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Ein Sozialstaat, der nur die Hoffnung nährt

Der Wohlfahrtsstaat alter Prägung zieht sich immer mehr aus der direkten Verantwortung für die Bürger zurück. Dieser "Gewährleistungsstaat", leistet weite Bereiche der sozialen Daseinsfürsorge nicht mehr selbst, sondern delegiert sie an den Markt. Unser Arbeitsmarkt ist davon genauso betroffen wie das Gesundheitssystem.

Von Peter Leusch |
    "Wie sind sie in die 1-Euro-Jobs gekommen? - Es ist tatsächlich etwa hälftig gewesen in unserer Studie, dass etwa 50 Prozent gesagt haben: ‘Ich bin zu meinem Arbeitsvermittler gegangen‘ - eine Dame hat im Interview zu uns gesagt: ‘Ich bin dahingegangen und habe meinem Vermittler die Pistole auf die Brust gesetzt: Ich will Arbeit haben.‘ Die andere Hälfte ist im Jobcenter bei einem Termin angesprochen worden, ein Teil natürlich auch per Post aufgefordert worden, sich nächsten Montag bei diesem oder jenem Beschäftigungsträger zu melden."

    Kathrin Schultheis, Sozialwissenschaftlerin am Institut für Bildungs- und Sozialpolitik Koblenz schildert die Erfahrungen von 1-Euro-Jobbern. Gemeinsam mit ihrem wissenschaftlichen Kollegen Tim Obermeier hat sie 45 Teilnehmer dieser arbeitsmarkpolitischen Maßnahme in Interviews befragt. Die Auswahlgruppe der Befragten konnte unterschiedlicher nicht sein: Es gab junge und alte, Frauen wie Männer, Personen mit Ausbildung und langjähriger Berufserfahrung ebenso wie solche, die noch nie in einem regulären Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Aber alle Teilnehmer der Studie bewerteten den Job positiv, trotz der kärglichen 1,30 Euro pro Stunde. Tim Obermeier:

    "Denn die Personen haben in diesen Tätigkeiten verschiedene Dimensionen sozialer Teilhabe erfahren, d. h. zusammengefasst: Dass man das erste Mal wieder soziale Kontakte hat, dass man Kollegialität erlebt hat dadurch, dass man in einen Kollegenkreis eingebunden war; die Teilnehmer berichten, dass sie auch gesundheitliche Veränderungen bei sich festgestellt haben, oder das Motiv war: ‘Wenn ich nur zu Hause sitze, dann macht mich das krank.‘"

    Arbeit hat einen sozialen Mehrwert. Sie hebt das Selbstwertgefühl, weil man gebraucht wird. Sie bietet soziale Anerkennung. Arbeit regelt den Tag und verleiht im Gegenzug der Freizeit Gewicht. Aber es bleibt eine Crux, und das haben die Teilnehmer übereinstimmend kritisiert, dass ihnen aus diesem Arbeitsverhältnis, das auf wenige Monate beschränkt ist, keinerlei Chance erwuchs, in den ersten Arbeitsmarkt aufzusteigen.

    "Die öffentlich geförderte Beschäftigung hat sich in unserer Studie dargestellt wie so ein Trampolin, worauf die Arbeitslosen springen, aber ein Trampolin mit einer gläsernen Decke d. h. sie springen hoch, aber sie schaffen nicht durch die gläserne Decke in den regulären Arbeitsmarkt zu springen, die gläserne Decke begrenzt immer nur die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln, und dieses Trampolin geht immer nur hoch und runter bei diesen Personen."

    Die Teilnehmer der Studie schildern einen Sozialstaat, der zwar Hoffnung nährt und Chancen verspricht, indem er kurzzeitig den Arbeitssuchenden an die Hand nimmt, ihn dann aber wieder fallen lässt, sodass er noch enttäuschter als zuvor auf sich selbst zurückgeworfen ist.

    Das ist nicht mehr der hehre Sozialstaat der späten 60er- und 70er-Jahre, im Bild eines großzügigen und fürsorglichen Vaters. Allerdings, so erklärt der Politikwissenschaftler Christoph Strünck von der Universität Siegen, dieser generöse Sozialstaat basierte auf der goldenen Ära der Vollbeschäftigung und einer florierenden Wirtschaft.

    "Es war die große Phase des Wirtschaftswachstums, des Wirtschaftswunders. Man hat gleichzeitig gedacht, wenn wir eine große Phase von Wachstum haben, dann können wir auch ein großes Maß an sozialer Sicherheit bieten. Sicherheit gerade in Deutschland ist auch immer ein ganz großer Wert, und man wollte den Leuten vermitteln: Wenn ihr bereit seid viel zu investieren in eure Arbeit, wenn das so ist, dann ist der Staat auch bereit, die Risiken, die damit verbunden sind, zu tragen. Entsprechend wurde der Sozialstaat ähnlich dem Wirtschaftswachstum auch deutlich und stark ausgebaut."

    Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus wurden auch die Kritiker lauter, dass die Kosten dieses ausgebauten Sozialstaats viel zu hoch seien. Der neoliberale Glaube an den Markt, der scharfe Gegenwind globaler Konkurrenz und Probleme wie der demographische Wandel taten ein Übriges. Rückblickend streiten Sozialwissenschaftler in der Bewertung des westdeutschen Sozialstaats der 70er-Jahre: Die einen sagen, dass damals ein Standard erreicht, eine Messlatte aufgelegt wurde, an der sich ein reiches Land künftig orientieren müsse, als geltende Norm. Die anderen hingegen erklären den ehemals üppigen Sozialstaat zu einem historischen Phänomen, das vorbei sei und so nicht zu halten war, nachdem seine Voraussetzungen wie die Vollbeschäftigung nicht mehr existierten.
    Untrennbar aber bleibt die Idee des Sozialstaats mit einer Vorstellung von Gerechtigkeit verknüpft, die die Bürger von einer demokratischen Ordnung erwarten.

    "Gerechtigkeit gehört für mich als empirischem Forscher sehr stark in eine Gruppe von Symbolwörtern. Es ist positiv konnotiert: Jeder will Gerechtigkeit. Man kann sich viele unterschiedliche Dinge darunter vorstellen. Aber in der politischen Kommunikation ist es erst einmal ein positiver Begriff. Davon gibt es ganz viele: Solidarität ist einer, ein anderer ist Eigenverantwortung."

    Der Politikwissenschaftler Achim Görres von der Universität Duisburg-Essen forscht in einem transnationalen Forschungsprojekt, das die programmatischen Parteitagsreden der politischen Führer in Schweden, Norwegen und Deutschland untersucht - anhand der Leitfrage, wie und mit welchen Vorstellungen schmerzhafte Reformvorhaben dem Parteivolk kommuniziert werden.

    "Und das Interessante ist, wenn Sie diese Parteitagsreden mit einem ganz einfachen Algorithmus durchzählen lassen, auf bestimmte Wörter. Dann kommt genau das heraus, was Sie aufgrund der Programmatik einer Partei erwarten würden. Also die linken Parteien reden wesentlich häufiger über Solidarität als die rechten Parteien. Und die rechten Parteien reden wesentlich häufiger über Eigenverantwortung als die linken Parteien - und über Sicherheit: Eigenverantwortung und Sicherheit sind die großen rechten Symbolwörter, die da immer vorkommen."
    Aber es handelt sich um eine Veränderung der sozialpolitischen Leitvorstellung, die beide große Volksparteien erfasst hat. Denn auch Schröders Agenda 2010 entfernte sich vom Konzept einer unbedingten Solidarität und Hilfe hin zu einer bedingten Solidarität, eine die nämlich Eigenverantwortung einfordert.

    Eigenverantwortung konkret wahrzunehmen ist aber schwierig. Wenn es etwa darum geht, private Vorsorge für das Alter zu treffen, so setzt dies voraus, dass man über entsprechende Mittel verfügt. Wenn aber immer mehr Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen leben, längere Zeit arbeitslos oder nur in Teilzeit beschäftigt sind, dann ist ihr Rentenanspruch nicht besonders hoch. Ein-Euro-Jobber zum Beispiel kommen gar nicht in den Genuss bestimmter sozialstaatlicher Leistungen, etwa den Schutz vor Verdienstausfall bei Krankheit. Kathrin Schultheis:

    "Wenn die Teilnehmer eines Ein-Euro-Jobs krank werden, dann bekommen sie diese Aufwandsentschädigung nicht weiter für die Stunden, in denen sie nicht arbeiten konnten. Und wenn Sie ein halbes Jahr lang eine Beschäftigung haben und Sie haben wenig Einkommen, nämlich Hartz IV und können ein halbes Jahr lang zusätzlich diese 1,30 Euro verdienen, dann rechnen Sie damit, das planen Sie ein. Und das ist auch als Problem wahrgenommen worden von den Teilnehmern an die Arbeitsgelegenheiten, dass die gesagt haben: ‘Wir verstehen nicht, dass unsere Kollegen, die hier bei diesem Beschäftigungsträger ganz normal beschäftigt sind, dass die weiter bezahlt werden, wenn sie krank sind, und wir arbeiten wie sie hier auch, und wir werden nicht bezahlt, wenn wir krank sind, wir dürfen uns freie Tage nehmen, aber auch die werden nicht bezahlt.‘"

    Die Menschen erleben das als Ungerechtigkeit, die sie unmittelbar betrifft. Als System einer Zweiklassengesellschaft von Arbeitsplatzbesitzern auf der einen Seite und prekär Beschäftigten und Arbeitslosen auf der anderen.

    "Eine der Gretchenfragen ist immer, wieweit die soziale Sicherung gehen soll: Soll es eine voll umfassende Absicherung sein oder eher eine Art Grundsicherung, dass man zum Beispiel nicht, ins Bodenlose fällt, dass das Existenzminimum gesichert ist. Historisch war es gerade in dieser Wachstumsphase so, dass man in Deutschland einen relativ weiten Anspruch hatte, dass man zum Beispiel im Alter ein vergleichbares Einkommen wie vorher in der Arbeitsphase hat. Und inzwischen gibt es einige Kritiker, die sagen, das könne der Staat sich gar nicht mehr leisten, es könne eigentlich nur noch um eine Basisversorgung gehen, der Staat könne etwas mehr als das Existenzminimum gewährleisten, aber darüber hinaus müssten die Leute sich selber kümmern."

    Der Wohlfahrtsstaat alter Prägung zieht sich immer mehr aus der direkten und vollen Verantwortung zurück in die Rolle des sogenannten Gewährleistungsstaates, der weite Bereiche der sozialen Daseinsfürsorge nicht mehr selber leistet, sondern an den Markt delegiert. Der Gewährsleistungsstaat tritt in den Hintergrund, wo er nur noch kontrolliert und eine Letztverantwortung behält. Das betrifft nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern auch den Bereich der Gesundheitsversorgung - Stichwort: Privatisierung der Krankenhäuser - es betrifft ebenso Altenpflege und Jugendhilfe. Bisher hängt alles an der Erwerbsarbeit. Nicht nur die Finanzierung des Systems, auch das Selbstverständnis des Einzelnen, sein Einkommen, sein Status, seine Selbstachtung. Wie fatal ist dann aber, wie Hannah Arendt schrieb, wenn einer Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Wenn sich der Mensch über das immer knapper werdende Gut Arbeitsplatz definiert. Insofern muss sich bei einem Umbau des Sozialstaats wohl auch das Leitbild des Menschen verändern.

    "Häufig ist die Rede von der Bürgergesellschaft, vom aktiven Bürger. Man engagiert sich politisch, man hilft sich sozial, man übernimmt Verantwortung in der Gesellschaft und in der Politik. Und das ist ein Bild, was nicht den Sozialstaat oder die Arbeitsgesellschaft abschafft, aber darauf setzt, dass wir mehr sind als Erwerbsbürger, wir sind, wie man so schön sagt, nicht nur Bourgeois und wollen Geld verdienen, sondern wir sind auch Citoyen, wir sind Staatsbürger und -Bürgerinnen und wollen unser Gemeinwesen gestalten."