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Ein Sprung zurück

Die aus Frankreich, Russland, Spanien und Schweden stammenden Musiker des Chiaroscuro-Quartetts schärfen mit ihrer Interpretation von Beethoven und Mozart unsere Sinne wieder für das, was zur Entstehungszeit der Werke neu und innovativ war. Das Streichquartett überzeugt vor allem mit einem selten interpretierten Stück von Beethoven.

Von Raoul Mörchen | 28.04.2013
    Eine neue Platte voller Licht und Schatten. Das junge Chiaroscuro-Streichquartett stellt beim Label Aparté sein zweites Album vor mit ausgesprochen kontraststarken Kompositionen von Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven – das barocke Werkpaar "Adagio und Fuge c-Moll" und das Quartett Es-Dur KV 428 von Mozart stehen neben Beethovens elftem Quartett op. 95, dem sogenannten "Quartetto Serioso".

    Beethoven, op. 95, I.

    Ein kurzes Beben erschüttert die ersten Takte, eine energisch-rüttelnde Figur, wie sie eine Generation zuvor die Mannheimer Schule entwickelt hatte: ein theatralischer Effekt, der nicht schon selbst eine Botschaft ist, sondern nur ihre Ankündigung. Oder steckt jetzt, bei Beethoven, mehr dahinter? Immerhin hat der 40-Jährige aus einem noch knapperen Motiv bereits eine ganze Sinfonie entwickelt, seine dann sehr bald zum Markenzeichen gewordene Fünfte? Tatsächlich werden wir im ersten Satz des Streichquartetts Opus 95 zu Zeugen einer ganz ähnlichen Taktik: Der vermeintliche Theatereffekt ist kein einmaliger Coup, sondern die Antriebszelle einer zornigen, unwirschen Musik, deren sehr unterschiedliche Einzelteile wohl nie zusammenhalten würden, würden sie nicht von dem herrischen Motiv in eine Form gezwungen. Unablässlich fährt es zwischen die vier Streicher. 50 Mal werden wir es hören in einem Satz von nicht mehr als 150 Takten. Trotz seiner Energie treibt es die Musik nicht etwa nach vorn. Das Gegenteil ist der Fall. Es erstickt jede natürliche Bewegung schon im Keim.

    Beethoven, op. 95

    Selbst Ludwig van Beethoven hat nur wenige Werke komponiert, die so kompromisslos eigenen Ideen folgen und die Erwartungen der musikalischen Öffentlichkeit brüskieren. Man muss dieses Opus 95 nur einmal gegen andere Quartette seiner Zeit stellen: Selbst wenn man die besten wählt, etwa aus den letzten Schaffensjahren Joseph Haydns, bleibt der Eindruck einer Ungeheuerlichkeit: Beethovens Opus 95 fällt aus dem Rahmen seiner Epoche. Und es nimmt das bewusst in Kauf. In seinem elften Quartett gönnt sich der Komponist inmitten einer Lebens– und Liebeskrise die Freiheit eines Experiments: Wie weit kann ich mein Material zersetzen, wie viel natürliche Entwicklung ihm verweigern? Tatsächlich ist dies die wohl schockierendste Botschaft, die das Quartett hinterlassen haben muss: Hier geht nicht jemand einfach seinen Weg, hier rennt jemand voller Entschlossenheit gegen die vorgeschriebene Fahrtrichtung: In seinem Opus 95 kämpft Beethoven mit Musik – gegen Musik.

    Beethoven, op. 95

    Wie muss diese Musik einst auf ihre Hörer gewirkt haben? Hatte Goethe nicht in seinem viel zitierten Bonmot das Streichquartett verglichen mit einer Unterhaltung von vier vernünftigen Leuten? War das Quartett nicht Sinnbild für Verstand und Harmonie? Selbst der notorische Dickschädel Beethoven hat gleich eingesehen, dass er mit seinem Opus 95 weiter gegangenen war, als die Konvention es erlaubte. 1816, sechs Jahre erst nach der Vollendung des Werks, gibt er es frei für den Druck. Den englischen Verleger George Smart warnt er dabei noch in einem Brief: "Ich habe das Quartett für einen kleinen Kreis von Kennern komponiert. Es sollte nie öffentlich aufgeführt werden."
    In den 200 Jahren, die seitdem verstrichen sind, haben sich unsere Ohren an vieles gewöhnt. Leicht entgehen uns heute die Schockwellen vergangener Zeiten – es sei denn, wir haben das nicht alltägliche Glück auf Interpreten zu treffen, die uns den Sprung zurück erlauben. Die unsere Sinne wieder für das schärfen, was einmal neu, innovativ, was unerhört und radikal war. Dem Chiaroscuro-Quartett gelingt mit seinem zweiten Album nichts weniger als dies: Wir hören eine Musik, die vor vielen Generationen das Publikum sprachlos gemacht hat – und werden selbst ein wenig sprachlos.

    Beethoven, op. 95, II

    Der Name ist kein bloßes Etikett, er ist ganz offenbar Programm: Chiaroscuro, den stechenden Kontrast von Licht und Schatten, von hell und dunkel, diesen Kunstgriff, mit dem Maler wie Correggio, Caravaggio und Rembrandt das Bild zum Drama machten, diesen virtuosen Kunstgriff übersetzt das Ensemble ins Klangliche. Und das nicht bloß dynamisch, als Kontrast eines bis ans Verstummen rückenden Pianissimos und eines mal wütend, mal schmerzlich aufschreienden Fortes. Das Hell-Dunkel des Chiaroscuro-Quartetts ist eine nervöse Grundspannung: Sie ermöglicht blitzartiges Reagieren auf kompositorische Verwerfungen, auf Brechungen, auf Konflikte, auf plötzliche Umschwünge – wie etwa den Übergang von der meditativen Innerlichkeit des mit äußerster Ruhe rezitieren zweiten Satzes zum Allegro assai, dem dritten. Das Chiaroscuro-Quartett wischt da mit Beethoven den Versuch einer seelischen Einkehr mit wütenden Akkorden ungnädig beiseite.

    Beethoven, Ende II, Anfang III

    2005 formierte sich um die russische Geigerin Alina Ibragimova das Chiaroscuro-Quartett, das bisher vor allem in Ibragimovas Wahlheimat Großbritannien und in Frankreich auf sich aufmerksam machte. In Deutschland waren die Chiaroscuros bisher noch nie zu Gast, im Spätsommer dieses Jahres soll sich das ändern. Besetzt mit der gebürtigen Russin als Primaria, mit dem Spanier Pablo Hernán Benedí als ihrem Sekundanten, mit der schwedischen Bratschistin Emilie Hörnlung und der französischen Cellistin Claire Thirion, hat sich das Chiaroscuro-Quartett dem Ideal einer historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet: Auf der vorliegenden Aufnahme ist die Selbstverpflichtung weniger virulent im Klang der verwendeten Instrumente, dem typisch sparsam dosierten Vibrato und der gelegentlichen Tendenz, längeren Tönen mit einem mittigen Akzent eine fast greifbare Körperlichkeit zu verleihen. Weit wesentlicher ist das hörbare Wissen um die kompositorische Situation der Werke: Um das, was an ihnen Überlieferung ist und was Exzentrik, was Regel und was deren Überschreitung.

    Mozart, Adagio KV 546

    Hier und da mag man einwenden, dass das künstlerische Ethos die vier Musiker einen Deut über das Ziel hinausschießen lässt, namentlich im Mozart gewidmeten zweiten Teil der CD. Da sinkt das Pianissimo manchmal in Dimensionen des Existentiellen ab, ins Nichts gewissermaßen, die auch den weitsichtigsten Pionieren der Klassik noch fremd waren. Oder es fällt der schonungslosen Sezierung des Adagios KV 546 ein wenig dessen barocke Feierlichkeit zum Opfer. Und die nachfolgende Fuge gerät angesichts der Vielzahl der entdeckten motivischen Details ins Stottern. Doch dann wieder versprüht das Es-Dur-Quartett Köchelverzeichnis 428 einen solchen Charme und klingt in seinen klugen Gedanken so wohl artikuliert, dass man Joseph Haydn sofort zustimmen möchte, der nach der Uraufführung des Werks gegenüber Leopold Mozart gesagt haben soll: Sein Sohn sei der größte Komponist, den er von Person und dem Namen nach kenne.

    Mozart, Quartett KV 428, I auf Ende

    Allegro non troppo – so überschrieb Wolfgang Amadeus Mozart diesen ersten Satz seines Streichquartetts in Es-Dur KV 428. Wir hörten den Satz in einer neuen Aufnahme des Chiaroscuro-Quartetts mit Alina Ibragimova als erster Geigerin. Die zweite CD des Ensembles enthält außerdem Mozarts Adagio und Fuge in c-Moll und das sogenannte Quartetto serioso, das f-Moll-Streichquartett op. 95 von Ludwig van Beethoven. Das Album ist erscheinen beim Label Aparté und wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.


    Beethoven – Mozart. Chiaroscuro Quartet
    Interpret: Chiaroscuro-Quartet: Alina Ibragimova, Pablo Hernán Benedí, Emilie Hörnlung, Claire Thirion
    Label: Aparté
    Bestellnummer: AP051
    EAN: 3149028031324