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Ein Stück Wiedergutmachung in Berlin

Am Wochenende ist in der Neuen Nationalgalerie in Berlin eine Werkschau des Malers Jörg Immendorff eröffnet worden - jenes Mannes, der die Geschichte der Bundesrepublik wie kein zweiter malerisch begleitet hat. Als es darum ging, den neuen Reichstag mit Kunst zu schmücken, wurde Immendorff jedoch einfach übergangen. Nun ist der Beuys-Schüler an einer unheilbaren Muskellähmung erkrankt. Seine Werkschau, die eigentlich erst für das nächste Jahr geplant war, wurde vorverlegt, damit Immendorff sie noch selbst erleben konnte.

Von Carsten Probst |
    Zum ersten Mal seit langer Zeit weht ein Hauch gelebter und lebendiger Kunst durch die Neue Nationalgalerie, ein Hauch von documenta und künstlerischem Mutterwitz á la Beuys. Für einen Moment ist der Glas- und Stahlbetonbau Mies van der Rohes, den der Berliner auf der Straße nur Kunst-Aquarium nennt, aus seiner verklärten Starre erwacht, in die ihn die unendlichen Lobpreisungen als schlechthinnigen Kunsttempel Deutschlands versetzt haben. Die hohe flache Stahlkonstruktion mit ihren Glaswänden, die Mies eigentlich einmal als Werbepavillon des Rumherstellers Bacardi entworfen hatte, war immer schon schwer bespielbar, nahezu jede Ausstellung wurde hier bislang von der Architektur dominiert, wenn nicht regelrecht mit Lichtheit zerquetscht.

    Jörg Immendorff hat dagegen einen grandiosen Schnitt gemacht, denn er hat hier eben nicht einfach seine Gemälde im selbsternannten Kunst-Walhalla aufhängen und es mit der Ehre bewenden lassen, nein, er hat gleich eine Gegenarchitektur mitgeliefert, deren Konzept über alles hinausweist, was hier bislang präsentiert worden ist. Mit sechs großen kubischen, fensterlosen Pavillons und einer langen, freistehenden Wand hat er dem erschlagenden Übermaß an Raum buchstäblich die Lufthoheit genommen, plötzlich atmet die Nationalgalerie wie ein dichter, subversiver Bilderdschungel der Großstadt, als kongeniale Erweiterung von Immendorffs dschungelartigen Stadtmotiven aus der Serie "Café Deutschland", ein Parcours aus Verweisen und Verwinklungen, in dem man sich verstecken und verlaufen kann.

    Die Kuben sind allesamt rot angestrichen – "signalrot", wie es in der offiziellen Mitteilung des Museums heißt – und bieten den Besuchern Eingänge zu thematisch gegliederten Kabinetten, in denen die wichtigsten Werkblöcke aus Immendorffs Schaffen zusammengefasst werden. So ist ein Raum den berühmten LIDL-Arbeiten der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre gewidmet, ein anderer den Gemälden aus "Café Deutschland" oder der späteren "Suppengrund"-Werkgruppe.

    Aber auch jüngste Gemälde sind zu sehen, in denen sich die deutlich reduzierte, fast surrealistisch anmutende Bildsprache Immendorffs aus den letzten Jahren und die Neigung zu nicht mehr den ganz großen Formaten durchgesetzt hat. An der Decke blinken dazu Reflexionsschirme, auf denen kleine Details aus den Gemälden als symbolische Scherenschnitte auf die Ausstellung "hinabregnen", wie Immendorff selbst es ausdrückt. Er selbst erneuert bei dieser Gelegenheit seine Selbsteinschätzung, dass es ihm immer nur um Symbole gegangen sei. Immendorff selbst ist ja längst ein Symbol.

    Somit kein Wunder, wenn hier alles auf alles verweist. Die Kubenkonstruktion sei eine eigene kleine Stadt für ihn, erklärt der Sechzigjährige, denn sein Werk ist schließlich durchzogen von der Erfindung immer neuer fiktiver Orte und utopischer Räume. Im Grunde kehrt er damit, symbolisch, zurück an seine frühen Happenings als Beuys-Schüler, die er unter dem Projektnamen LIDL-Stadt zusammengefasst hat, die es bislang nur auf Fantasie-Karten gab und die übrigens gar nichts mit einer erst viel später gleichklingend benannten Supermarktkette zu tun hat. LIDL war ein Nonsens-Wort, das Immendorff dem Geräusch einer Kinderrassel entlehnt und darunter seine sozialutopischen Werke der frühen Jahre zusammengefasst hat, die die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft parodieren. Immendorffs Bildprotest gegen die "geistlose und unschöpferische Politik Deutschland" zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk, und das inzwischen legendäre Gemälde "Hört auf zu malen" möchte schon 1966 die Kunst aus ihrer Illustrationsrolle für eine selbstgenügsame Demokratie befreien.

    Ob er denn nichts dagegen habe, dass Bundeskanzler Schröder seine Ausstellung persönlich eröffnen wolle, wird Immendorff gefragt, aber damit kann man ihn nicht schrecken. Immendorff fühlt sich sichtlich wohl hier in seiner Kunststadt, die so etwas wie sein Vermächtnis sein könnte und erst durch eine wohl einzigartige Spendenaktion unter Immendorff-Freunden bis hin zum telefonbuchdicken Katalog überhaupt finanziert werden konnte. Der schwer kranke Künstler wiegt sich zufrieden in seinem Rollstuhl, saugt mit dem Strohhalm Tee aus einem Becher und antwortet mit ansteckender Ernsthaftigkeit: Er kenne den Schröder schon länger, der sei ihm willkommen, schließlich sei er der erste Bundeskanzler, der sich überhaupt für Kunst interessiere.