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Ein unangestrengt intellektuelles Lesevergnügen

Maria Cecelia Barbettas Roman ist aus einer persönlichen Krise entstanden. Lebenslang verliebt in die deutsche Sprache, aber von der deutschen Bürokratie nur als Spanischlehrerin akzeptiert, entdeckte sie in Berlin an einer Schneiderei das Schild: "Änderung von Damen, Kinder- und Herrenkleidung". Da nach dem Wort "Damen" der Trennungsstrich fehlte, las Maria Cecilia Barbetta: "Änderung von Damen". Das war die Geburtsstunde ihres Buches "Änderungschneideri Los Milagros".

Von Thomas Böhm | 16.12.2008
    Mitte der 50er Jahre begann der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar in seiner Pariser Wohnung die schäbig gewordenen Stellen seines Bücherregals zu verdecken, mit Theaterprogrammen, Zeitungsausschnitten, Fotos, zum Beispiel einem Portrait von Louis Armstrong.

    "Und eines Abends war er beim Lesen, hebt seinen Blick und guckt sich diese Leiste an und stellt fest: Es gibt - von oben bis unten - es gibt eine durchgängige Linie, die all diese disparaten Dinge miteinander verknüpft hat. Diese Linie ging an der Trompete von Armstrong vorbei und dann weiter an einem Frauenrücken, und so weiter und so fort. Von oben bis nach unten hatte diese eine Linie alles miteinander verbunden. Und das nennt er: den fantastischen Moment. Und beim Schreiben des Buches habe ich genau das erlebt: Ich hatte das Gefühl, es ist alles da. Es ist alles da."
    Liest man den Roman "Änderungsschneiderei Los Milagros" der 1972 in Buenos Aires geborenen Maria Cecilia Barbetta, bekommt man schnell einen Eindruck von diesem "Alles"; von der Fülle an Geschichten, Anknüpfungen an die Weltliteratur von 1001 Nacht bis Nabokov, von der griechischen Antike bis zur Popkultur. All diese Fäden laufen zusammen einer Änderungsschneiderei, in die eines Tages Analiá Morán kommt, um das Kleid ändern zu lassen, das bereits ihre Mutter zur Hochzeit getragen hat. Die junge Schneiderin Mariano Nalo macht sich umgehend und eifrig - als hätte sie acht Hände - an die Arbeit, hilft ihr das doch über den Trennungsschmerz hinweg, den sie empfindet, seit ihr Freund überstürzt nach Amerika aufgebrochen ist und von dort nur drei spröde Postkarten gesandt hat.

    Was so süffig, beinahe schon kitschig klingt, ist die bunte Seite des Buches, in dem es immer wieder düstere, mit dem Ekel spielende Szenen gibt, in denen Kakerlaken, Schnecken und anderes Kleingetier die Hauptrolle spielt. So stirbt zum Beispiel Marianas Vater am allergischen Schock nach einem Insektenstich.
    "Ich habe in meinem Kopf die Vorstellung, der ganze Roman ist unterkellert und im Keller lauern die Insekten. Und die Insekten wollen natürlich nach oben. Und es gibt immer wieder im Text Einladungen, hinabzusteigen in die Tiefe des Textes, zum Beispiel durch Sätze, die sich wiederholen wie: "Der Keim liegt immer ungesehen in der Tiefe". Und das Interessante an der Insektenwelt, an der Natur ist: Da gibt es kein Gut und Böse, das gibt es eine unglaubliche Grausamkeit, die wir aber nicht so bezeichnen können."
    Offen spricht Maria Cecelia Barbetta darüber, dass ihr Roman aus einer persönlichen Krise entstanden ist. Arbeitslos, auf eine ungeliebte und somit gescheiterte Karriere als Literaturwissenschaftlerin zurückblickend, unbehaust im Kunstmilieu, in dem sie nur einige wenige Arbeiten vorzuweisen hatte, lebenslang verliebt in die deutsche Sprache, aber von der deutschen Bürokratie nur als Spanischlehrerin akzeptiert, fuhr sie 2005 mit dem Fahrrad durch Berlin und entdeckte an einer Schneiderei das Schild: "Änderung von Damen, Kinder- und Herrenkleidung". Da nach dem Wort "Damen" der Trennungsstrich fehlte, las Maria Cecilia Barbetta: "Änderung von Damen". Das war der fantastische Moment, aus dem heraus ihr Buch entstand, das völlig zurecht den aspekte-Literaturpreis als bestes Romandebüt des Jahres 2008 zugesprochen bekommen hat, ist es doch nicht nur ein unangestrengt intellektuelles Lesevergnügen, sondern auch eine Bereicherung der deutschen Sprache und Literatur um neugeschöpfte Worte, Erzählideen, Satzmelodien. Was so für deutsche Leserinnen und Leser zum Geschenk wird, hatte für die Autorin eine andere Funktion:

    "Es ist so als ob die deutsche Sprache ein Mantel wäre und mit diesem Mantel kann ich zurück nach Buenos Aires reisen und mir diese Stadt angucken - beschützt durch diese Sprache, die für mich auch immer eine Distanz mit sich bringt, eine bestimmte Ironie und im Gegensatz dazu habe ich immer den Eindruck: Buenos Aires klebt an mir. Und klebt an mir derart, dass ich kaum atmen kann. Deshalb bin ich nie auf den Gedanken gekommen, den Gedanken gekommen, auf Spanisch darüber zu schreiben. Ich glaube, Wilhelm Genazino hat gesagt: "Literatur ist der Versuch, mit einem Schmerz zu sprechen.." Als ich mit dem Schreiben anfing, war ich unglaublich traurig und ich wurde dann im Laufe des Schreibens unglaublich glücklich. Ich glaube, ich habe die ganze Zeit mit einem Schmerz gesprochen. Und mit dem Schmerz kann ich am besten in der Fremdsprache sprechen. "
    Die Atemnot und der Schmerz weisen auf die jüngere argentinische Geschichte hin, die eine Art Grundstrahlung des Buches ausmacht, dessen Handlung sich auf die abgründigen, vom wundergläubigen Katholizismus zusätzlich verkomplizierten psychologischen Verwicklungen der Liebesgeschichten von Analiá Morán und Mariana Nalo konzentriert. Dabei wird das politische Zeitgeschehen der späten 1980er, in denen der Roman spielt, scheinbar ausgeblendet. Wenn aber Mariana Nalos nach Amerika verschwundener Liebhaber eine Postkarte über die Freiheitsstatue mit dem Wort "obskur" beginnt, können auch deutsche Leser erahnen, welche mentalen Folgen die Militärdiktatur und der Staatterror, der bis 1983 andauerte, für die jungen Menschen hatte, die in Argentinien aufgewachsen sind.

    Vor diesem Hintergrund gewinnt Maria Cecilia Barbettas Roman, in dem wie in einer Wunderkammer Schönes und Schreckliches, Bizarres und Banales, Ägyptische Pyramiden und Insektenfallen, Schmetterlingsflügel und plötzlicher Tod, Comichelden und antike Heroen zu neuen Ordnungen zusammengefügt werden, seine existentielle Dimension und literarische Größe: als der Versuch einer poetischen Neuerschaffung des Lebens.

    "Ich habe eine so große Angst davor, dass es so ist: Dass das Leben einfach sinnlos ist, dass ich lieber nach rechts oder nach links gehe und versuche diese andere Perspektive einzunehmen, wo man plötzlich ein schönes Bild vor sich hat."


    Maria Cecilia Barbetta: "Änderungschneideri Los Milagros", S. Fischer Verlag, 334 Seiten, 19,90 Euro