Albrecht Betz lehrt Literaturgeschichte in Aachen und Paris. Er veröffentlichte zahlreiche Essays zur deutschen und französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. 2002 erschien sein Buch "Französisches Pathos. Selbstdarstellung und Selbstinszenierung".
Zweimal in der Geschichte unserer Literatur, im 18. und im 19. Jahrhundert, wurde der Ausdruck "deutscher Voltaire" geprägt und in Umlauf gebracht; das war - auf Wieland wie auf Heine bezogen - keineswegs nur schmeichelhaft gemeint. Eher verbanden sich darin Bewunderung und Schmähung - und mehr als nur ein Hauch von Ausgrenzung blieb atmosphärisch präsent. Die Frage nach dem "warum ?" führt sofort zu jener nach der wechselseitigen Selbst- und Fremdwahrnehmung zwischen Deutschen und Franzosen. Gibt es unter den historisch eingeschliffenen Klischees eines, das so weit zurückreicht, dass es die vielzitierte Erbfeindschaft der beiden Nachbarländer für viele Generationen zu grundieren vermochte ?
Man könnte, höflicherweise, zuerst den Franzosen das Wort geben: ihr Vorwurf gilt der Schwerfälligkeit, der lourdeur der Deutschen, die sie zu so anstrengenden, oft auch rücksichtslosen Wesen im Umgang mache; für sich selbst reklamieren sie als hohe Werte: Esprit und Eleganz, Klarheit und Formbewusstheit und eine im Vergleich höhere Geschwindigkeit des Denkens, Assoziierens und Sprechens.
Umgekehrt galt der deutsche Standardvorwurf - man muss sagen: galt, denn nach dem II. Weltkrieg kam es bekanntlich zur Aussöhnung und Freundschaft zwischen beiden Nationen - der deutsche Vorwurf an die Adresse der Franken auf der anderen Seite des Rheins galt ihrer Frivolität, ihrer angeblichen Oberflächlichkeit, ihrem Mangel dessen, was man für sich selbst reklamierte: Ernst und Ordnung, edle Einfalt, Keuschheit und Tiefe.
Mit viel Pathos wurde noch im I. Weltkrieg die deutsche Kultur der Innerlichkeit gegen die Äußerlichkeit französischer Zivilisation aufgeboten - man denke nur an Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen".
Im lange Zeit geläufigen Begriff wie dem der "Franzosenkrankheit" verband sich ein Äußerliches der Erscheinung - die Unreinheit der Haut - mit dem Liederlichen des Wesens, das sie herbeigeführt habe: der Mangel an Treue, an freiwilligem Verzicht, an Entsagung. Übertragen ins Allgemeine, auf Politik, Religion und Gesellschaft hieß das: auf das Verhalten der Franzosen - mit ihrer Neigung zu Ironie, Spott und Satire, zu Rebellion und Revolution - ist kein Verlass; wer als Deutscher ihrer Denk- und Lebensweise zuneigt ist ein unsicherer Kadett, ein subversives Element. Wohnen nicht Leichtlebigkeit und Vaterlandslosigkeit, dicht beieinander? Als Verwandter Voltaires zu gelten war in Deutschland - je nach Zeitumständen - ein gefährdeter Ort.
Und ausgerechnet Wieland und Heine, die zu den meistgelesenen Autoren ihres Jahrhunderts zählten, sollten diese ‚geistige' Franzosenkrankheit eingeschleppt haben ?
" Untergründig verläuft daher die Linie Wieland-Heine, "
schreibt Friedrich Sengle zu recht; der Versuch lohnt, diese Linie ein wenig freizulegen.
In einem Nachwort zur Neuauflage des "Buchs der Lieder", das nicht durch die Zensur kam, protestiert Heine 1838 von Paris aus gegen "die feigen Umtriebe... gewisser Verfechter der Moral und des Patriotismus", die in Deutschland - den reaktionären Zeitgeist nutzend - gegen ihn polemisierten, als "frivolen Dichter" und "Franzosenfreund", ohne dass er sich wehren könne; einige Zeilen später erwähnt er...
" ... bei Aufzählung jener Männer, die dem schwäbischen Boden entsprossen (und) zu europäischem Ruhm gelangt sind... den Namen des vielgefeierten und herrlichen Wieland." "
Mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor hatte der von den vaterländischen Barden des Göttinger Hainbunds zu hören bekommen, er sei ein "Wollustsänger" und frivoler Epikuräer, als "Priester der Geilheit" repräsentiere er zugleich den Geist der Franzosen. Johann Heinrich Voß berichtet begeistert von einer heftig zechenden Dichtergesellschaft, die - Gläser in der Hand - mit dem Trinkspruch endete:
" Es sterbe der Sittenverderber Wieland, es sterbe Voltaire... "
Wenig später schreibt derselbe Voß von einer Klopstockfeier:
"Nun war das Gespräch warm. Wir sprachen von Freiheit, die Hüte auf dem Kopf, von Deutschland, von Tugendgesang, und du kannst denken, wie. Dann aßen wir, punschten, und zuletzt verbrannten wir Wielands...Bildnis. "
Man könnte versucht sein, derlei als peinliche provinzielle Borniertheit abzutun, gründend in zeitbedingter deutscher Kleinstaaterei und kernig-philiströser Spießigkeit. Aber der Mangel an Toleranz, an Aufgeklärtheit, man könnte auch sagen: an Welt, lässt anderes sichtbar werden. Die Koppelung der Anwürfe Laszivität und Ausländerei läuft auf den Einwand hinaus, Wieland sei nicht deutsch. Ganz ähnlich später bei Heine, nur dass es seine Gegner beim Versuch der Ausgrenzung noch leichter haben: seiner jüdischen Herkunft wegen und weil er im Pariser Exil lebt. Gemeinsam ist beiden ihr Kosmopolitismus und ihre skeptische Haltung gegenüber moralischer Bevormundung durch Kirche und Konvention: als wichtige Voraussetzung eines emanzipierten Daseins.
Das war für Heine als geborenen Außenseiter leichter als für Wieland, der sich als Pfarrerssohn von den religiösen Paradigmen seines Elternhauses zu emanzipieren hatte. Beide teilen die reflektierte, wohl auch instinktive - Ablehnung eines jeglichen Fundamentalismus und dogmatischer Einengung. Ihre Vermittlung zwischen den Kulturen und, dadurch gefördert: ihr hohes Stilbewusstsein; all dies lässt sie zu - nach Nietzsches Ausdruck - guten Europäern werden.
Dabei verbindet sich beider antiautoritäre Haltung mit der Rehabilitation der Sinnlichkeit.
Vor allem fällt einem ihr Gestus eines unangestrengten Dialogs mit dem Leser auf, die den zum Komplizen des besseren Arguments, der höheren Einsicht macht: mit dem intellektuellen Vergnügen am scheinbar mühelosen Umgang mit Formen, Bildern und Ideen.
" Ergetzen ist der Musen erste Pflicht,
Doch spielend geben sie den besten Unterricht ... "
... so Wielands poetologischer Wahlspruch im Feenmärchen Idris und Zenide. Nicht umsonst spielt Körperlichkeit und ihre Inszenierung im Tanz in beider Texten eine eminente Rolle, als Ausdruck - durchaus auch im Rückgriff auf ‚heidnische' Mythologie - der Bewegung und des Protests gegen die Unterdrückung der Natur. Wenn der junge Wieland von "heiliger Prüderie und affektierter Züchtigkeit" spricht, wendet er sich gegen die - heute skurril wirkende - Leibfeindlichkeit der ihn umgebenden Gesellschaft. Wielands Auffassung des Tanzes ist überwiegend anthropologisch und psychologisierend, außerhalb der Pole aristokratischer Immoralität oder anakreontischer Tändelei; mit dem ‚Tanz der Grazien' - zugleich ein Bild für seine Dichtung - sucht er, empfindsame Impulse erotisch zu kultivieren, den Sensualismus einzubürgern, ihm Raum zu schaffen in einer Tradition deutscher Geistlastigkeit. Der Held Agathon in Wielands gleichnamigem Roman - nebenbei: der erste in der Reihe der deutschen Bildungs- und Erziehungsromane und Vorbild für Goethes Wilhelm Meister - Agathons Schwärmerei wird von der schönen Danae durch einen Tanz besiegt, in dem sie die ‚Flucht' der Daphne vor dem begierigen Apoll nachspielt. Hier wird in aufklärerischem Geist gegen die Sinnenfeindlichkeit zu Felde gezogen.
Heine geht darüber hinaus, geschichtlich und politisch, wohl wissend - und wünschend - dass das Sich-Befreien von körperlicher Repression soziale Weiterungen nach sich zieht. Übrigens durchaus eingedenk der Ambivalenzen, des dialektischen Umschlags, der bacchantisch-dämonischen Dimension, die Tanz als Entfesselung auch gewinnen kann.
Ein Element der "untergründigen Linie", die Wieland mit Heine verbindet, ist beider konsequente Diesseitigkeit. Sie halten die sinnliche Liebe für den ersten und ursprünglichsten Trieb der Menschennatur, wie auch - zwischen ihnen stehend - Goethe, der die Sirenen in seiner Klassischen Walpurgisnacht singen lässt:
" "So herrsche denn Eros der alles begonnen!"
Im schwäbischen Biberach, der Stadt seiner Herkunft, entstanden in den 1760er Jahren - noch vor der Übersiedlung nach Erfurt und Weimar - Wielands Glanzstücke bezaubernder Rokokokunst, darunter Das Urteil des Paris. Bekanntlich soll der Hirt Paris von drei schönen Göttinnen - Hera, Athene und Aphrodite - eine zur Schönsten erwählen und ihr einen goldenen Apfel überreichen. Wie nun setzt Wieland die Idee szenisch ins Bild, dass Justiz, die ihren Namen verdiene, buchstäblich von der nackten Wahrheit Kenntnis zu nehmen habe ?
Er lässt Paris mit einem "Amtsgesicht" verkünden, er könne seine Richterpflicht nur erfüllen, wenn er die drei Göttinnen hüllenlos sehe und er begründet das ihnen gegenüber so:
"Weil, wie bekannt, sich zwischen Hals und Fuß
Verschiednes eingehüllt befindet,
Das in Betrachtung kommen muß,
Und das Apollo selbst durch Raten nicht ergründet
So zeigt Euch alle drei in Naturalibus!"
Wie, meinst Du, würden unsre Weiber
Zu einem solchen Antrag schrein ?
Der Aufruhr wär unfehlbar allgemein.
Das gingen sie in Ewigkeit nicht ein !
Sie sollten ihre heilgen Leiber
Vor Männeraugen so entweihn?
Sich kritisch untersuchen lassen,
Ob nichts zu groß, ob nichts zu klein,
Zu lang, zu kurz ? Ob alle Teile fein
Symmetrisch aneinander passen,
Der Kunst gemäß, auch Alles edel, frei,
Untadelig und rund und lieblich sei ?
...
Nur Pallas schlägt die Augen züchtig nieder,
Wie Jungfern ziemt; sie sträubt sich lange noch,
Da Juno schon gehorcht, und hofft, man lass ihr doch
Zum Wenigsten - ein Röckchen und ihr Mieder.
"Ein Röckchen ? Ei, das wäre fein !
Des Richters Ernst geht keine Klauseln ein.
Nur hurtig ! Zieht Euch ab ! Was sein soll, muß geschehen!"
...
Nur Pallas will sich nicht
Von ihrem Unterrocke scheiden,
Bis Paris ihr zuletzt verspricht,
Wenn sie noch länger säumt, sie selber auszukleiden. "
Der Richter, der auf der Wahrheitsfindung insistiert: in seinem Charme, Leichtigkeit und stilistischer Virtuosität eine Lektion für Juristen.
Wieland, bemerkt Herder, verfolge...
" ... gewiss einen edleren Zweck, als uns bloß...zu amüsieren... Seine oft missverstandene Philosophie ist doch am Ende Weisheit des Lebens"... "
... was meint: sein Streben gilt einer verbindlichen Lebensphilosophie, mit einem eigenen Titel von 1778: Philosophie als eine Kunst zu leben. Im späten, auf seinem Gut Ossmannstedt um 1800 entstandenen Briefroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen schreibt Aristipp der schönen Lais - eine der ersten Gestalten einer emanzipierten Frau in der deutschen Literatur - er habe es Sokrates...
" ... zu danken, dass er sich kein geringeres Ziel als Lebensweisheit vorgesteckt habe. "
Goethe, in seiner Gedächtnisrede auf Wieland in der Weimarer Freimaurerloge ‚Amalia', betont (1813), bei allem geistreich Spielerischen habe Wieland nie mit seinen Gesinnungen gespielt - wir würden heute sagen, er habe sich - bei aller formalen Konzilianz - die intellektuelle Qualität des Neig-Sagens erhalten. Goethe wörtlich:
" Wieland kündigt allem... den Krieg an, zuvörderst also der platonischen Liebe. "
Es ist dieser Anti-Asketismus, in dem sich Heine mit Wieland berührt, vor allem seit seiner Übersiedlung nach Paris, 1831, aber auch schon in den vorausliegenden Italienischen "Reisebildern". Seine subversive Strategie beruht auf der Überzeugung, dass die literarisch-erotische Säkularisierung religiöser Formeln und Gehalte eine antiautoritäre Bewusstseinslage zu schaffen vermöge und dass die Befreiung von Glaubensfesseln Voraussetzung sei der politischen Emanzipation. In einem dieser Reisebilder, "Die Stadt Lucca", schildert er seinen Besuch in einer Kirche.
" Da sitze ich, mit phantasierender Seele der seltsamen Musik noch seltsamere Texte unterdichtend; dann und wann schweifen meine Blicke durch die dämmernden Bogengänge und suchen die dunklen Klangfiguren, die zu jenen Orgelmelodien gehören. Wer ist die Verschleierte, die dort kniet vor dem Bilde einer Madonna ? Die Ampel, die davor hängt, beleuchtet grauenhaft süß die schöne Schmerzensmutter einer gekreuzigten Liebe, die Venus dolorosa; doch kupplerisch geheimnisvolle Lichter fallen zuweilen wie verstohlen auf die schönen Formen der verschleierten Beterin. "
Im Verlauf erkennt der Erzähler eine angebliche frühere Geliebte, begleitet sie, nachdem sie die Kirche verlassen hat, arrangiert es, dass er ihre - einem frommen Abbate ("Cecco") zugedachten - Küsse erhält und kommentiert dies:
" Als Protestant machte ich mir kein Gewissen daraus, mir die Güter der katholischen Geistlichkeit zuzueignen, und auf der Stelle säkularisierte ich die frommen Küsse Franscheskas. Ich weiß, die Pfaffen werden hierüber wütend sein, sie schreien gewiss über Kirchenraub... Meine schöne, oftgeküsste, schlanke, katholische Franscheska! Für diese einzige Nacht, die du mir noch gewährst, will ich selbst katholisch werden - aber auch nur für die einzige Nacht! O, die schöne, selige katholische Nacht! Ich liege in deinen Armen, streng katholisch glaube ich an den Himmel deiner Liebe, von den Lippen küssen wir uns das holde Bekenntnis, das Wort wird Fleisch, der Glaube wird versinnlicht in Form und Gestalt, welche Religion! Ihr Pfaffen! Jubelt unterdessen eu'r Kyrie Eleison, klingelt, räuchert, läutet die Glocken, lasst die Orgel brausen, lasst die Messe von Palästrina erklingen: "Das ist der Leib!"
Der Austausch des religiös-andächtigen durch den psychologisch-sinnlichen Bereich hat die Aufgabe, jene Religiosität abzubauen, die in Heines Augen zugleich "Stütze des Despotismus" ist. Seine Frivolität wird zum Instrument der Aufklärung. Entlarvt wird das klerikale Interesse an der Verteufelung der Lust; dessen Ziel ist, dass die Unterdrückung der sexuellen Befriedigung zur Demut und Entsagung auch gegenüber anderen materiellen und politischen Ansprüchen führen soll. Die operativ eingesetzte Frivolität hat als Protest mithin eine doppelte, psychologische und soziale Funktion. Indem mit der trübseligen "Delinquentenreligion" zugleich die "Machthaber" kritisiert werden, denen "Vermummen... höchstes Ziel und das Nacktgöttliche...fatal" ist, wird die gepredigte Scham entzaubert und bloßgestellt als Waffe zur Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse. Das Volk, so konstatiert Heine, fordert allererst "gutes Brot und schönes Fleisch"; es protestiert mit Recht gegen die Missachtung der beiden Grundtriebe Hunger und Liebe.
Protest - als erster Ausdruck emanzipatorischer Regungen - ist aber auch die ursprüngliche Substanz des Protestantismus. Um diesem Geist des Widerstands wieder aufzuhelfen, versucht Heine den Begriff auszuweiten, über die Konfessionsbezeichnung hinaus, um zugleich an die Reformation als einen der wenigen gelungenen Befreiungsakte der deutschen Geschichte anknüpfen zu können. So schreibt er in seinem Essay "Die Romantische Schule" über die Renaissance:
"In der Kunst wie im Leben regte sich ein gleichzeitiger Protestantismus: Papst Leo X., der prächtige Medizäer, war ein ebenso eifriger Protestant wie Luther; und wie man zu Wittenberg in lateinischer Prosa protestierte, so protestierte man in Rom in Stein, Farbe und Ottaverime. Oder bilden die kraftvollen Marmorgestalten des Michelangelo, die lachenden Nymphengesichter des Giulio Romano und die lebenstrunkene Heiterkeit in den Versen des Ariost nicht einen protestierenden Gegensatz zu dem altdüstern, abgehärmten Katholizismus? Die Maler Italiens polemisierten gegen das Pfaffentum vielleicht weit wirksamer als die sächsischen Theologen. Das blühende Fleisch auf den Gemälden des Tizian, das ist alles Protestantismus. "
Mit der Einsicht, dass die Befreiung der Sinnlichkeit ein emanzipatorischer - und in der Verlängerung: politischer - Akt ist, eilt Heine seinem prüden Jahrhundert weit voraus. Er preist als vorbildlich etwa an Luther dessen Auflehnung gegen das kirchliche schlechte Bestehende; zugleich aber kritisiert er, dass sein Protest unvollständig, nur einer des Glaubens geblieben sei; die genussfeindliche Engherzigkeit, Puritanismus, Mangel an weltlicher Kultur und Raffinement, aber auch Untertanengesinnung werden seine Folgen sein.
Nicht wenige Beispiele aus Prosa und Lyrik Heines ließen sich als Belege dafür beibringen, dass er sich bewusst gegen eine Konzeption stellt, wonach die Darstellung des Eros einzig unter der Lüge der Sublimation erlaubt sei, die den Trieb verdünnt.
In Wielands schon erwähntem "Agathon", den Heine gut kannte, heißt es:
" Alle Welt kommt darin überein, dass ein schönes Weib das schönste unter allen Werken der Natur sei. "
Ironisch konkretisiert wird dies in der orientalisierenden "Geschichte des weisen Danischmend"
" Bei allen Huris des Paradieses, das nenn' ich eine Frau ! Zu meinem Unglücke hatte sie den einzigen Fehler, dass sie ein wenig zu eilfertig in ihren Sachen war und nicht aufhören konnte. In wenigen Wochen war meine Stimme weg, und ich wurde so dünn, dass die Sonne durch mich schien. "
Der Akt der Schöpfung und der Heilige Geist sind für Heine Begriffe mit metaphysischen Ansprüchen, die nach dem Schwund der Glaubenssubstanz unerfüllt bleiben und neuer Besetzung fähig sind. Der Versuch, Gott zu erkennen, bedeutet - in Heines pantheistischer Wendung - ihn in der Natur zu erkennen. Da nun Erkennen bereits in der Bibel das "Eins werden mit" bezeichnet und da Gott selber des Weibes Leib als Gedicht ins Stammbuch der Natur geschrieben hat, bedeutet die Erkenntnis Gottes (in poetischem Kurzschluss) Einswerden mit des Weibes Leib.
Das Ergebnis wird ironisch überzogen. "Die Beine werden mir so dünn..." - damit versichert der Dichter zum Schluss eindringlich: den wahren Gottesdienst betreibe der Gläubige mit religiöser Inbrunst. Mit solcher Hingabe widme er sich dem "vielen Studieren", dass zumindest sein Äußeres dem des Asketen gleichkomme. Derart, im Rückgriff auf religiöses Vokabular, unterstreicht er parodistisch seinen - durch authentisches Vorleben legitimierten - Verkündigungsanspruch für seine neue Religion.
Diese neue Religion, aus der er sein gesellschaftliches Sendungsbewusstsein zieht, ist der Pariser Saint-Simonismus. Unter dem Einfluss dieses Frühsozialismus stehen um 1830 die fortschrittlichsten Intellektuellen der französischen Hauptstadt. Zu seinen Forderungen zählt die vielzitierte "Emanzipation des Fleisches". Das Gedicht, in dem Heines Saint-Simonismus und Pantheismus miteinander verschmelzen, gehört zum Seraphine-Zyklus der frühen Pariser Jahre.
" Auf diesem Felsen bauen wir
Die Kirche von dem dritten,
Dem dritten neuen Testament;
Das Leid ist ausgelitten.
Vernichtet ist das Zweierlei,
Das uns so lang betöret;
Die dumme Leiberquälerei
Hat endlich aufgehöret.
Hörst du den Gott im finstern Meer:
Mit tausend Stimmen spricht er.
Und siehst du über unserm Haupt
Die tausend Gotteslichter ?
Der heilge Gott der ist im Licht
Wie in den Finsternissen;
Und Gott ist alles was da ist;
Er ist in unseren Küssen. "
Indessen konnte Heine die physischen Aspekte auch bis zum Grotesken hin spielerisch übertreiben; da konnte dann die "Vergeistigung" auf der Strecke bleiben, wenn er einen Ton forcierte, der das Großstädtisch-Kabarettistische - die spätere Linie Wedekind/Tucholsky - vorwegnahm. Das klingt dann, etwa mit dem Titel Diana, so:
" Diese schönen Gliedermassen
Kolossaler Weiblichkeit
Sind jetzt, ohne Widerstreit,
Meinen Wünschen überlassen.
Wär' ich leidenschaftentzügelt,
Eigenkräftig ihr genaht,
Ich bereute solche Tat!
Ja, sie hätte mich geprügelt.
Welcher Busen, Hals und Kehle!
(Höher seh' ich nicht genau.)
Eh' ich mich ihr anvertrau'
Gott empfehl' ich meine Seele. "
Die Voltairesche Formel, vom Erhabenen zum Lächerlichen sei nur ein Schritt, ist Wieland ebenso wie Heine geläufig, sie wissen, dass sie in einer alten ironisch-satirischen Tradition wurzeln, die - nicht erst seit Erasmus - mit humanistischer Gesellschaftskritik eng verwoben ist - einer produktiven Kritik, die, wie Aufklärung, als unabgeschlossener - und als un-abschließbarer - Prozess zu verstehen ist.
Das große Epochenereignis: die Französische Revolution, referiert und kommentiert Wieland in seinem Diskussionsforum Teutscher Merkur mit Wohlwollen und Kompetenz, in zahlreichen Beiträgen; sie spiegeln seine späte, antiabsolutistische Wende, zeigen, dass er sich bereits für den liberalen Rechtsstaat einsetzt und weit fortschrittlichere Positionen einnimmt, als sein Dichterkollege und amtierender Minister Goethe. Natürlich kann er nur Samen ausstreuen. Die großen Losungsworte der Epoche: Vernunft, Freiheit, Toleranz, Emanzipation, Verbürgerlichung sind zwar in der Welt - als Forderungen ; von ihrer Verwirklichung ist man weit entfernt. Das unheilige Bündnis von Thron und Altar wird noch ein Jahrhundert lang halten. Dagegen schreiben beide an: Wieland ebenso wie noch, drei Generationen später, Heine, den die Julirevolution von 1830 nach Frankreich geführt hatte. Dass beide die Wurzel des irdischen Übels in der Verbindung von politischer und religiöser Unterdrückung erkannten, wurde bereits erwähnt; keine eingreifende Besserung sei möglich, schreibt Wieland, solange "die menschliche Natur unter den Fesseln seufzt, in welche die Tyrannei des Aberglaubens und willkürlich ausgeübter Staatsgewalt... sie geschmiedet hat."
Heine, bereits Zeitgenosse der industriellen Revolution, fordert:
" Schon hier auf Erden möchte ich durch die Segnungen freier politischer und industrieller Institutionen jene Seligkeit etablieren, die nach der Meinung der Frommen erst am Jüngsten Tage, im Himmel stattfinden soll.... Es gibt keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit. "
Derlei diesseitige Hoffnungen scheinen - phasenweise - auf Verwirklichungschancen zu treffen.
Dass der historische Prozess aber auch im Krebsgang verlaufen, dass restaurative Tendenzen erneut die Oberhand gewinnen können, dafür ist Heines Marie Antoinette-Gedicht aus dem letzten Gedichtzyklus Romanzero ein sprechender Beleg. Thema ist das Wiedererstarken feudaler Verhältnisse, des Ancien régime in Frankreich, nach der abgewürgten Revolution von 1848. Heine präsentiert eine schein-poetische Rokoko-Inszenierung, die von Beginn an etwas unwirklich Gespenstisches hat, denn sie spielt zugleich vor und nach 1789. Im Französischen heißt übrigens Gespenst deutlicher: 'revenant', Wiedergänger.
" Wie heiter im Tuilerienschloss
Blinken die Spiegelfenster,
Und dennoch dort am hellen Tag
Gehn um die alten Gespenster.
Es spukt im Pavillon de Flor'
Maria Antoinette;
Sie hält dort morgens ihr Lever
Mit strenger Etikette. "
Das gesamte Figurenarsenal erscheint im folgenden ohne Kopf:
" Das sind die Folgen der Revolution
Und ihrer fatalen Doktrine;
An allem ist schuld Jean Jacques Rousseau,
Voltaire und die Guillotine. "
Das Ankleidezeremoniell mündet in eine Schlusspointe, eine karikaturale Verzerrung, eine frivole Grimasse - ein Extremfall satirischer Aufklärung:
" Die Oberhofmeisterin steht dabei,
Sie fächert die Brust, die weiße,
Und in Ermangelung eines Kopfs
Lächelt sie mit dem Steiße. "
Natürlich verdankt Heine es anderen Texten, dass man ihn den "ungezogenen Liebling der Grazien" nannte.
Wielands Verseerzählung "Musarion", in lockeren Alexandrinern einherperlend, konnte sich, ein knappes Jahrhundert zuvor, noch ganz unverzerrt und anmutig als "Philosophie der Grazien" zu erkennen geben; graziös philosophieren bedeutet: nicht mehr fanatisch philosophieren, ein Plädoyer zugleich für den Genuss des Augenblicks und Lebensfreude.
Im Verlauf findet "Musarion" eine kontroverse Aufnahme. Daraus zwei Stimmen, eine künstlerisch rühmende und eine moralisch vernichtende. Im siebten Buch von "Dichtung und Wahrheit" erinnert sich Goethe:
" "Musarion" wirkte am meisten auf mich... Hier war es, wo ich das Antike lebendig und neu wiederzusehen glaubte."
Eichendorff hingegen empört sich, hier seien "Zucht und Unzucht" miteinander verkuppelt:
" In dieser Kuppelei aber sind die Grazien gezeugt, für deren Dichter Wieland gilt; griechische Hetären, die französisch von Tugend plaudern und vor den Spiegeln ihrer Boudoirs in künstlichen Ballettstellungen die verlorene Unschuld nachmachen. "
Fast wundert man sich, dass nicht auch der längst gängige Vorwurf der Frivolität bemüht wird von Eichendorff, der - ressentimentgeladen - den Text völlig verkennt. Denn in "Musarion" gelingt es der Titelheldin, den Jüngling Phanias von seiner Zerrissenheit zwischen religiöser Schwärmerei und lebensfeindlicher Askese zu befreien und zur natürlichen Lebensfreude zurückzuführen, indem sie Tugend und Sinnlichkeit miteinander versöhnt. Der Erzähler kommentiert auch dies liebenswürdig mit leichter Ironie:
" Unwiderstehlich, sagt man, sei
Der Weisheit Reiz aus einem schönen Munde.
Wir gebens zu, so fern euch nicht dabei
Aus einem Nachtgewand mit nelkenfarbnem Grunde
Ein Busen reizt, der, jugendlich gebläht,
Die Augen blendt und niemals stille steht. "
Zweimal in der Geschichte unserer Literatur, im 18. und im 19. Jahrhundert, wurde der Ausdruck "deutscher Voltaire" geprägt und in Umlauf gebracht; das war - auf Wieland wie auf Heine bezogen - keineswegs nur schmeichelhaft gemeint. Eher verbanden sich darin Bewunderung und Schmähung - und mehr als nur ein Hauch von Ausgrenzung blieb atmosphärisch präsent. Die Frage nach dem "warum ?" führt sofort zu jener nach der wechselseitigen Selbst- und Fremdwahrnehmung zwischen Deutschen und Franzosen. Gibt es unter den historisch eingeschliffenen Klischees eines, das so weit zurückreicht, dass es die vielzitierte Erbfeindschaft der beiden Nachbarländer für viele Generationen zu grundieren vermochte ?
Man könnte, höflicherweise, zuerst den Franzosen das Wort geben: ihr Vorwurf gilt der Schwerfälligkeit, der lourdeur der Deutschen, die sie zu so anstrengenden, oft auch rücksichtslosen Wesen im Umgang mache; für sich selbst reklamieren sie als hohe Werte: Esprit und Eleganz, Klarheit und Formbewusstheit und eine im Vergleich höhere Geschwindigkeit des Denkens, Assoziierens und Sprechens.
Umgekehrt galt der deutsche Standardvorwurf - man muss sagen: galt, denn nach dem II. Weltkrieg kam es bekanntlich zur Aussöhnung und Freundschaft zwischen beiden Nationen - der deutsche Vorwurf an die Adresse der Franken auf der anderen Seite des Rheins galt ihrer Frivolität, ihrer angeblichen Oberflächlichkeit, ihrem Mangel dessen, was man für sich selbst reklamierte: Ernst und Ordnung, edle Einfalt, Keuschheit und Tiefe.
Mit viel Pathos wurde noch im I. Weltkrieg die deutsche Kultur der Innerlichkeit gegen die Äußerlichkeit französischer Zivilisation aufgeboten - man denke nur an Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen".
Im lange Zeit geläufigen Begriff wie dem der "Franzosenkrankheit" verband sich ein Äußerliches der Erscheinung - die Unreinheit der Haut - mit dem Liederlichen des Wesens, das sie herbeigeführt habe: der Mangel an Treue, an freiwilligem Verzicht, an Entsagung. Übertragen ins Allgemeine, auf Politik, Religion und Gesellschaft hieß das: auf das Verhalten der Franzosen - mit ihrer Neigung zu Ironie, Spott und Satire, zu Rebellion und Revolution - ist kein Verlass; wer als Deutscher ihrer Denk- und Lebensweise zuneigt ist ein unsicherer Kadett, ein subversives Element. Wohnen nicht Leichtlebigkeit und Vaterlandslosigkeit, dicht beieinander? Als Verwandter Voltaires zu gelten war in Deutschland - je nach Zeitumständen - ein gefährdeter Ort.
Und ausgerechnet Wieland und Heine, die zu den meistgelesenen Autoren ihres Jahrhunderts zählten, sollten diese ‚geistige' Franzosenkrankheit eingeschleppt haben ?
" Untergründig verläuft daher die Linie Wieland-Heine, "
schreibt Friedrich Sengle zu recht; der Versuch lohnt, diese Linie ein wenig freizulegen.
In einem Nachwort zur Neuauflage des "Buchs der Lieder", das nicht durch die Zensur kam, protestiert Heine 1838 von Paris aus gegen "die feigen Umtriebe... gewisser Verfechter der Moral und des Patriotismus", die in Deutschland - den reaktionären Zeitgeist nutzend - gegen ihn polemisierten, als "frivolen Dichter" und "Franzosenfreund", ohne dass er sich wehren könne; einige Zeilen später erwähnt er...
" ... bei Aufzählung jener Männer, die dem schwäbischen Boden entsprossen (und) zu europäischem Ruhm gelangt sind... den Namen des vielgefeierten und herrlichen Wieland." "
Mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor hatte der von den vaterländischen Barden des Göttinger Hainbunds zu hören bekommen, er sei ein "Wollustsänger" und frivoler Epikuräer, als "Priester der Geilheit" repräsentiere er zugleich den Geist der Franzosen. Johann Heinrich Voß berichtet begeistert von einer heftig zechenden Dichtergesellschaft, die - Gläser in der Hand - mit dem Trinkspruch endete:
" Es sterbe der Sittenverderber Wieland, es sterbe Voltaire... "
Wenig später schreibt derselbe Voß von einer Klopstockfeier:
"Nun war das Gespräch warm. Wir sprachen von Freiheit, die Hüte auf dem Kopf, von Deutschland, von Tugendgesang, und du kannst denken, wie. Dann aßen wir, punschten, und zuletzt verbrannten wir Wielands...Bildnis. "
Man könnte versucht sein, derlei als peinliche provinzielle Borniertheit abzutun, gründend in zeitbedingter deutscher Kleinstaaterei und kernig-philiströser Spießigkeit. Aber der Mangel an Toleranz, an Aufgeklärtheit, man könnte auch sagen: an Welt, lässt anderes sichtbar werden. Die Koppelung der Anwürfe Laszivität und Ausländerei läuft auf den Einwand hinaus, Wieland sei nicht deutsch. Ganz ähnlich später bei Heine, nur dass es seine Gegner beim Versuch der Ausgrenzung noch leichter haben: seiner jüdischen Herkunft wegen und weil er im Pariser Exil lebt. Gemeinsam ist beiden ihr Kosmopolitismus und ihre skeptische Haltung gegenüber moralischer Bevormundung durch Kirche und Konvention: als wichtige Voraussetzung eines emanzipierten Daseins.
Das war für Heine als geborenen Außenseiter leichter als für Wieland, der sich als Pfarrerssohn von den religiösen Paradigmen seines Elternhauses zu emanzipieren hatte. Beide teilen die reflektierte, wohl auch instinktive - Ablehnung eines jeglichen Fundamentalismus und dogmatischer Einengung. Ihre Vermittlung zwischen den Kulturen und, dadurch gefördert: ihr hohes Stilbewusstsein; all dies lässt sie zu - nach Nietzsches Ausdruck - guten Europäern werden.
Dabei verbindet sich beider antiautoritäre Haltung mit der Rehabilitation der Sinnlichkeit.
Vor allem fällt einem ihr Gestus eines unangestrengten Dialogs mit dem Leser auf, die den zum Komplizen des besseren Arguments, der höheren Einsicht macht: mit dem intellektuellen Vergnügen am scheinbar mühelosen Umgang mit Formen, Bildern und Ideen.
" Ergetzen ist der Musen erste Pflicht,
Doch spielend geben sie den besten Unterricht ... "
... so Wielands poetologischer Wahlspruch im Feenmärchen Idris und Zenide. Nicht umsonst spielt Körperlichkeit und ihre Inszenierung im Tanz in beider Texten eine eminente Rolle, als Ausdruck - durchaus auch im Rückgriff auf ‚heidnische' Mythologie - der Bewegung und des Protests gegen die Unterdrückung der Natur. Wenn der junge Wieland von "heiliger Prüderie und affektierter Züchtigkeit" spricht, wendet er sich gegen die - heute skurril wirkende - Leibfeindlichkeit der ihn umgebenden Gesellschaft. Wielands Auffassung des Tanzes ist überwiegend anthropologisch und psychologisierend, außerhalb der Pole aristokratischer Immoralität oder anakreontischer Tändelei; mit dem ‚Tanz der Grazien' - zugleich ein Bild für seine Dichtung - sucht er, empfindsame Impulse erotisch zu kultivieren, den Sensualismus einzubürgern, ihm Raum zu schaffen in einer Tradition deutscher Geistlastigkeit. Der Held Agathon in Wielands gleichnamigem Roman - nebenbei: der erste in der Reihe der deutschen Bildungs- und Erziehungsromane und Vorbild für Goethes Wilhelm Meister - Agathons Schwärmerei wird von der schönen Danae durch einen Tanz besiegt, in dem sie die ‚Flucht' der Daphne vor dem begierigen Apoll nachspielt. Hier wird in aufklärerischem Geist gegen die Sinnenfeindlichkeit zu Felde gezogen.
Heine geht darüber hinaus, geschichtlich und politisch, wohl wissend - und wünschend - dass das Sich-Befreien von körperlicher Repression soziale Weiterungen nach sich zieht. Übrigens durchaus eingedenk der Ambivalenzen, des dialektischen Umschlags, der bacchantisch-dämonischen Dimension, die Tanz als Entfesselung auch gewinnen kann.
Ein Element der "untergründigen Linie", die Wieland mit Heine verbindet, ist beider konsequente Diesseitigkeit. Sie halten die sinnliche Liebe für den ersten und ursprünglichsten Trieb der Menschennatur, wie auch - zwischen ihnen stehend - Goethe, der die Sirenen in seiner Klassischen Walpurgisnacht singen lässt:
" "So herrsche denn Eros der alles begonnen!"
Im schwäbischen Biberach, der Stadt seiner Herkunft, entstanden in den 1760er Jahren - noch vor der Übersiedlung nach Erfurt und Weimar - Wielands Glanzstücke bezaubernder Rokokokunst, darunter Das Urteil des Paris. Bekanntlich soll der Hirt Paris von drei schönen Göttinnen - Hera, Athene und Aphrodite - eine zur Schönsten erwählen und ihr einen goldenen Apfel überreichen. Wie nun setzt Wieland die Idee szenisch ins Bild, dass Justiz, die ihren Namen verdiene, buchstäblich von der nackten Wahrheit Kenntnis zu nehmen habe ?
Er lässt Paris mit einem "Amtsgesicht" verkünden, er könne seine Richterpflicht nur erfüllen, wenn er die drei Göttinnen hüllenlos sehe und er begründet das ihnen gegenüber so:
"Weil, wie bekannt, sich zwischen Hals und Fuß
Verschiednes eingehüllt befindet,
Das in Betrachtung kommen muß,
Und das Apollo selbst durch Raten nicht ergründet
So zeigt Euch alle drei in Naturalibus!"
Wie, meinst Du, würden unsre Weiber
Zu einem solchen Antrag schrein ?
Der Aufruhr wär unfehlbar allgemein.
Das gingen sie in Ewigkeit nicht ein !
Sie sollten ihre heilgen Leiber
Vor Männeraugen so entweihn?
Sich kritisch untersuchen lassen,
Ob nichts zu groß, ob nichts zu klein,
Zu lang, zu kurz ? Ob alle Teile fein
Symmetrisch aneinander passen,
Der Kunst gemäß, auch Alles edel, frei,
Untadelig und rund und lieblich sei ?
...
Nur Pallas schlägt die Augen züchtig nieder,
Wie Jungfern ziemt; sie sträubt sich lange noch,
Da Juno schon gehorcht, und hofft, man lass ihr doch
Zum Wenigsten - ein Röckchen und ihr Mieder.
"Ein Röckchen ? Ei, das wäre fein !
Des Richters Ernst geht keine Klauseln ein.
Nur hurtig ! Zieht Euch ab ! Was sein soll, muß geschehen!"
...
Nur Pallas will sich nicht
Von ihrem Unterrocke scheiden,
Bis Paris ihr zuletzt verspricht,
Wenn sie noch länger säumt, sie selber auszukleiden. "
Der Richter, der auf der Wahrheitsfindung insistiert: in seinem Charme, Leichtigkeit und stilistischer Virtuosität eine Lektion für Juristen.
Wieland, bemerkt Herder, verfolge...
" ... gewiss einen edleren Zweck, als uns bloß...zu amüsieren... Seine oft missverstandene Philosophie ist doch am Ende Weisheit des Lebens"... "
... was meint: sein Streben gilt einer verbindlichen Lebensphilosophie, mit einem eigenen Titel von 1778: Philosophie als eine Kunst zu leben. Im späten, auf seinem Gut Ossmannstedt um 1800 entstandenen Briefroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen schreibt Aristipp der schönen Lais - eine der ersten Gestalten einer emanzipierten Frau in der deutschen Literatur - er habe es Sokrates...
" ... zu danken, dass er sich kein geringeres Ziel als Lebensweisheit vorgesteckt habe. "
Goethe, in seiner Gedächtnisrede auf Wieland in der Weimarer Freimaurerloge ‚Amalia', betont (1813), bei allem geistreich Spielerischen habe Wieland nie mit seinen Gesinnungen gespielt - wir würden heute sagen, er habe sich - bei aller formalen Konzilianz - die intellektuelle Qualität des Neig-Sagens erhalten. Goethe wörtlich:
" Wieland kündigt allem... den Krieg an, zuvörderst also der platonischen Liebe. "
Es ist dieser Anti-Asketismus, in dem sich Heine mit Wieland berührt, vor allem seit seiner Übersiedlung nach Paris, 1831, aber auch schon in den vorausliegenden Italienischen "Reisebildern". Seine subversive Strategie beruht auf der Überzeugung, dass die literarisch-erotische Säkularisierung religiöser Formeln und Gehalte eine antiautoritäre Bewusstseinslage zu schaffen vermöge und dass die Befreiung von Glaubensfesseln Voraussetzung sei der politischen Emanzipation. In einem dieser Reisebilder, "Die Stadt Lucca", schildert er seinen Besuch in einer Kirche.
" Da sitze ich, mit phantasierender Seele der seltsamen Musik noch seltsamere Texte unterdichtend; dann und wann schweifen meine Blicke durch die dämmernden Bogengänge und suchen die dunklen Klangfiguren, die zu jenen Orgelmelodien gehören. Wer ist die Verschleierte, die dort kniet vor dem Bilde einer Madonna ? Die Ampel, die davor hängt, beleuchtet grauenhaft süß die schöne Schmerzensmutter einer gekreuzigten Liebe, die Venus dolorosa; doch kupplerisch geheimnisvolle Lichter fallen zuweilen wie verstohlen auf die schönen Formen der verschleierten Beterin. "
Im Verlauf erkennt der Erzähler eine angebliche frühere Geliebte, begleitet sie, nachdem sie die Kirche verlassen hat, arrangiert es, dass er ihre - einem frommen Abbate ("Cecco") zugedachten - Küsse erhält und kommentiert dies:
" Als Protestant machte ich mir kein Gewissen daraus, mir die Güter der katholischen Geistlichkeit zuzueignen, und auf der Stelle säkularisierte ich die frommen Küsse Franscheskas. Ich weiß, die Pfaffen werden hierüber wütend sein, sie schreien gewiss über Kirchenraub... Meine schöne, oftgeküsste, schlanke, katholische Franscheska! Für diese einzige Nacht, die du mir noch gewährst, will ich selbst katholisch werden - aber auch nur für die einzige Nacht! O, die schöne, selige katholische Nacht! Ich liege in deinen Armen, streng katholisch glaube ich an den Himmel deiner Liebe, von den Lippen küssen wir uns das holde Bekenntnis, das Wort wird Fleisch, der Glaube wird versinnlicht in Form und Gestalt, welche Religion! Ihr Pfaffen! Jubelt unterdessen eu'r Kyrie Eleison, klingelt, räuchert, läutet die Glocken, lasst die Orgel brausen, lasst die Messe von Palästrina erklingen: "Das ist der Leib!"
Der Austausch des religiös-andächtigen durch den psychologisch-sinnlichen Bereich hat die Aufgabe, jene Religiosität abzubauen, die in Heines Augen zugleich "Stütze des Despotismus" ist. Seine Frivolität wird zum Instrument der Aufklärung. Entlarvt wird das klerikale Interesse an der Verteufelung der Lust; dessen Ziel ist, dass die Unterdrückung der sexuellen Befriedigung zur Demut und Entsagung auch gegenüber anderen materiellen und politischen Ansprüchen führen soll. Die operativ eingesetzte Frivolität hat als Protest mithin eine doppelte, psychologische und soziale Funktion. Indem mit der trübseligen "Delinquentenreligion" zugleich die "Machthaber" kritisiert werden, denen "Vermummen... höchstes Ziel und das Nacktgöttliche...fatal" ist, wird die gepredigte Scham entzaubert und bloßgestellt als Waffe zur Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse. Das Volk, so konstatiert Heine, fordert allererst "gutes Brot und schönes Fleisch"; es protestiert mit Recht gegen die Missachtung der beiden Grundtriebe Hunger und Liebe.
Protest - als erster Ausdruck emanzipatorischer Regungen - ist aber auch die ursprüngliche Substanz des Protestantismus. Um diesem Geist des Widerstands wieder aufzuhelfen, versucht Heine den Begriff auszuweiten, über die Konfessionsbezeichnung hinaus, um zugleich an die Reformation als einen der wenigen gelungenen Befreiungsakte der deutschen Geschichte anknüpfen zu können. So schreibt er in seinem Essay "Die Romantische Schule" über die Renaissance:
"In der Kunst wie im Leben regte sich ein gleichzeitiger Protestantismus: Papst Leo X., der prächtige Medizäer, war ein ebenso eifriger Protestant wie Luther; und wie man zu Wittenberg in lateinischer Prosa protestierte, so protestierte man in Rom in Stein, Farbe und Ottaverime. Oder bilden die kraftvollen Marmorgestalten des Michelangelo, die lachenden Nymphengesichter des Giulio Romano und die lebenstrunkene Heiterkeit in den Versen des Ariost nicht einen protestierenden Gegensatz zu dem altdüstern, abgehärmten Katholizismus? Die Maler Italiens polemisierten gegen das Pfaffentum vielleicht weit wirksamer als die sächsischen Theologen. Das blühende Fleisch auf den Gemälden des Tizian, das ist alles Protestantismus. "
Mit der Einsicht, dass die Befreiung der Sinnlichkeit ein emanzipatorischer - und in der Verlängerung: politischer - Akt ist, eilt Heine seinem prüden Jahrhundert weit voraus. Er preist als vorbildlich etwa an Luther dessen Auflehnung gegen das kirchliche schlechte Bestehende; zugleich aber kritisiert er, dass sein Protest unvollständig, nur einer des Glaubens geblieben sei; die genussfeindliche Engherzigkeit, Puritanismus, Mangel an weltlicher Kultur und Raffinement, aber auch Untertanengesinnung werden seine Folgen sein.
Nicht wenige Beispiele aus Prosa und Lyrik Heines ließen sich als Belege dafür beibringen, dass er sich bewusst gegen eine Konzeption stellt, wonach die Darstellung des Eros einzig unter der Lüge der Sublimation erlaubt sei, die den Trieb verdünnt.
In Wielands schon erwähntem "Agathon", den Heine gut kannte, heißt es:
" Alle Welt kommt darin überein, dass ein schönes Weib das schönste unter allen Werken der Natur sei. "
Ironisch konkretisiert wird dies in der orientalisierenden "Geschichte des weisen Danischmend"
" Bei allen Huris des Paradieses, das nenn' ich eine Frau ! Zu meinem Unglücke hatte sie den einzigen Fehler, dass sie ein wenig zu eilfertig in ihren Sachen war und nicht aufhören konnte. In wenigen Wochen war meine Stimme weg, und ich wurde so dünn, dass die Sonne durch mich schien. "
Der Akt der Schöpfung und der Heilige Geist sind für Heine Begriffe mit metaphysischen Ansprüchen, die nach dem Schwund der Glaubenssubstanz unerfüllt bleiben und neuer Besetzung fähig sind. Der Versuch, Gott zu erkennen, bedeutet - in Heines pantheistischer Wendung - ihn in der Natur zu erkennen. Da nun Erkennen bereits in der Bibel das "Eins werden mit" bezeichnet und da Gott selber des Weibes Leib als Gedicht ins Stammbuch der Natur geschrieben hat, bedeutet die Erkenntnis Gottes (in poetischem Kurzschluss) Einswerden mit des Weibes Leib.
Das Ergebnis wird ironisch überzogen. "Die Beine werden mir so dünn..." - damit versichert der Dichter zum Schluss eindringlich: den wahren Gottesdienst betreibe der Gläubige mit religiöser Inbrunst. Mit solcher Hingabe widme er sich dem "vielen Studieren", dass zumindest sein Äußeres dem des Asketen gleichkomme. Derart, im Rückgriff auf religiöses Vokabular, unterstreicht er parodistisch seinen - durch authentisches Vorleben legitimierten - Verkündigungsanspruch für seine neue Religion.
Diese neue Religion, aus der er sein gesellschaftliches Sendungsbewusstsein zieht, ist der Pariser Saint-Simonismus. Unter dem Einfluss dieses Frühsozialismus stehen um 1830 die fortschrittlichsten Intellektuellen der französischen Hauptstadt. Zu seinen Forderungen zählt die vielzitierte "Emanzipation des Fleisches". Das Gedicht, in dem Heines Saint-Simonismus und Pantheismus miteinander verschmelzen, gehört zum Seraphine-Zyklus der frühen Pariser Jahre.
" Auf diesem Felsen bauen wir
Die Kirche von dem dritten,
Dem dritten neuen Testament;
Das Leid ist ausgelitten.
Vernichtet ist das Zweierlei,
Das uns so lang betöret;
Die dumme Leiberquälerei
Hat endlich aufgehöret.
Hörst du den Gott im finstern Meer:
Mit tausend Stimmen spricht er.
Und siehst du über unserm Haupt
Die tausend Gotteslichter ?
Der heilge Gott der ist im Licht
Wie in den Finsternissen;
Und Gott ist alles was da ist;
Er ist in unseren Küssen. "
Indessen konnte Heine die physischen Aspekte auch bis zum Grotesken hin spielerisch übertreiben; da konnte dann die "Vergeistigung" auf der Strecke bleiben, wenn er einen Ton forcierte, der das Großstädtisch-Kabarettistische - die spätere Linie Wedekind/Tucholsky - vorwegnahm. Das klingt dann, etwa mit dem Titel Diana, so:
" Diese schönen Gliedermassen
Kolossaler Weiblichkeit
Sind jetzt, ohne Widerstreit,
Meinen Wünschen überlassen.
Wär' ich leidenschaftentzügelt,
Eigenkräftig ihr genaht,
Ich bereute solche Tat!
Ja, sie hätte mich geprügelt.
Welcher Busen, Hals und Kehle!
(Höher seh' ich nicht genau.)
Eh' ich mich ihr anvertrau'
Gott empfehl' ich meine Seele. "
Die Voltairesche Formel, vom Erhabenen zum Lächerlichen sei nur ein Schritt, ist Wieland ebenso wie Heine geläufig, sie wissen, dass sie in einer alten ironisch-satirischen Tradition wurzeln, die - nicht erst seit Erasmus - mit humanistischer Gesellschaftskritik eng verwoben ist - einer produktiven Kritik, die, wie Aufklärung, als unabgeschlossener - und als un-abschließbarer - Prozess zu verstehen ist.
Das große Epochenereignis: die Französische Revolution, referiert und kommentiert Wieland in seinem Diskussionsforum Teutscher Merkur mit Wohlwollen und Kompetenz, in zahlreichen Beiträgen; sie spiegeln seine späte, antiabsolutistische Wende, zeigen, dass er sich bereits für den liberalen Rechtsstaat einsetzt und weit fortschrittlichere Positionen einnimmt, als sein Dichterkollege und amtierender Minister Goethe. Natürlich kann er nur Samen ausstreuen. Die großen Losungsworte der Epoche: Vernunft, Freiheit, Toleranz, Emanzipation, Verbürgerlichung sind zwar in der Welt - als Forderungen ; von ihrer Verwirklichung ist man weit entfernt. Das unheilige Bündnis von Thron und Altar wird noch ein Jahrhundert lang halten. Dagegen schreiben beide an: Wieland ebenso wie noch, drei Generationen später, Heine, den die Julirevolution von 1830 nach Frankreich geführt hatte. Dass beide die Wurzel des irdischen Übels in der Verbindung von politischer und religiöser Unterdrückung erkannten, wurde bereits erwähnt; keine eingreifende Besserung sei möglich, schreibt Wieland, solange "die menschliche Natur unter den Fesseln seufzt, in welche die Tyrannei des Aberglaubens und willkürlich ausgeübter Staatsgewalt... sie geschmiedet hat."
Heine, bereits Zeitgenosse der industriellen Revolution, fordert:
" Schon hier auf Erden möchte ich durch die Segnungen freier politischer und industrieller Institutionen jene Seligkeit etablieren, die nach der Meinung der Frommen erst am Jüngsten Tage, im Himmel stattfinden soll.... Es gibt keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit. "
Derlei diesseitige Hoffnungen scheinen - phasenweise - auf Verwirklichungschancen zu treffen.
Dass der historische Prozess aber auch im Krebsgang verlaufen, dass restaurative Tendenzen erneut die Oberhand gewinnen können, dafür ist Heines Marie Antoinette-Gedicht aus dem letzten Gedichtzyklus Romanzero ein sprechender Beleg. Thema ist das Wiedererstarken feudaler Verhältnisse, des Ancien régime in Frankreich, nach der abgewürgten Revolution von 1848. Heine präsentiert eine schein-poetische Rokoko-Inszenierung, die von Beginn an etwas unwirklich Gespenstisches hat, denn sie spielt zugleich vor und nach 1789. Im Französischen heißt übrigens Gespenst deutlicher: 'revenant', Wiedergänger.
" Wie heiter im Tuilerienschloss
Blinken die Spiegelfenster,
Und dennoch dort am hellen Tag
Gehn um die alten Gespenster.
Es spukt im Pavillon de Flor'
Maria Antoinette;
Sie hält dort morgens ihr Lever
Mit strenger Etikette. "
Das gesamte Figurenarsenal erscheint im folgenden ohne Kopf:
" Das sind die Folgen der Revolution
Und ihrer fatalen Doktrine;
An allem ist schuld Jean Jacques Rousseau,
Voltaire und die Guillotine. "
Das Ankleidezeremoniell mündet in eine Schlusspointe, eine karikaturale Verzerrung, eine frivole Grimasse - ein Extremfall satirischer Aufklärung:
" Die Oberhofmeisterin steht dabei,
Sie fächert die Brust, die weiße,
Und in Ermangelung eines Kopfs
Lächelt sie mit dem Steiße. "
Natürlich verdankt Heine es anderen Texten, dass man ihn den "ungezogenen Liebling der Grazien" nannte.
Wielands Verseerzählung "Musarion", in lockeren Alexandrinern einherperlend, konnte sich, ein knappes Jahrhundert zuvor, noch ganz unverzerrt und anmutig als "Philosophie der Grazien" zu erkennen geben; graziös philosophieren bedeutet: nicht mehr fanatisch philosophieren, ein Plädoyer zugleich für den Genuss des Augenblicks und Lebensfreude.
Im Verlauf findet "Musarion" eine kontroverse Aufnahme. Daraus zwei Stimmen, eine künstlerisch rühmende und eine moralisch vernichtende. Im siebten Buch von "Dichtung und Wahrheit" erinnert sich Goethe:
" "Musarion" wirkte am meisten auf mich... Hier war es, wo ich das Antike lebendig und neu wiederzusehen glaubte."
Eichendorff hingegen empört sich, hier seien "Zucht und Unzucht" miteinander verkuppelt:
" In dieser Kuppelei aber sind die Grazien gezeugt, für deren Dichter Wieland gilt; griechische Hetären, die französisch von Tugend plaudern und vor den Spiegeln ihrer Boudoirs in künstlichen Ballettstellungen die verlorene Unschuld nachmachen. "
Fast wundert man sich, dass nicht auch der längst gängige Vorwurf der Frivolität bemüht wird von Eichendorff, der - ressentimentgeladen - den Text völlig verkennt. Denn in "Musarion" gelingt es der Titelheldin, den Jüngling Phanias von seiner Zerrissenheit zwischen religiöser Schwärmerei und lebensfeindlicher Askese zu befreien und zur natürlichen Lebensfreude zurückzuführen, indem sie Tugend und Sinnlichkeit miteinander versöhnt. Der Erzähler kommentiert auch dies liebenswürdig mit leichter Ironie:
" Unwiderstehlich, sagt man, sei
Der Weisheit Reiz aus einem schönen Munde.
Wir gebens zu, so fern euch nicht dabei
Aus einem Nachtgewand mit nelkenfarbnem Grunde
Ein Busen reizt, der, jugendlich gebläht,
Die Augen blendt und niemals stille steht. "