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Ein springender Brunnen

Endlich hat Martin Walser den lange von ihm erwarteten autobiographischen Roman veröffentlicht. Der bedeutendste lebende deutsche Erzähler berichtet in drei Kapiteln von seiner Kindheit und Jugend in den Jahren 1932 bis 1945. Als 1927 geborenes Kind von Gastwirten erlebt er die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und den Einzug der Nazis in seine Heimat. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht das Verliebtsein des Knaben in ein Zirkusmädchen, das dritte erzählt von seinem wachsenden Interesse für Literatur und Musik, von seinem freiwilligen Einsatz an der Front wie auch von seiner Heimkehr nach Kriegsende. Mehr als ein Selbstporträt des Künstlers als junger Mann ist "Ein springender Brunnen" zugleich Zeit-, Heimat- und Liebesroman. Das Buch hält, was sein Titel (eine Formulierung aus Nietzsches 'Zarathustra') verspricht, es sprudelt vor Sprache, Erinnerungen und Geschichten geradezu über.

Hajo Steinert | 09.08.1998
    Zwar nennt Martin Walser seine Hauptfigur Johann, doch es besteht kein Zweifel daran, daß er von sich selbst berichtet. Für das Erzählen in der dritten Person sprechen sowohl literarische als auch ganz persönliche, in der eigenen Biographie wurzelnde Gründe. Die von Walser schon immer bevorzugte Er-Form ermöglicht ihm, nicht nur in die Haut seiner Erzählfigur zu schlüpfen, sondern auch auf Distanz zu ihr zu gehen. Und dem Leser ermöglicht diese Erzählform, bei der Lektüre des Romans nicht nur an Martin Walser zu denken, es könnte auch ein ganz anderer sein, eine erfundene Figur, von der der Autor da erzählt. In diesem Punkt unterscheidet sich Martin Walser von seinen Altersgenosen Ludwig Harig, Günter de Bruyn, Dieter Wellershoff und Günter Kunert, die in ihren, auch erst in den neunziger Jahren erschienenen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus, den Eindruck einer viel engeren Gebundenheit der literarischen Figur an ihren Autor dokumentierten.

    Das Schreiben in der dritten Person bezeugt die Skepsis Walsers vor einem Genre, das den Schein erweckt, man könne ganz authentisch von einem eigenen Ich sprechen. "Das Ich des Autors", schrieb er dagegen in seinem Essay "Wer ist ein Schriftsteller", das Ich des Autors sei "sozusagen prinzipiell beschädigt. Aber das hat er mit vielen anderen gemein. Mehr Autoren stammen aus Unterschichten als aus Oberschichten. Die Familien der Unterschichten haben nicht das Selbstbewußtsein, ihre Kinder mit wetterfesten Identitäten auszustatten."

    Auch hier, im Essay, spricht Martin Walser sowohl von sich selbst als auch von anderen. Sein Roman handelt davon, wie einer aus einer unteren, das heißt kleinbürgerlichen Schicht allen widrigen Zeitumständen und famliären Grenzen zum Trotz oder gerade dank der aus den Fugen geratenen Zeit und dank der Bescheidenheit seiner biographischen Herkunft - beide Interpretationen sind möglich - Selbstbewußtsein erlangt. "Ein springender Brunnen" ist aber eher eine Suche nach den Eigenheiten in den ersten beiden Lebensjahrzehnten als eine selbstgewisse Chronologie des Erlebten in erlebnisvoller Zeit. Wie schwer Walser die Arbeit des Erinnens fiel, zeigt sich in den etwas gequält formulierten essayistischen Exkursen.

    "Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt."

    Es geht Walser nicht um ein Zeugnisablegen von sich, wie es die Memoirenschreiber tun. Der Leser kann sich bei diesem Buch nicht genüßlich zurücklegen und gleichsam fernsehhaft distanziert teilnehmen am Leben eines anderen, der einmal ein berühmter Schriftsteller werden sollte. Die Arbeit des Erinnerns springt auf die Arbeit des Lesens über, genauso die Lust des Autors, sich immer genauer zu erinnern, auf die Lust des Lesers, seine eigenen Erinnerungen zu ordnen.

    Martin Walsers zuletzt erschienenen Romane "Die Verteidigung der Kindheit" (1991), Ohne einander" (1993) und "Finks Krieg" (1996) spielten in Dresden, Berlin, München, ja sogar in der hessischen Staatskanzelei zu Wiesbaden. Nur einmal, in dem Roman "Brandung" (1985), siedelte Walser seine Handlung weit außerhalb der deutschen Grenzen an, in Amerika. Jetzt ist der allen Metropolen und allem Metropolendenken gegenüber skeptische Schriftsteller literarisch heimgekehrt in eine Region, die sein ursprüngliches geistiges Sinnzentrum ist: an den Bodensee. Dahin also, wo er geboren ist (Wasserburg), wo er die Oberschule besucht hat (Lindau) und wo er, nach Regensburger, Tübinger und Stuttgarter Lehrjahren, seit langem lebt und arbeitet (Überlingen).

    "Ein springender Brunnen" ist eine Liebeserklärung an seine Heimat. Heimat wird bei Walser freilich nicht romantisch zur Idylle verklärt, sondern als Utopie heraufbeschworen. Und wie in allen ernst zu nehmenden Liebeserklärungen steckt auch hier zwischen den Zeilen die Angst vor der Vergeblichkeit des Bemühens. Der Junge im Roman schreibt einmal zum Entsetzen seines im Sinne des neuen Zeitgeists ideologiegestählten Lehrers in sein Schulheft:

    "Ohne Heimat ist der Mensch ein elendes Ding, eigentlich ein Blatt im Wind. Er kann sich nicht wehren. Ihm kann alles passieren. Er ist ein Freiwild. Er kann gar nicht genug Heimat haben. Es gibt immer zu wenig Heimat. Zuviel Heimat gibt es nie. Aber jeder muß wissen, daß nicht nur er Heimat braucht, sondern andere auch. Das schlimmste Verbrechen, vergleichbar dem Mord, ist es, einem anderen die Heimat zu rauben oder ihn aus seiner Heimat zu vertreiben."

    Auch wenn die Zeit, von der Martin Walser leidenschaftlich erzählt, eher grauenhaft als idyllisch ist, auch wenn sich beileibe nur die Wenigsten in der Region den "aufs entsetzlichste kostümierten Jahren" widersetzen, das heißt den ideologischen Verführungen der Zeit - Dörfer wie Wasserburg, Hengnau, Kümmertsweiler, Ellhofen, Mariaburgstätten oder Neukirch sind von Natur aus schützende Nester. "Vorne Straße, heller Platz, alles hell und übersichtlich,".lautet eine typische Beschreibung. Selbst im Moment, da die ersten SA-Leute auf ihren Motorrädern mit flatternden Hakenkreuz-Fahnen durch Wasserburg brausen, strahlt die Natur noch ein Fünkchen Trost aus: "Das Dorf lag unter einer einzigen Schneedecke und funkelte in der Sonne."

    Die Provinz, so lautet Walsers Botschaft, bietet, so lange nichts von außen hineindrängt, Ordnung und Geborgenheit. Hinzugekommene, gar Fremde wie die englische Wirtin in der anderen Gaststätte, der vorbeiziehende Wanderfotograph oder die Fabrikanten in den Villen am See sind im Dorf nicht nur eine exotische Abwechslung, sondern auch eine Bedrohung. Die Dorfgemeinschaft hat ihren Alpen- und Kriegerverein, die Feuerwehr den Stammtisch im Wirtshaus, ihr Kaffeekränzchen bei der Nachbarin. In den Wohnstuben erklingen Grammophone und Klaviere, in den Gesangsvereinen die Stimmen, im Strandcafé Tanzmusik, im Kinderzimmer surrt die Märklineisenbahn auf den Schienen. Regelmäßig gibt es den Herbstjahrmarkt, wird Kommunion gefeiert, und die Himbeerbonbons für zehn Pfennig gibt es das ganze Jahr über beim Kremer so verläßlich wie zum Wintereinbruch die Kohlen geliefert werden.

    Die Zeit vergeht im Rhythmus der Jahreszeiten und kirchlichen Feste. Er hält die Menschen zusammen. Was sie durcheinanderbringt, kommt von außen, aus der Metropole. In der Metropole wird Politik gemacht, die Metropole ist schlecht. Hindenburg und Hitler: sie sitzen und stehen im fernen Berlin, Berlin ist weit weg. Wenn ihre Reden im Radio übertragen werden, wissen die verlegenen Wasserbuger nicht so recht, wie sie sich verhalten sollen, nur die wenigsten bekommen glühende Ohren, nur den wenigsten gelingt eine stramme Haltung. Eigentlich sind die Menschen am Bodensee den von Ferne herüberdonnernden neuen Zeiten wehrlos ausgesetzt. Wenn 1938, wie Walser recherchiert hat, von 665 Stimmberechtigten in Wasserburg 659 ihre Stimme für Hitlers Liste bei der "Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" abgeben, so steckt im Verhalten der Leute weniger politische Überzeugung als Hilflosigkeit. Derartige politische Interpretationen stecken zwischen den Zeilen des neuen Romans. Sie machen ihn umso aktueller, umso lesenswerter.

    Aber wehe, wenn statt der Stimme des Tenors Karl Erb ("Wer nie sein Brot mit Tränen aß") die des Joseph Goebbels aus dem Lautsprecher kommt, wenn statt Weihnachtsliedern das Horst-Wessel-Lied angestimmt wird, wenn statt des Wanderzirkus die Stoßtrupps der SA durch die Lande marschieren, wenn man, statt summend spazieren zu gehen, trommelnd und skandierend vor das Kriegerdenkmal zieht. Wehe, wenn statt des lokalen Gesangvereins die Braunhemden im Wirtshaus ihre Versammlungen abhalten, wenn statt der Barren die Kulissen zur Auführung von "Schlagetters Tod" in der Turnhalle zurechtgeschoben werden. Dann ist es mit der Eintracht vorbei.

    Martin Walser beschreibt das Einbrechen des Nationalsozialismus in den Alltag der Provinz als Überfall der Worte, des Lärms, der gespuckten Töne. Worte wie "Bangigkeit", "Wißbegierde", "Himmelreich", "Jugendstil", "Trauerweide" und "Denkmal" notiert Johann in seinen "Wörterbaum" (eine Idee seines Vaters); sein Schulfreund Adolf gebraucht zusammengesetzte Substantive wie "Charaktergröße", "Tintenschlecker","Charakterlump", "Lackaffe" und "Bewährungsprobe". Am Gebrauch der Sprache verrät sich die Dummheit der neuen Wortführer und ihrer Nacheiferer. Von ihnen will sich Johann absetzen.

    Aber Walser schreibt auch von der Ohnmacht jugendlichen Erkenntnisstrebens. Obwohl Johann, der musikalische, sprachaufmerksame, lesende Junge (erst Karl May, dann Klopstock, Hölderlin, Nietzsche und George) - leise beeinflußt von seinem allem Nazistischen gegenüber resistenten, feinsinnigen, etwas traumtänzerischen Vater - eine Abscheu vor allem Lauten entwickelt, sehnt er sich nach einem Einsatz an der Front. Und das, obwohl er - in einer äußerst bewegend geschildernden Szene - gerade erfahren hat, daß sein zwei Jahre älterer Bruder Josef gefallen ist.

    "Johann konnte sich nicht mehr rühren, nachdem er die Uniform gesehen hatte. Der Ortsgruppenleiter konnte ja noch zu Schmied Peters und Schuhmacher Schorers abbiegen, weiter hinten an diesem Weg wohnten noch Rehms, Heitingers, Schiggs. Oder er konnte auf die andere Seite abbiegen. Zu Hagens. Oder weiter oben noch zu Schuhmacher Gierers. Oder überhaupt vorbeigehen, weiter, zum Bahnhof. Aber Johann sah, daß der Ortsgruppenleiter zur Terrassentreppe abbog. Da rutschte Johann, ohne noch Sprossen zu benutzen, an den Holmen herab, warf den Apfelsack weg, rannte hinaus auf die Straße, hinter dem Ortsgruppenleiter her, um noch vor dem ins Haus zu kommen. Der mußte ja durch den Hausgang, dann die Treppe hinauf in den ersten Stock, dort klopfen. Johann holte den Ortsgruppenleiter ein, als der die Stiefelspitze auf die oberste Stufe setzte. Die Mutter, gerade im Gang, gerade unter der geöffneten Tür von Zimmer vierzehn. Auch geteilt. Fünfköpfig war da eine Familie untergebracht. Die Frau stand mit ihrem Achtjährigen, die Mutter stand mit Anselm, alle hörten die Ortsgruppenleiterstiefel auf den ächzenden Stufen. Drehen sich um. Ihm zu. Die Mutter sieht ihn und schreit. Und Anselm auch. Die Mutter rennt den Gang entlang ins geteilte Zimmer acht. Johann bleibt hinter dem Ortsgruppenleiter. Der Schrei hört nicht auf. Ein einziger Ton. 'Von Anselm hört man nichts mehr. Johann spürt selber nichts."

    Johanns Lust auf Kampf. Sie scheint indes vor allem psychologisch motiviert. Schon als Kind ist er fasziniert von Uniformen. Heimlich zieht er die vom ersten Weltkrieg aus Vaters Kleiderschrank an und vor den Spiegel. Bewundert zu werden - das ist die Sehnsucht Johanns, die sich auch in anderen Lebenslagen zeigt. Ganz gleich, ob er seine Tangofrisur zur Schau trägt oder seine ersten Halbschuhe spazieren führt, ob er in der Kirche besonderns laut singt oder seine ersten Gedichte reimt: das Verlangen bewundert zu werden ist nicht nur in diesem Buch ein durchgehendes Motiv, sondern auch eins im gesamten Ouevre des Schrifstellers. Wer will, kann in "Ein springender Brunnen" Quellen zum Verständnis anderer Walser-Figuren finden, die, kleinbürgerliche Existenzen indessen, wie Johann beseelt sind von einem nur allzu menschlichen Wunsch.

    Anrührend sind die Episoden einer ersten Liebe. Anita heißt sie. Sie ist schon deutlich über zehn, vollführt Kunststückchen für den Wanderzirkus "La Paloma" und hat schon Haare unter den Achselhöhlen. Wie es Johann gelingt, ihr unterm Kirschbaum einen Wasser in die Luft blasenden Wal und einen feuerspeienden Popocatepetel (diese Symbolik!) in Form von Abziehbildchen und unter dem beherzten Eisatz eines feuchten Schwamms auf die Innenseiten ihrer Oberschenkel zu drücken, ist von Walser mit Poesie beschrieben. Keine der pubertärten Liebesszenen ist ihm ins Peinliche abgeglitten. Walser ging es nicht nur um eine Jugend unter dem Hakenkreuz. Der Roman liest sich, besonders im zweiten Kapitel, als eine ganz normale Pubertätsgeschichte, die auch in den fünfziger oder sechziger Jahren spielen könnte.

    "Johann traute sich nicht, Wal und Vulkan zu streicheln. Diese beiden Bilder jetzt streicheln oder auch nur berühren zu dürfen, mit bloßer Hand, ohne Schal und Abtrocknerei, das wäre das Schönste, was es auf dieser Welt geben kann. Alles verboten. Er rannte hinauf zu Baum und Bank, setzte sich, schob seine Hände unter die Schenkel und starrte der langsam über die Steine heraufkommenden Anita entgegen. Sie setzte sich neben ihn, schob ihre Hände genauso unter die Schenkel wie er. Aber sie starrte nicht auf den See hinaus wie er, sondern sah zu ihm herüber. Daß sie jetzt so schauenn konnte, begriff er nicht. Ihm ein lachendes Gesicht zudrehen! jetzt! Ihm war es, als sei die Welt noch nicht erschaffen. Und von ihm hinge es ab, wie sie ausfiel. Mein Gott! Und da lachte die, als gehe es um nichts. Anita, Anita, sagte er. Er zog seine rechte Hand unter dem Schenkel heraus und legte sie zwischen sich und Anita auf die Bank. Als Anita das nicht bemerkte, nicht sofort bemerkte und durch ein Herausziehen und Nebensichhinlegen ihrer Hand beantwortete, wurde ihm siedig heiß, er mußte aufspringen und zu seinem Rad rennen."

    Die Erwachsenen im Dorf sind bei Walser gottesfürchtige, rechtschaffene und liebenswerte Naturen. Der Landwirt, der Gastwirt, die Köchin, die Spülerin, das Serviermädchen, der Baumeister, der Kommerzienrat, der Metzger, die Spülerin, die Zeitungsfrau, der Frisör, der Buchhalter, die Klavierlehrerin, der Lehrer, der Käser, der Briefträger - alle zusammen genommen ein in sich geschlossenes Völkchen, jeder ist hier an seinem Platze, jeder ist für das Gemeinwohl nützlich, vom Großvater, der ununterbrochen mit Aufräumen, Kehren und Rechen beschäftigt ist bis zum Gerichtsvollzieher, der mit dem Kuckuck unterwegs ist.

    Sich autobiograpisch an die Kindheit zurückzuschreiben heißt für Walser, sich die Menschen, die damals in seiner Umgebung waren, zu vergegenwärtigen, sie so zu porträtieren, wie sie damals auf ihn gewirkt haben, ohne jede nachträgliche Bewertung. "Vergangenheit als Gegenwart" lautet seine einfache, aber wirkungsvolle Poetik. Niemand wird hier lächerlich gemacht, keiner wird nachträglich verurteilt. Weder die Schnellsten beim Überstreifen der braunen Hemden noch die ersten, die der neuen Partei beitreten, werden vom Erzähler angeklagt.

    Die Figur der Mutter ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Sie tritt in die NSDAP ein, damit die Ortsgruppe, neben anderen Vereinen, in ihrer Gastwirtschaft tagt. Das ist überlebensnotwenig für den Fortbestand des Geschäfts. Die Mutter streckt bei den Versammlungen ihren rechten Arm nie zum "deutschen Gruß" aus, sie winkelt ihn immer nur leicht an und stützt ihn auf dem vertikal unter ihrem Brustkorb ruhenden linken Unterarm. In diesem Bild einer Halbherzigkeit, einer kleinen Geste des Nichmitmachens, steckt die symbolische Geste des Romans "Ein springender Brunnen".

    Sowenig sich Walser über seine Figuren stellt, werden die Opfer des Nationalsozialismus heroisiert. Und was ist mit den Tätern, wie jenem Hauptlehrer zum Beispiel, der bei der SA war, wegen seines rigiden Eisatzes für die Partei noch nach Kriegsende von den Dorfbewohnern gefürchtet wird und deshalb vor einem Café mit dem Schild "Ich war ein Nazi" hocken muß? Der Leser verspürt eher Mitleid mit ihm als Genugtung für die Bestrafung.

    Wäre der Roman in den sechziger oder siebziger Jahren geschrieben und veröffentlicht worden, hätten die damals in puncto 'Vergangenheitsbewältigung' zahlreicheren Wächter der politischen Korrektheit Walser Verharmlosung unterstellt. Heute aber ist es gerade die Vorurteilslosigkeit in Walsers Erzählen, die provoziert, sein geradezu emphatischer Versuch, das Damals, fern aller vorgefertigten Geschichtsdeutung, so zu beschreiben, wie es in seinen Augen, in den Augen eines Kindes also, damals tatsächlich war. Walsers Roman führt in seinem neuen Roman literarisch fort, was er in seinen Essays über die deutsche Vergangenheit, aber auch über die deutsche Gegenwart mit ihren als nationalsozialistisch getarnten rechtsradikalen Auswüchsen von Jugendlichen schon angedeutet hat. In Walsers Verdammungsunlust steckt die friedenstifende Kraft seiner Bücher. Was nicht heißt, daß er in der Charakterisierung des einen oder anderen Nazis ein Blatt vor den Mund nimmt. Wie der Lehrer den Schülern der Volksschule den neuen deutschen Gruß eintrichtert oder wie ein dem neuen Zeitgeist heftigst ergebener Nachbar über die Intellektuellen, allesamt "Tintenschlecker", die man auf die Mistgabel nehmen müßte, herzieht - das grenzt schon an Satire. Sein theatralisches Talent beweist er vor allem in jenen erzählten Zirkusszenen, in denen der Direktor mit dem Dummen August spielerisch ins Gericht geht.Wortakrobatik und Fabulierlust sind der Gradmesser für das Gelingen des Romans "Ein springender Brunnen". Man liest ihn in einem Zug. Er beschäftigt einen noch lange nach der Lektüre. Bedurfte es noch eines literarischen Beweises, daß mit ihm auf der kommenden Buchmesse in Frankfurt am Main der richtige Schriftsteller ausgezeichnet wird - bitte hier ist er.