Dienstag, 30. April 2024


Ein starkes Europa bauen

Als Thomas Mann im Mai 1945 zum Ende des Zweiten Weltkrieges in der Washingtoner Bibliothek des amerikanischen Bundesparlaments sprach, da ging er mit unserem Land sehr kritisch um. Doch am Schluss seiner Ansprache ließ er die Zuhörer in seine eigene deutsche Seele schauen: Dass ich so zu Ihnen über Deutschland gesprochen habe - so etwa formulierte er -, das zeigt, dass ich selbst ein Deutscher bin. Denn kein Volk sei so selbstkritisch und neige so zur Selbstzerfleischung wie die Deutschen. Ich denke, wir haben uns kaum geändert.

Von Klaus von Dohnanyi | 25.09.2006
    Überlegen Sie doch mal: Wir haben seit 1989 die erste Osterweiterung der Europäischen Union - ich meine natürlich unsere Wiedervereinigung - fast reibungslos im eigenen Land vollzogen; wir bauten den ehemaligen Ost-Staat, DDR, größer als die Niederlande, in 15 Jahren wieder auf; weltweit sind wir der größte Exporteur von Waren und der drittgrößte von Dienstleistungen - aber wir diskutieren nur darüber, was uns fehlt.

    Mehr "Stolz" wird uns empfohlen; eine deutsche "Leitkultur" sollen wir formulieren; unsere "Identität" wiederfinden. In unserem persönlichen Leben würden solche Vorschläge wenig fruchten: Wer seine Identität erst suchen muss, der hat wohl keine; wer seine Lebensvorstellungen erst aufschreiben muss (also seine "Leitkultur"), dem wird sich bald die Feder sträuben; und Stolz hat man, oder man hat ihn nicht.

    Wir alle waren erstaunt von der fröhlichen Stimmung während der Weltmeisterschaft. Und mancher erwartet nun vom freudigen Mut der deutschen Nationalmannschaft einen Aufschwung aus der deutschen Verzagtheit. Aber was hatte denn diesen Stimmungswandel in Deutschland verursacht? Ich denke es war so: Die Klinsmänner hatten zunächst ein Ziel: nämlich die Weltmeisterschaft. Sodann den Mut zu neuen Wegen, zum Risiko. Und dann kam eben das, was glücklich macht: das Erfolgserlebnis. Aber ohne den Mut zum Risiko hätte es dieses Erfolgserlebnis wohl kaum gegeben!
    Was ist daraus zu lernen? Deutschlands Aufgaben und Ziele gilt es zu verstehen und nicht Deutschlands "Stolz" oder "Identität" zu suchen. Und diese Ziele müssen mehr sein als wirtschaftlicher Erfolg. Ich denke die Aufgabe heißt: ein starkes, friedliches Europa zu bauen.

    Wir Deutschen besitzen viel für eine wichtige Rolle im Einigungsprozess Europas. Zunächst: Keine Nation Europas hat so viele Nachbarn: Wir sind eben die geographische Mitte, auch der größte Sprachraum des Kontinents. Kein anderes Land in Europa besteht aus einem West- und einem ehemaligen Oststaat. Wir kennen also beide europäischen Erfahrungen. Anders als alle unsere Nachbarn leben wir auch in einem Gleichgewicht der Konfessionen von Katholiken und Protestanten. Bis zu den Verbrechen der Nazi-Jahre waren auch Juden und Christen bei uns kulturell eng verflochten; und nun erleben wir ein Wiedererstehen jüdischer Gemeinden. Auch eine bedeutende muslimische Gemeinschaft wächst.

    Und schließlich: In der EU leben nur Deutschland und Österreich in einer Geschichte der Konföderation. Und nur der Föderalismus kann das Leitbild der zukünftigen politischen Gestalt Europas sein.

    Doch wir erkennen unsere Chancen und Aufgaben nicht. Wir sind uns unserer besonderen Voraussetzungen und damit auch unserer Stärke und unserer Verantwortungen, kaum bewusst. Bang fragen wir: Wird uns nicht unsere Geschichte im Wege sein? Nein, meine ich - wenn wir diese Geschichte kennen, sie gelernt haben und sie dann aber auch für eine neue Zukunft mutig hinter uns lassen. Wenn wir ebenso bescheiden wie entschlossen auftreten. Wenn wir unsere kleinen und großen Nachbarn verstehen und einbeziehen. Wenn wir eben führen, aber ohne Arroganz und Besserwisserei.

    Unsere Verzagtheit wird erst weichen, wenn wir unsere Möglichkeiten für Europa mit Mut zum Tragen bringen. Wenn wir die Risiken unserer Verantwortung nicht mehr scheuen. Dann werden wir auch Zuhause wieder zuversichtliche und freudigere Töne hören. Mit einem mutigen und revolutionären Preislied hatte Walther von Stolzing als Erneuerer den alten Männergesangsverein in Richard Wagners "Meistersinger" aufgemischt und sogar die Beckmesser zum Schweigen gebracht. Auch eine Erinnerung, die Mut machen kann, und die wir klingen lassen können in unserem Land der Musik.


    Klaus von Dohnanyi, 1928 in Hamburg geboren, war von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt. Der Sohn des Widerstandskämpfers Hans von Dohnanyi und Neffe Dietrich Bonhoeffers studierte nach dem Zweiten Weltkrieg Jura und arbeitete zunächst als Anwalt und Wirtschaftsmanager. Seit der Wende 1989 engagiert er sich unter anderem als Politikberater für den Aufbau Ost.

    Den neuen Patriotismus in Deutschland assoziiert er mit "Walthers Preislied" aus Richard Wagners Oper "Die Meistersinger".