Donnerstag, 28. März 2024

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"Ein unbeugsamer Moralist"

Alexander Solschenizyn war ein Autor mit radikalen moralischen Ansätzen, der ein Werk von epochaler Bedeutung hinterlassen hat. Seine große Zeit ist allerdings schon Jahre vor dem Tod des Schriftstellers zu Ende gegangen.

Ein Nachruf von Karla Hielscher | 04.08.2008
    Als Alexander Solschenizyn im Juni 2007 den höchsten Staatspreis der russischen Föderation erhielt, zu dem ihm Präsident Putin bei einem Besuch in seiner Wohnung persönlich gratulierte, war seine wirkliche Bedeutung längst Vergangenheit.

    Schon Jahre vor dem Tod Solschenizyns ist eine Epoche zu Ende gegangen, in der der Literatur und dem Schriftsteller als "Lehrer des Lebens" eine überragende gesellschaftliche Funktion zukam. Diese aber war gebunden an den totalitären Staat, in dem die Literatur das wichtigste Medium der öffentlichen Debatten und oft der einzige Ort der Opposition war. Sie ist mit ihm untergegangen. Solschenizyn verkörpert mit seiner Biographie und seinem Werk den letzten Höhepunkt dieser aus der großen epischen Tradition des 19. Jahrhunderts in Russland hergeleiteten Wirkung des literarischen Wortes in Politik und Gesellschaft. Seine kantige Gestalt mit dem Prophetengesicht und sein monumentales Werk ragt wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit in unsere Gegenwart hinein.

    Dabei hat Solschenizyn mit seinen Büchern in der Tat ein paar Jahrzehnte lang Einfluss auf den Lauf der Geschichte im 20. Jahrhundert genommen. Mit seinem mutigen Auftreten, seiner moralischen Autorität und unbeirrbaren Standhaftigkeit wurde er während der letzten Jahrzehnte der kommunistischen Herrschaft zum Symbol für die Macht des unabhängigen Geistes gegenüber dem kommunistischen Staat und seiner Ideologie.
    Alexander Issajewitsch Solschenizyn wurde am 11. Dezember 1918 in Kislowodsk im Nordkaukasus geboren. Nach Abschluss seines Studiums der Mathematik und Physik in Rostow am Don kämpfte er während des 2. Weltkriegs als Artillerie-Hauptmann an vorderster Front. Wegen seiner in Feldpostbriefen ausgedrückten Kritik an Stalin wurde er verhaftet und verbrachte die Jahre 1945-1956 in verschiedenen Straflagern des Gulag und anschließender Verbannung in Kasachstan.

    Rühren an den Wurzeln des Systems
    In die russische Literatur trat Solschenizyn mit einem Paukenschlag. Seine Lagererzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" erschien 1962, in der kurzen Zeit des politischen Tauwetters, mit ausdrücklicher Billigung Chrustschows. Sie erschütterte das ganze intellektuelle Russland und setzte neue Maßstäbe für die geistige Auseinandersetzung mit der Sowjetmacht.

    Sehr bald wurde deutlich, dass Solschenizyns radikaler moralischer Ansatz an die Wurzeln des Systems rührte, und die Funktionäre von Partei und Schriftstellerverband versuchten, nachdem er 1967 in einem flammenden Appell die Abschaffung der Zensur gefordert hatte, ihn mit allen Mitteln mundtot zu machen. Der Streit um seine Person und seine im Samisdat, dem Selbstverlag, kursierenden Texte beherrschte die Debatten der sowjetischen Intelligenzija und trieb den laufenden Umdenkungsprozess, den rasanten Zerfall der kommunistischen Ideologie, weiter voran.
    Denn diese Aufgabe war es, der Solschenizyn - wie er es in einem Interview von 1976 ausdrückte - sein Leben gewidmet hatte.

    "Diese Ideologie ist natürlich mein Feind. Und die geistige Wiedergeburt unseres Landes besteht in der Befreiung von dieser tödlichen, mörderischen Ideologie."

    Mit der Publikation seiner verbotenen Werke seit 1968 im Westen gelangte Solschenizyn zu Weltruhm. Der Roman "Krebsstation", in dem er die existentielle Erfahrung seiner eigenen Krebserkrankung zum Sinnbild der kranken Sowjetgesellschaft ausweitet, sowie sein Roman "Im ersten Kreis der Hölle", der das Leben in der Scharaschka, einem mit wissenschaftlichen Forschungsaufgaben betrauten Spezialgefängnis für politische Häftlinge beschreibt, wurden - auch wegen ihrer konventionellen, leicht verständlichen und moralisch eindeutig wertenden Erzählweise - zu ungeheuren Publikumserfolgen im Westen. Ganz im Geiste Dostojewskijs war für Solschenizyn die Dimension der Moral jedem sozialen und politischen Ansatz übergeordnet, und er leitete seine Rolle allein aus der ethischen Verantwortung des Schriftstellers ab.
    1970 wurde ihm in Abwesenheit der Nobel-Preis für Literatur verliehen. In seiner 1974 gehaltenen Nobelpreisrede heißt es:

    "Die schwedische Akademie hat viele Vorwürfe anhören müssen, dass ihre Entscheidung politischen Interessen diene, aber die das behaupteten waren Schreihälse, die selbst keine anderen als politische Interessen kennen. Wir aber wissen, dass die Arbeit des Künstlers nicht in der ärmlichen politischen Dimension Platz hat, wie auch unser ganzes Leben nicht auf der politischen Ebene liegt. Es steht uns deshalb nicht an, auf dieser Ebene unseres gesellschaftlichen Bewusstsein stehen zu bleiben ..."

    Und in einem Interview:

    "Heute teilen schon viele in der Welt den einfachen Standpunkt, dass man nie eine gute Gesellschaft aus bösen Menschen aufbauen kann. Eine rein soziale Umgestaltungen ohne sittliche - das ist eine leere Zielsetzung ( ... ) Wir müssen von der politischen auf die sittliche Ebene übergehen."

    Epochale Bedeutung jedoch erwarb sich Solschenizyn vor allem mit seiner grandiosen Monumentalmontage "Archipel GULAG". In hunderten von nacherzählten, dokumentierten Schicksalen bewahrt er mit diesem mehrbändigen Werk die schreckliche Tragödie der Millionen Opfer des Sowjetsystems seit 1918 vor dem Vergessen und schreibt damit gegen den Verlust des historischen Gedächtnisses in Russland an.

    "Ein Künstler kann sich keine politischen Aufgaben stellen, den Wechsel des politischen Systems. Das kann nur ein Nebeneffekt aus allen Ergebnissen sein. Aber gegen unrichtige, gegen falsche Vorstellungen ankämpfen, gegen Mythen, gegen menschenfeindliche Ideologien, für das Gedächtnis, für unser Gedächtnis daran, was geschehen ist, kämpfen, das ist die Aufgabe des Künstlers. Ein Volk, das sein Gedächtnis verloren hat, hat seine Geschichte verloren, es hat seine Seele verloren."

    Aber die Wirkung dieses Jahrhundertwerks war natürlich vor allem eine politische. Der "Archipel GULAG", dieser zunächst 1973 in Paris erschienene "Versuch einer künstlerischen Untersuchung", wie es im Untertitel heißt, hat - wie kaum ein anderes Buch - Geschichte gemacht. In der Sowjetunion konnte seine Verbreitung im Samisdat auch durch härteste Repressionen der Machthaber nicht verhindert werden, und im Westen setzte das Werk der blauäugigen Sicht eines großen Teils der Linksintellektuellen auf den realen Sozialismus ein Ende. Solschenizyn wurde deswegen 1974 gegen seinen erklärten Willen gewaltsam in den Westen abgeschoben und aus seiner Heimat ausgebürgert.

    Die Exil-Jahre: politischer Anachronismus
    Im zwanzig Jahre währenden Exil in Vermont schuf er sein groß angelegtes Projekt über die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts, den Romanzyklus "Das rote Rad". In ausgewählten "Knoten", wie er es nennt, versucht er - angefangen mit den Schlachten des Ersten Weltkriegs - den Weg Russlands in den revolutionären Abgrund zu rekonstruieren und geschichtsphilosophisch zu deuten.

    In dem missionarischen Eifer, mit dem er beansprucht, den "Wahrheitsbegriff wiederherzustellen" und die einzig "wahre" Version der Geschichte Russlands zu bieten, beweist sich aber auch der politische wie literarische Anachronismus des Schriftstellers, der die gesamte Kunst und Literatur der Moderne als "Krankheit" und "Abwärtstrend" betrachtet. Immer deutlicher traten nun - mit der Idealisierung des vorrevolutionären Russland - die Konturen seines rückwärtsgewandten, konservativen, christlich orthodox geprägten, antiwestlichen Weltbildes zutage. Und auch künstlerisch überzeugt diese ausufernde epische Mischung aus historischem Dokument und Erzählung nicht.

    Die schrittweise Entfaltung von Glasnost und Perestrojka war noch einmal ganz wesentlich mit Solschenizyns Namen verbunden. Die russische Öffentlichkeit verlangte nun endlich die Publikation aller seiner Werke. Die noch kommunistische Regierung gab ihm 1990 die russische Staatsangehörigkeit zurück und bat um seine Rückkehr in die Heimat. Solschenizyn stellte die Veröffentlichung des "Archipel GULAG" als Bedingung, und dessen Erscheinungsjahr 1991 wurde zum Höhepunkt der Perestrojka.
    Im postsowjetischen Russland jedoch begann sogleich der Abstieg des Schriftstellers. Solschenizyns politische Denkschrift vom Herbst 1990 "Wie wir Russland umbauen müssen" wurde noch in Millionenauflage gedruckt, damals erwartete man von seiner heiß ersehnten Heimkehr nach Russland noch wahre Wunder der geistigen Erneuerung. Seine effektvoll inszenierte Rückreise 1994 wurde dann schon in vielen Zeitungen von erbarmungslosen Schmähkommentaren über den selbsternannten Propheten begleitet, und seine wöchentliche Fernsehsendung ziemlich schnell abgesetzt.

    Die Entwicklung Russlands im globalen Kapitalismus sah Solschenizyn voller Bitterkeit und Resignation als katastrophalen nationalen "Absturz" - wie es der Titel seines Buchs von 1998 ausdrückt - und er begrüßte deshalb die Wiederherstellung eines starken Staates durch Putin. Gegen die materialistische ökonomische Sicht, die die geistigen Fundamente seines Landes zerstört, beschwor er wieder und wieder die russische Geistigkeit. Er wurde zunehmend zur Repräsentationsfigur der antiwestlichen Nationalkonservativen in Russland.
    Sein voluminöses zweibändiges Werk "Zweihundert Jahre zusammen" über die "jüdische Frage" und die gemeinsame russisch-jüdische Geschichte ist das materialreiche Werk eines prätentiösen, ressentimentgeladenen Laienhistorikers, das - auch wenn es nicht, wie viele unterstellen, antisemitisch ist - seinem hohen Anspruch in keiner Weise genügt.
    Obwohl Solschenizyns in den letzten Jahren noch einige Erzählungen und autobiographische Schriften über sein Leben im Exil veröffentlichte, ist sein Lebenswerk schon im vorigen Jahrhundert zum Abschluss gekommen.
    Uns bleibt der kritische Respekt vor einer beeindruckenden Persönlichkeit von historischer Bedeutung und einem großen Unzeitgemäßen!