Archiv


Ein Tag im Dunkeln

Jeder hat die Erfahrung auf der Arbeit schon gemacht. Übers Telefon kennt man einen Gesprächspartner seit Jahren. Die Stimme ist vertraut und bekannt. Das Gesicht dagegen kennt man nicht. In dieser Situation stellt man sich im Geiste vor, wie dieser Mensch aussehen muss. Aber die Sicht bleibt trotzdem versperrt. Mit diese Erfahrung spielt ein neues Seminar für Führungskräfte und Personalentwickler. Es heißt "Blindspace" und versammelt sechs Teilnehmer in einem absolut lichtlosen Raum. Eine außergewöhnliche - und manchmal auch bedrohlich wirkende Situation.

Von Jan Tussing |
    Die erste Übung des Seminars scheint einfach: Wie bediene ich einen Blindenstock. Einfach, aber elementar, denn es erwarten einen zehn Stunden Training in der absoluten Finsternis. Es ist elf Uhr morgens, das erste Vorgespräch hat stattgefunden. Das Seminar beginnt. Ein Blinder erklärt den Blindenstock. Franz, er hilft den Teilnehmern, sich zu orientieren, bringt sie zu den Stühlen, aufs Klo, durch den Raum. Im Hintergrund läuft beruhigende Musik.

    Franz bringt die Besucher die Treppen hinunter in das Kellergewölbe eines Gasthofs. Zwei schwarze Vorhänge dienen als Schleuse. Wer sie passiert ist im Blindspace. Ein Seminar für Führungskräfte und Personalentwickler

    Das eine, das von Führungskräften erwartet wird, ist, dass sie Entscheidungen außerhalb von Routinen treffen. Führungskräfte müssen die außergewöhnliche Situation beherrschen, und da ist Blindspace so etwas wie eine kontrollierte Krisenerfahrung.

    Der Frankfurter Psychologe Christian Schneider zusammen mit seiner österreichischen Kollegin Gerri Trübswasser trainiert eine Gruppe von sechs Teilnehmern. Sie vermitteln eine kontrollierte Krisenerfahrung. Es ist stockdunkel, man sieht nichts, noch nicht einmal die Hand vor Augen. Die Teilnehmer haben jeder ein Pseudonym gewählt, sie kennen sich nicht, haben sich auch vorher nicht gesehen, denn sie wurden einzeln, hintereinander in den Blindspace geführt.

    Indem Sie den Hauptsinn ausschalten, den Sehsinn, schaffen wir eine Krisenerfahrung. Jeder der in diesen Möglichkeitsraum, Blindspace tritt, wird mit einer anderen Welt konfrontiert und muss ganz andere Fähigkeiten entwickeln, um sich in dieser Welt behaupten zu können, und auch Dinge entscheiden zu können.

    Zum Beispiel wird ein Personalentwickler im Bewerbungsgespräch von der Erfahrung im Blindspace profitieren können. Er wird dank seines Erlebten vorurteilsfreier mit dem Bewerber umgehen und auch auf die kleinen Signale achten, die sich nicht optisch vermitteln lassen.

    Das ist die umgekehrte Reihenfolge dessen was im normalen Bewerbungsgespräch passiert. Da haben sie einen optischen Eindruck, der ist ungeheuer dominant und sehr korrekturresistent.

    So korrekturresistent, dass die kleinen, nicht-optischen Signale oft verloren gehen. Und genau das wollen die beiden Psychologen trainieren. Die Teilnehmer sollen die Erfahrung machen, wie sie ihre Wahrnehmung sensibilisieren und besser mit ihrem Gegenüber kommunizieren. Nachhaltig, auch wenn das Licht wieder angeht. Um da hinzukommen, müssen die Teilnehmer Übungen machen. Einzeln - und in Gruppen- eine anstrengende und zum Teil Angst einflößende Erfahrung.

    Es ist so, dass wir unsere Wahrnehmung und infolgedessen auch unsere Urteile, die wir über andere bilden hochgradig vom optischen abhängig machen. Man spricht davon, dass nahezu vier Fünftel der Wahrnehmung optisch gesteuert ist, in dieser optischen Gesellschaft. Und das ist ein riesiges Problem, wenn man an Personalentwickler denkt.

    Christian Schneider und seine Kollegin Gerri Trübswasser führen dieses Seminar seit Jahren in Österreich durch. 700 Euro kostet der Tag im Dunkeln. Über blindspace.de bekommt man im Internet Infos. Die beiden Psychologen leiten und begleiten die Teilnehmer und lassen ihnen viel Zeit sich zu konzentrieren. Das brauchen sie auch, denn die Erfahrung in der totalen Dunkelheit ist anstrengend und aufrührend, meint Karenina:

    Ich stand zwischendrin im Raum und habe mich gar nicht mehr bewegt, wollte auch nicht, dass man mich berührt...

    Das ist was man generell sagen kann. In dieser Erfahrung im Blindspace, im Möglichkeitsraum, da verdichten sich bestimmte Prozesse wie unter einem Brennglas. Es ist erstaunlich, dass dann die Dinge zur Kenntlichkeit kommen, die vorher verschwommen zu sehen gewesen sind. Das ist eine Erfahrung die wir immer wieder machen.

    Der Abschluss des Seminars ist ein Dinner in the dark. Das gemeinsame Abendessen - auch im Dunkeln. Es ist inzwischen 20 Uhr. Jetzt haben die Teilnehmer Gelegenheit sich zu unterhalten und einzuschätzen. Wie sieht der Mensch mit der Stimme aus? Wenn dann das Licht angeht, dann sind die Überraschungen oft sehr groß. Jeder ist um diese Erfahrung reicher, eine Erfahrung, die nachhält. Selbst für den blinden Assistenten Franz. Für ihn verändern sich die Teilnehmer spürbar, wenn das Licht wieder angeht.