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Ein Stück fröhliche Wissenschaft

Dieses Buch durchstreift alle Fantasien, die der Mensch mit Inseln verbindet - von der grenzenlosen Ruhe, Abgeschiedenheit bis hin zur Exotik. Neben diesen Konnotationen wird auch die Geschichte der Inseln beleuchtet.

Von Helmut Mörchen | 17.02.2011
    Wer also wie Volkmar Billig ein Buch über "Inseln" als "Geschichte einer Faszination" schreibt, darf mit einer breiten Neugier rechnen. Dass ein Philosoph, Kultur- und Religionswissenschaftler keine Topografie über reale Inseln heute schrieb, die man mit Kreuzfahrtschiffen anlaufen kann, ist natürlich keine Überraschung.

    Es geht Volkmar Billig um die Inseln, die im Kopf entstehen. Der erste Teil handelt von "Inselreden", also von Mythen und Fiktionen. Die Zäsur zum zweiten Teil ist die Aufklärung, in der Inselkonstruktion von der Inselsehnsucht, der Nesofilie, abgelöst wird.

    Frühe Inselgeschichten sind Schöpfungs- oder Untergangsmythen. Sonneninseln sind Orte des Anfangs, versunken sind Welten wie Atlantis. Schifferlegenden erinnern Inseln als Stationen der Rettung. Das erste große abendländische Epos, Homers "Odyssee", fasst dies alles zusammen. In späterer christlicher Überlieferung entwickeln sich Vorstellungen vom Garten Eden, dem irdischen Paradies als einer im Osten gelegenen Halbinsel.

    Die Liebesinsel Kythera wiederum, präsent weniger in der Dichtung als in den Bildern Antoine Watteaus, akzentuiert Billig "als Derivat der christlichen Paradiesvorstellung, wenn man so will: als Ersatzschauplatz der aus dem Garten Eden suspendierten Triebe."

    Weniger sinnlich und mehr moralisch sind die so verschiedenen Inselbücher des Thomas Morus und Daniel Defoes. Morus Insel "Utopia" steht am Anfang der Diskurse über den modernen Staat und eine gerechte Gesellschaft, der "Robinson Crusoe", populär wie kaum ein anderer Inselroman, propagierte einen präkapitalistischen protestantischen Utilitarismus.

    Billig illustriert seinen kühnen Parcours durch die Jahrhunderte mit trefflich ausgewählten Texten. Morus' und Defoes Inselfantasien kulminieren in der gänzlich abstrakten Inselkonstruktion Immanuel Kants, der ja bekanntlich nie über Königsberg hinausgekommen ist:

    Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins.

    Im selben Jahrzehnt, in dem Kant in seiner "Kritik der reinen Vernunft" das "Land des reinen Verstandes" metaphorisch als Insel beschreibt, berichtet der Weltreisende Georg Forster über den ersten Ausflug ins Innere der Insel, die zur Mutter aller späteren Sehnsuchtsinseln werden sollte:

    Das Ufer, dessen schlängelnder Krümmung wir aufwärts folgten, brachte uns zu einem senkrecht stehenden und mit mancherley wohlriechendem Gebüsch behängten Felsen, von welchem sich eine Crystallhelle Wassersäule in einen glatten, klaren Teich hinabstürzte, dessen anmuthiges Gestade überall mit bunten Blumen prangte. Dies war eine der schönsten Gegenden die ich in meinem Leben gesehen. Kein Dichter kann sie so schön malen.

    Aber die Seefahrer nahmen Tahiti, dieser Insel des Überflusses für alle Sinne, schnell diese von Forster festgehaltene paradiesische Anmutung. Die von den Europäern eingeschleppte Syphilis sei ein "nachdrückliches Sinnbild" für die "Austreibung der Tahitianer aus ihrem Paradies der Selbstgenügsamkeit und archaischen Gesundheit".

    So führt die Inselerfahrung zur Entstehung "paradoxer Paradiese", wie Volkmar Billig den zweiten Teil seiner Studie betitelt. In der modernen Nesofilie wird Forsters Ausruf "Kein Dichter kann sie so schön malen" abgelöst durch ein traurig-trotziges "Nur in der Dichtung sind Inseln schön." Goethes "Italienische Reise" interpretiert Billig als Reise "auf die Insel der Poesie". Die Buchfassung der "Italienischen Reise" enthält einen schon Jahrzehnte zuvor Charlotte von Stein brieflich mitgeteilten Inseltraum:

    Es träumte mir nämlich: ich landete mit einem ziemlich großen Kahn an einer fruchtbaren, reich bewachsenen Insel, von der mir bewusst war, dass daselbst die schönsten Fasanen zu haben seien. Auch handelte ich sogleich mit den Einwohnern um solches Gefieder, welches sie auch sogleich häufig, getötet, herbeibrachten. Es waren wohl Fasanen, wie aber der Traum alles umzubilden pflegt, so erblickte man lange, farbig beaugte Schweife, wie von Pfauen und Paradiesvögeln.

    Weitere Stationen in Billigs lustvollen Ausschweifungen sind "Ardinghello und die glückseligen Inseln" von Wieland. Seine Anmerkungen über Jean Pauls Insel-Dichtungen notiert er unter der Überschrift "Vom Vollglück in der Beschränkung". Nietzsches Zarathustra-Reden als Insel-Literatur vorzustellen, ist eine Herausforderung zu nachprüfender Eigenlektüre.

    Überhaupt ist Billigs Buch vor allem anregend, manches wieder zu lesen oder auch neu zu entdecken. Der zeitliche Bogen umspannt 4000 Jahre, von altägyptischen Reiseerzählungen aus vorhomerischer Zeit bis zu Inseln im Internet heute, etwa dem Cyberplaneten Calypso. Dass der Leser durch die Fülle des Materials nicht erschlagen wird, ist der Portionierung in die anregend übertitelten 26 kleinen Kapitel zu verdanken. Am besten man blättert vor und zurück und erfreut sich an dem einen oder anderen der schönen Fundstücke.

    Das Problem seines enzyklopädischen Verfahrens hat im Übrigen der Autor selbst erkannt und offensiv auf die Hörner genommen. Bevor er den ersten eigenen Gedanken formuliert, lässt er Ernst Jünger augenzwinkernd zu Wort kommen:

    Über Inseln lässt sich viel erzählen, und man findet leichter den Anfang als das Ende dabei. Ich entsinne mich der Unterhaltung mit einem jungen Freunde, der eine Monografie 'Die Insel' zu schreiben beabsichtigte. Ich musste ihm abraten, denn der Stoff ist so gewaltig, dass er gelehrte Gesellschaften in Atem halten kann. Inseln gibt es nicht nur wie Sand am Meere, sondern alles ist Insel, auch die Kontinente, und selbst die Erde ist ein Inselchen im Äthermeer.

    Wir dürfen uns freuen, dass Volkmar Billig sich nicht hat abschrecken lassen. Und dem Leser, dem es während oder nach der Lektüre seiner Studie nicht mehr nach einer Insel oder nach dem sprichwörtlich einen Buch auf der Insel gelüstet, gibt er das wunderbare Anti-Insel-Gedicht Gottfried Benns "Gefilde der Unseligen" mit auf den Weg:

    Satt bin ich meiner Inselsucht.
    des toten Grüns, der stummen Herden;
    ich will ein Ufer, eine Bucht,
    ein Hafen schöner Schiffe werden.

    Und alles will in fremdes Blut
    aufsteigen und ertrunken treiben
    in eines andern Lebensglut,
    und nichts will in sich selber bleiben.


    So ist es dem Verlag Matthes & Seitz mit Billigs Buch wieder einmal gelungen, dem geneigten Publikum ein Stück fröhlicher Wissenschaft anzubieten.

    Volkmar Billig: Inseln. Geschichte einer Faszination, Matthes & Seitz, Berlin 2010. 302 Seiten, Euro 29,90.