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Ein Turner-Preis für Deutschland

Deutschland möchte auch so etwas wie den britischen Turner-Preis haben. Auch wenn das Flair des Vorbilds unerreichbar ist, erhebt der Preis der Nationalgalerie diesen Anspruch. Und so sollten sich die Werke der vier für die Endrunde ausgewählten, oft noch sehr jungen Künstlerinnen und Künstler, am restlichen Bilderbestand der Staatlichen Museen messen lassen können. Mit Goya, Beckmann, Holbein und Beuys also.

Von Carsten Probst | 06.09.2005
    An Selbstbewußtsein hat es dem illustren Verein der Freunde der Nationalgalerie in Berlin ja nie gemangelt, und so strebt man folgerichtig mit dem von ihnen initiierten Preis der Nationalgalerie natürlich auch nur nach dem Höchsten. Die Werke der vier für die Endrunde ausgewählten, oft noch sehr jungen Künstlerinnen und Künstler, das versteht sich eigentlich von selbst, sollen sich "natürlich" am restlichen Bilderbestand der Staatlichen Museen messen lassen können, mit den Goyas und Beckmanns, den Holbeins und Beuys’.

    Der Nachteil an diesem mit 50.000 Euro auch gleich mit am höchsten dotierten Kunstpreis ist, dass ihn eben darum kaum einer in seiner noch recht kurzen Geschichte so recht ernst nehmen konnte, außer den Freunden der Nationalgalerie selbst. Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil trugen dazu eher subalterne Jurys bei, die Werke auswählten, von denen man irgendwie annahm, dass sie gerade der letzte Schrei auf dem Kunstmarkt seien oder dass sie sich eben in kongenialer Weise dem Bestand des Hamburger Bahnhofs anpaßten. Mit anderen Worten: irgendetwas, das entfernt an Beuys, Anselm Kiefer oder Pipilotti Rist erinnern konnte, kam immer durch, und die durchschaubare Epigonenhaftigkeit versuchte man anschließend oft noch als kleinen Kunstskandal zu verkaufen, den der bornierte Rest der Welt nur nicht verstand. Schließlich gibt es beim Turner-Price in London ja auch immer Skandale.

    Dies alles muss man sich in Erinnerung rufen, wenn man die Auswahl der Endrundenteilnehmer in diesem Jahr würdigen will. Denn diesmal wurden vier außerordentlich sehenswerte, dabei auch markante Positionen ausgewählt, die in vier sehr unterschiedliche Richtungen des heutigen Kunstgeschehens weisen. Man muss der Jury danken, die damit, man kann es nur hoffen, vielleicht ja auch ein Zeichen für die Zukunft dieses Preises setzt. Dankbar registrieren wir, dass allein schon die beiden Großinstallationen von Monica Bonvicini und Angela Bulloch die Räumlichkeiten des Hamburger Bahnhofs derart beanspruchen und derart aufwendig sind, dass sie kaum als museumsfreundlich gelten können.
    Bonvicini hat einen Wald aus lauter Gerüststangen aufgebaut, an denen ein Set von schwarzen Lederschaukeln an Ketten aufgehängt ist und den Besucher auffordert, sich in diese Schaukeln zu legen und versonnen tragen und wiegen zu lassen. Bonvicinis dramatische Leder- und Ketten-Ästhetik muss auf den ersten Blick nicht jedem Geschmack zusagen, doch als ortsbezogene Kunst stellt sie immer wieder provozierend weitreichende Statements dar, gerade auch in einem Zusammenhang wie diesem: Geht es der Italienerin doch darum, öffentliche Orte, auch die Museen, als Manifestation von Machtstruktur zu kennzeichnen.

    Die Britin Angela Bulloch hingegen ist eher für strenge, minimalistische Technik-Installationen bekannt, aber der Apparat, den sie für Berlin geschaffen hat, übertrifft vieles aus ihrem bisherigen Werk: eine raumfüllende Licht- und Klangeinheit, die den Besucher mit ihren undurchschaubaren Manövern wie eine wild gewordene Normierungsmaschine im ersten Moment durchaus überrumpeln kann.

    Zwei diskretere Arbeiten stammen von dem jungen albanischen Videokünstler Anri Sala und dem deutschen Exzentriker John Bock, wobei von Letzterem derzeit nur die Überreste einer Performance zu besichtigen sind, einschließlich eines eingeschlagenen Museumsfensters. Der dazugehörige Videofilm befindet sich noch in der Fertigstellung.

    Anri Sala dagegen zählt zu den großen Magiern des zeitgenössischen Videofilms, dem es immer wieder gelingt, die epische Videosprache des Westens aus den neunziger Jahren mit dem nüchternen Dokumentationsstil osteuropäischer Künstler zusammenführen. Salas Beitrag, der auch mein persönlicher Favorit für den Preis ist, zeigt minutenlang nur die Augenpartie eines schwarzen Musikers, der auf einem Saxophon Free Jazz improvisiert, während er auf einem Hochhaus in einer der großen Berliner Plattenbausiedlungen steht. Die Augen des Musikers starren in der Trance der Improvisation ähnlich abwesend wie die Fensterhöhlen der Hochhäuser drum herum, und niemand weiß, warum alles das genau jetzt und hier passiert. Doch unausweichlich spürt man die kalte Einsamkeit und Leere der Situation, die einem ebenso befremdlich wie vertraut vorkommt.