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Ein übervoller Zettelkasten

Der Schwede August Strindberg gilt als einer der radikalsten und sprachmächtigsten Neuerer des europäischen Theaters. Aus Anlass seines Todes am 14. Mai vor 100 Jahren hat die Übersetzerin Renate Bleibtreu "Notizen eines Zweiflers" herausgegeben: Eine Zusammenstellung meist undatierter Handschriften aus dem Nachlass im Besitz der Königlichen Bibliothek.

Von Gabriele Killert | 14.05.2012
    Kafka fühlte sich besser, wenn er Strindberg las. Er drückte sich noch etwas deutlicher aus:

    Ich lese ihn nicht, um ihn zu lesen, sondern um an seiner Brust zu liegen.

    Uns, Angehörigen einer nach außen coolen, pathos-aversen Epoche würde ein so emphatisches Bekenntnis wohl kaum über die Lippen kommen. Dass Strindberg zu den titanischen Figuren der Literatur gehört, können wir aber schon anerkennen. Alles an ihm scheint extrem, superlativ, weit über Normalmaß geraten zu sein. Seine Energie, sein Ego, seine Leidenschaften, Liebe und Hass, seine Rigorosität und bi-polaren Stimmungen: schwelgerische Begeisterung schlug um in Verachtung, manischer Größenwahn in panische Selbstzerknirschung; er war extrem reizbar, geplagt von Ängsten und paranoiden Zwangsvorstellungen bis in Grenzbereiche des Psychotischen. Hinter der imposanten hohen Stirn tobte ein beständiger Kampf mit dem inneren Dämon, der ihm als dem neuen Hiob und literarischen Erlöser zur Prüfung seiner Leidensfähigkeit auferlegt war, davon war Strindberg in untrüglichem Sendungsbewusstsein überzeugt. Ein Leben hart am Abgrund, das seine Zeit-genossen erschauern ließ:

    Nie habe ich ein menschliches Antlitz sich so blitzschnell und völlig verwandeln sehen. Seine sanften und sympathischen Züge verzerrten sich, der feine Mund ver-zog sich höhnisch, die Augen wurden dunkel und schossen Blitze... Er hatte den gigantischsten Kopf, den ich jemals gesehen habe. Alles an ihm war Auflehnung, Eigenwille, Streitbarkeit ... Wir alle verstummten zunächst vor diesem Angesicht. Es hatte zugleich etwas Ehrfurchtgebietendes und Mitleiderregendes, etwas Zutrauliches und Starres, etwas Predigerhaftes und Gorgonenartiges.

    Strindberg als Medusa: Die dunklen Locken als ein Knäuel von Schlangen, darunter ein von Furien gehetztes Gesicht als Spiegel einer ungeheuren Geladenheit. So kennen wir dieses Gesicht auch von Fotos, einige hat Strindberg mit Selbstauslöser aufgenommen, oder etwa von der expressiven Lithographie Edvard Munchs. Strindberg hielt es nirgends, an keinem geographischen oder weltanschaulichen Ort und mit niemandem lange aus. Drei Ehefrauen, mit denen er fünf Kinder zeugte, schlug er in die Flucht, floh selbst, von Gewissensbissen, übler Nachrede und literarischer Missgunst verfolgt viele Jahre durch Europa, wo er überall in die Hölle der anderen, die schikanöse Menschenwelt aus Lüge, Täuschung und Verrat geriet.

    Doch diesem Wahnsinn, diesem paranoisch geschärften, bösen Blick verdanken wir Strindbergs Werk. Er war die Quelle seiner voluminösen Produktivität. Der Furor vita-lisierte seine Sprache, entriegelte alle Sinne und moralischen Sperren, ließ ihn mit brutaler Lust an der Autosektion die verborgensten Winkel und Schliche zwischen-menschlicher Abgründe ausloten, grell und überscharf wie mit den Farben Van Goghs. Seine eigene fiebrige Existenz diente Strindberg als Probebühne seiner Dra-men. Was er nicht zu Ende gelebt hat, leben seine Geschöpfe aus, in denen sich die spätere expressionistische Generation erkannte. Das bezwingend Neue an Strindberg, das Erfolgsgeheimnis seiner Stücke - bis heute - hat Alfred Kerr so beziffert:

    Bei Strindberg ist am klarsten bloßgelegt, was in tausend Fällen Gedanke bleibt. Bei Strindberg ist gesagt, was in tausend Fällen überheuchelt bleibt. Bei Strindberg ist erkannt, was in hunderttausend Fällen schläft.

    Strindbergs Weltrang als erster radikal moderner Autor Schwedens ist unbestritten. Doch wie steht es mit seiner wissenschaftlichen Reputation, denn als Wissen-schaftler, wenngleich Autodidakt, verstand und betätigte sich Strindberg mit großem Ehrgeiz sein Leben lang. Neben Ethnologie, Sprachforschung oder Kunstkritik interessierten ihn schon früh die "exakten" Naturwissenschaften: Botanik, Mineralogie, Astronomie und vor allem Chemie. Im Hantieren mit Schwefel, Phosphor und Kohlenstoff zum Zweck der Goldherstellung will er in seiner faustischen Studierstube der Wissenschaft ihre Irrtümer beweisen und damit den Beweis seiner von manchen - auch ihm selbst - oft angezweifelten geistigen Gesund-heit erbringen - mit meist gegenteiligem Erfolg. Die Goldgewinnung wollte ihm nur literarisch gelingen. Auch wenn er etwa den Gegenbeweis antritt zur geltenden Lehr-meinung, Insekten "sähen ihre Welt im Mosaik", indem er ein facettiertes Stückchen Gaze über ein Kameraobjektiv spannt, und, siehe da: die so fotografierte Welt zeigt "nicht die Spur eines Mosaiks", oder wenn er die Sonne fotografiert und entfernte Planeten durchs Opernglas betrachtet, so läuft das alles doch wieder auf schöne, von der schnöden Fachwelt mit Ignoranz gestrafte Literatur hinaus, von der er sich mit seiner Wissenschaft gerade erholen wollte.
    Ein eigenes, wahrhaft donquichottisches Kapitel in Strindbergs Leben, in das uns jetzt ein Buch vertiefte Einblicke gewährt, das die passionierte Strindberg-Kennerin und Übersetzerin Renate Bleibtreu herausgegeben hat: "Notizen eines Zweiflers". Bei 72 Bänden Gesamtausgabe nebst 22 Briefbänden handelt es sich bei diesem Zettelkasten-Nachlass um ein vergleichsweise bescheidenes Pulvermagazin: Da gibt es neben den wissenschaftlichen Traktaten die "Blätter aus dem grünen Sack", schnell hinskizzierte kleine Dialoge, Sekundendramen, sogenannte Vivisektionen, immer wieder rudimentäre Szenen einer Ehe mit bösen Frauen und Männern unterm "Stiefelchen", auch Maximen nach Art der französischen Moralisten und viel Weltschmerzliches. Vieles bleibt anregend kryptisch, schön wie die Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf dem Seziertisch, sprich surreal, oder DADA, auch Ottos Mops ist irgendwie schon vorweggemopst.

    im Observatorium.
    Turgor, urgor.
    Karfvar, arrvarr, knorfvar
    vargar, argare, arg (im Treppenhaus)
    Knarr-narr-narr Orvarr, Hilditsch, itsch
    Was die Galoschen sagen: Narr, narr, Orvarr, Orrvarr, knorfvar, knar, garfvar
    So stand es geschrieben. Norrtullsgatan.
    Der übervolle Briefkasten


    Der übervolle Zettelkasten ist sozusagen Strindberg in der Nussschale, zumal wenn man die liliputhafte Ähnlichkeit der Walnuss mit dem menschlichen Gehirn bedenkt. Über den "Notizen eines Zweiflers", einem eigenen Konvolut früher Notate aus den 1870er-Jahren, also des Mitte 20-jährigen Revoluzzers Strindberg, könnte als Motto sein Bekenntnis aus dem Roman "Inferno" stehen:

    Ich bin noch genügend Kind und unglücklich genug, um die alltäglichsten Geschehnisse poetisch zu sehen.

    Den Ton gibt hier ein wild entschlossener, rührender Fortschrittsoptimismus an. Wenn wir uns alle ein bisschen anstrengen, den vollständigen Menschen aus uns heraus zu modellieren, uns dabei nicht an den finsteren alten Griechen orientieren, sondern an dem Gewürzkrämer F. zum Beispiel, der obendrein Maler, Verseschmied und Stadtverordneter ist und dem "Idealmenschen der Zukunft" damit weit näher als beispielsweise Sophokles, dann können wir alle genial werden - so in etwa liest sich, was Strindbergs Verleger als "rhapsodisches Gerede ohne Sinn" abtat und gnadenlos aus der teuren Strindberg-Ausgabe strich. Dabei ist hier nun wirklich nicht nur Goethes und Schillers Humanismus im Kern zusammengefasst, sondern auch der Joseph Beuys‘ und Alexander Kluges und seiner preisgekrönten "Artisten in der Zirkuskuppel".
    Ein im Wortsinn tolles Buch, wie immer bei Berenberg auch toll in der Gestaltung durch das Team um Rainer Groothuis, ein Buch für Liebhaber fixer Ideen, Spleens und poetischer Zauberei und natürlich für Leser, die immer schon Strindberg lesen, um sich besser zu fühlen.



    Literaturhinweis:

    August Strindberg: "Notizen eines Zweiflers", Berenberg Verlag. 2012. 320 Seiten. 25 Euro