlich hinaus auf die Datscha."

    ""Liebe Oljuschka!
    Bist du noch am Leben, und was tust Du?
    Ich bin gesund, und es geht mir gut. Im Winter wurde die Datscha, die wir vom Literaturfonds mieten, renoviert. Sie wurde umgebaut und in einen Palast verwandelt. Mit Wasserleitung, Bad, Gas, drei zusätzlichen Zimmern. Ich fühle mich befangen in diesen Räumen, solcherlei gebührt mir nicht, ich schäme mich vor den Wänden in meinem riesigen Arbeitszimmer mit Parkettboden und Zentralheizung.
    In der Hoffnung, es lasse sich auch einmal verwirklichen, lade ich Dich jeden Sommer zu uns ein. Ich wiederhole diese Bitte nicht, sie gewinnt nur an Nachdruck.
    Küsse Dich herzlich.
    Dein Borja"

    "Borja, du mein teurer Freund!
    Freue mich über den Komfort, den Du jetzt genießt. Ich halte nichts vom Steinzeitleben auf den russischen Datschen. Küsse dich von Herzen. Olja"
    "


    Die Datscha als Freiraum - Zu Besuch bei Jakov Keremetskij
    Eine Datschensiedlung etwa 30 Kilometer südwestlich von Moskau, nahe dem Dorf Novobrechovo. Hier ist vieles noch so wie zu Sowjetzeiten. Die Parzellen messen exakte 600 Quadratmeter, die Häuschen darauf sind bescheiden, die Nachbarn nennen sich beim Vornamen. Nana Keremetskaja holt Wasser am eigenen Brunnen. Sie hat die blonden Haare vorn auf dem Kopf zu einem altmodischen Dutt zusammengesteckt und ihre weiße Bluse trotz ihrer 54 Jahre jugendlich unter der Brust zusammengeknotet. Ein Wickelrock umweht ihre Beine.

    "Wir könnten die Technik vervollkommnen und Strom legen, so dass der Eimer auf Knopfdruck herabgelassen würde. Aber wir sind etwas altmodisch. Wir haben das Wasser analysieren lassen, es ist ganz sauber."

    Ein untersetzter alter Mann tritt auf die Veranda und reicht ihr ein Mobiltelefon. Er trägt knielange Hosen. Das Hemd spannt deutlich über seinem Bauch.

    "Jakov Keremetskij, Doktor der Philosophie, Professor, bekannter Gelehrter", stellt Nana Keremetskaja ihren Mann vor. Der winkt ab, er sei ja schon Rentner.

    Jakov Keremetskij war Mitarbeiter im Institut für USA- und Kanadastudien der Russischen Akademie der Wissenschaften. Als solcher hat er, wie 40 weitere Kollegen, in den 80er Jahren das Datschengrundstück bei Novobrechovo bekommen. Jakov Keremetskij ist der einzige, der ständig hier wohnt, auch im Winter.

    "Moskau wird zusehends ungeeignet für ein einigermaßen normales menschliches Leben. Die Lebensqualität dort sinkt katastrophal, mit jedem Jahr. Moskau quillt über mit Häusern und Menschen, die aus allen Ecken und Enden Russlands dort hin streben, auf der Suche nach Glück. Glück in Anführungsstrichen. Und im Bemühen, eine eigene technisch-mechanische Zivilisation schaffen, wollen wir sogar den Westen überholen. Ich war in New York, da habe ich auch Staus gesehen. Aber ich glaube, Moskau ist dabei, jede beliebige westliche Stadt bei der Zahl der Autos zu übertreffen. Ich kann die technische Zivilisation nicht ausstehen. Steigen Sie mal in einen Bus in Moskau oder in die Metro. Da kommen Sie krank wieder heraus."

    Jakov Keremetskij macht es sich auf einem Stuhl bequem. Seine Frau wirbelt um ihn herum, verhängt die Veranda mit Bettlaken zum Schutz vor der Sonne, kocht Minztee gegen die drückende Hitze.

    "Die Flucht aus der Stadt auf die Datscha, auf das eigene Grundstück, rettet den Menschen vor den Schrecken des modernen städtischen Lebens. Das Leben hier stärkt meine Gesundheit. Morgens nach dem Aufstehen mache ich Gymnastik. Am 1. Juli bin ich 79 Jahre alt geworden. Nicht weniger, nicht mehr. Und ich bin in der Lage, sieben, acht Stunden am Tag kreativ zu arbeiten. Ich fühle mich absolut nicht alt."

    Jakov Keremetskij nimmt seine Hornbrille von der Nase. Seine Ansichten sind in Russland nicht gerade gefragt. Der Rentner beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von Demokratie und freier Marktwirtschaft. Sein Steckenpferd ist betriebliche Mitbestimmung.

    "Ich glaube, dass der Kapitalismus, der jetzt in Russland existiert, nicht lange lebensfähig ist. Die Leute sehen im Fernsehen, was für Reichtümer einige Russen besitzen. Und sie wissen, dass die ihre Reichtümer nicht selbst erarbeitet, sondern dem Volk und dem Staat gestohlen haben.

    Wenn Sie die Menschen auf der Straße fragen: Was ist ein russischer Geschäftsmann? Dann antwortet jeder: ein Dieb und ein Gauner. Ich nenne die russischen Reichen Lumpenbourgeoisie. Das ist ein kriminelles Bürgertum."

    Ein Anschauungsbeispiel hat Keremetskij einen Kilometer von seiner Datscha entfernt. Dort entsteht eine Eigenheimsiedlung, und zwar für die Mitarbeiter des mächtigen halbstaatlichen Gaskonzerns Gasprom.

    "Die Leute sagen dazu lieber gar nichts. Weil sie wissen, was Gasprom ist. Das ist ein unglaublich reiches Supermonopol, das seinen Beamten diese Kottedschi baut. Die kosten mindestens eine Million Dollar. Und wenn Sie sich dann gleich daneben die elenden Hütten der Dorfbewohner angucken, dann sehen Sie, was soziale Ungleichheit bedeutet. Sie gebiert krankhaften Neid, und der bringt die Menschen zu allen nur erdenklichen Verbrechen."

    Nana Keremetskaja setzt sich dazu, legt ihrem Mann die Hand auf den Unterarm, bremst ihn vorsichtig. Eigentlich gehe es ihnen doch gut.

    "Sie ist eine Konformistin. Sie ist immer mit allem zufrieden. Außer mit mir. Sie ist eine klassische Datschenbesitzerin."

    "Ich liebe meine Datscha, weil mein Mann und ich alles selbst gepflanzt und gezogen haben. Wir haben alles im Garten, weil es billig ist. Und außerdem ist es nitratfrei. Und das ist gut für die Gesundheit."

    Nana Keremetskaja steht auf, um den Garten zu zeigen. Jakov Keremetskij greift nach seiner Schirmmütze. Auf dem Gemüsebeet sprießen Radieschen, Petersilie, Dill, Zwiebeln, Knoblauch. Die langen Enden sind liebevoll aufgeknotet, damit sie nicht auf die Erde hängen. Die Sanddornbüsche sind der Stolz der beiden.

    "Die Beeren sind sehr gesund. Die sind gelb, ein bisschen süß-säuerlich im Geschmack, und sie helfen besonders bei Frauenkrankheiten. Ich pflücke sie, säubere sie gründlich und wasche sie. Wenn sie getrocknet sind, bestreue ich sie mit Zucker, zerstoße das ganze und fülle es in Gläser. Man kann auch die Kerne trocknen, sie zu Pulver zerstampfen und mit Zitrone und Honig zubereiten. Wir haben ein Kiloglas davon für den Winter. Jeden Morgen ein Teelöffel vor dem Frühstück hilft dem Organismus."

    In der Sonne ist es einfach zu heiß. Erschöpft geht Jakov Keremetskij zurück auf die Veranda. Seine Frau schaltet den Rasensprenger an. Das soll Abkühlung bringen. Aus Versehen spritzt sie nicht nur sich selbst nass, sondern auch die Veranda, den Stuhl, den Tisch und ihren Mann.

    "Auf der Datscha ist es wie früher in der Küche. Auf die Datscha lädt man nur Leute ein, die einem nahe stehen, denn auf der Datscha ist man so offen wie sonst nirgendwo.

    Auf der Datscha sind Sie ein freier Mensch. Sie können sich wie Ihre wilden Vorfahren benehmen. Sie brauchen fast nichts anzuziehen. Aber die Hauptsache ist: Die Datscha verleiht Ihnen innere Ruhe."