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Ein unentwirrbares Dilemma

Was tun, wenn man als erfolgreicher Filmemacher in Theresienstadt gefangen ist und den Auftrag erhält, einen Propagandafilm über das Leben im KZ zu drehen? Vor dieser Frage stand Kurt Gerron, dem der Schweizer Charles Lewinsky, Autor der hochgelobten jüdischen Familiensaga "Melnitz", seinen neuen Roman gewidmet hat.

Von Eva Pfister | 19.01.2012
    Kurt Gerron war als Schauspieler und Filmregisseur in den 20er-Jahren überaus erfolgreich. In der Uraufführung der "Dreigroschenoper" von Bertolt Brecht und Kurt Weill spielte er den Polizeichef von London, genannt "Tiger Brown", und sang den Mackie-Messer-Song; er wirkte in unzähligen Stummfilmen und in 14 Tonfilmen mit, etwa als Zauberkünstler an der Seite von Marlene Dietrich in "Der blaue Engel".

    Als Regisseur drehte er für die UFA sieben Filme, den achten musste er 1933 abbrechen, weil die Juden aus den Filmateliers von Babelsberg verjagt wurden. Im Exil in Frankreich, Österreich und den Niederlanden konnte er noch einige Filme machen, dann wurde er in das Konzentrationslager Westerbork verschleppt und später nach Theresienstadt. Dort wurde er noch einmal Filmregisseur. Der Lagerkommandant Karl Rahm wünschte sich einen "Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet", und so beschönigend wie dies er Titel sollte der Film auch sein: prominente Häftlinge in Großaufnahme, Juden bei sinnvoller Arbeit und in fröhlicher Freizeit, geputzte Anlagen und reich gedeckte Tische. Der magere Häftling Kurt Israel Gerson, einst berühmt als dicker Komiker Kurt Gerron, erhält das Angebot, diesen Film zu drehen. Hätte er sich weigern sollen? Dieses Dilemma ist Kern und Ausgangspunkt von Charles Lewinskys Roman.

    "Es ist ein Dilemma, das keinen positiven Ausgang kennt. Es ist, altgriechisch hätte man gesagt, zwischen Skylla und Charybdis, wie man's macht, macht man etwas Unmoralisches, wie man’s macht, macht man etwas Lebensbedrohendes, es gibt keinen positiven Ausgang, und darum meine ich auch, dass man als Nachgeborener nicht das Recht hat, ein moralisches Urteil zu fällen und zu sagen: Das hätte er nicht tun dürfen! Oder: Das und das hätte er machen müssen, das steht uns nicht zu.

    Das ist auch der Grund, warum ich versucht habe, die Geschichte aus seinem Blickwinkel zu erzählen, nicht aus einem Äußeren, denn das hätte immer eine Bewertung bedeutet, sondern aus seinem eigenen, der genau so hin- und hergerissen ist, wie es halt die Situation war."

    "Es kann mir niemand einen Vorwurf machen. Sie würden es alle tun. Alle.
    Die meisten.
    Ich bin kein Held. Auf der Bühne nicht und nicht im Leben. Ich bin Charakterspieler. Einer, der den anderen einen Charakter vorspielt.
    Es ist mein Beruf, Filme zu drehen. Mein Handwerk. Wenn einer Arzt ist, arbeitet er auch in der Krankenstation. Wenn einer Schuhmacher ist …
    Es ist nicht dasselbe.
    Rahm verlangt von mir, dass ich ihm lügen helfe. Zweifelt keine Sekunde daran, dass ich es tun werde. Er ist der Allmächtige. Der Herr über Leben und Tod.
    Ich will nicht sterben.
    Es ist nur ein Film. Ein Reportagefilm. Noch nicht mal Dialoge. Keine Spielhandlung. Nur zeigen, was ist.
    Nur zeigen, was nicht ist.
    In der Hölle sitzen und vom Paradies erzählen.
    Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Ich darf das nicht.
    Ich werde Rahm antworten, dass ich mich weigere.
    Ich werde Rahm antworten, dass ich den Film drehe."


    Charles Lewinskys Roman ist ein Gedankenstrom: Gerron reflektiert und argumentiert, er erinnert sich an seine Vergangenheit und erlebt unmittelbar seine Wirklichkeit in Theresienstadt. Der Text ist vor allem auch Rollenprosa, eine gesprochene Sprache, die Gerron charakterisiert, und zwar als Unterhaltungskünstler und als eitlen Schauspieler, der zum Beispiel im niederländischen Exil ins Kino schleicht – obwohl für Juden verboten -, um dort den Film "Der ewige Jude" zu sehen. Darin hatten die Nazis Szenen mit jüdischen Schauspielern zusammengeschnitten, die sie als elende Schmieranten entlarven wollten. Gerron war nicht etwa entsetzt, sondern ärgerte sich darüber, dass Fritz Kortner und Peter Lorre in längeren Ausschnitten gezeigt wurden als er selbst. "Ein Idiotenreflex", so beschimpft sich Gerron selbst in Lewinskys Roman, er spottet oft auch über sich selbst, nennt sich "Rampensau" und kann doch bis fast zuletzt nicht aufhören, zu witzeln und Pointen zu setzen, - was beim Lesen manchmal doch befremdlich ist.

    "Kurt Gerron war ein Mann, der aus der Kabarettszene gekommen ist, und er war, was man nicht vergessen darf, ein Berliner. Er kam aus einer Tradition, in der Pointen und das zugespitzte Wort ganz wichtig sind, auch als Mittel der Selbstdefinition. Und ich glaube, je schlimmer die Situation wird, desto mehr versucht man, seinen eigentlichen Charakter irgendwie zu bewahren. Und dieses Zuspitzen von Formulierungen, gehörte ganz grundsätzlich zu seinem Charakter. Er erinnert mich da ein bisschen an den berühmten Wiener Kabarettisten Fritz Grünbaum, von dem man weiß, dass er noch im KZ Pointen gemacht hat, weil es das war, was ihn als etwas Anderes als nur eine Nummer, nur ein Gefangener unter Millionen ausgezeichnet hat. Das war er selber. Und ich hab versucht, das auch bei Kurt Gerron so beizubehalten, die pointierte Sicht auf die Welt als Mittel der Selbstdefinition und der Selbstverteidigung."

    Es gibt eine Szene, in der Kurt Gerron in Theresienstadt mit einem Latrinenputzer ins Gespräch kommt. Der wirft ihm vor, diesen Film nur zu machen, um sich wieder als Regisseur zu fühlen, wo er doch nur noch ein elender Häftling sei. Mit allen Mitteln der Logik bemüht sich der Mann, Gerron des Selbstbetrugs zu überführen, und entpuppt sich dann als Philosoph. Gerron lacht ihn aus. Er, der einstige Philosophieprofessor, wolle sich durch sein Argumentieren doch auch nur seiner früheren Identität versichern. In solchen Momenten ist Lewinskys Roman am stärksten: Wenn er sich nicht nur in das Dilemma von Kurt Gerron, sondern in die Situation aller Häftlinge hineinversetzt, in ihre Verzweiflung, ihre Hoffnungen und in ihre winzigen Möglichkeiten, sich das Leben zu verbessern, sei es durch Mitarbeit in der jüdischen Selbstverwaltung oder durch Putzen bei den dänischen Insassen, die als einzige Pakete erhalten durften.

    Der Autor beschreibt den Alltag im Konzentrationslager von Theresienstadt so detailliert, als sei er dabei gewesen, aber mit Jahrgang 1946 gehört Lewinsky zu den Nachgeborenen des Holocaust. Wie hält man solch eine Recherche überhaupt aus?

    "Seltsamerweise hält man eine Geschichte, deren Ausgang man kennt, auch wenn es ein sehr schrecklicher Ausgang ist, fast besser aus, als eine Geschichte, die man erfindet und die sich in eine Richtung entwickelt, die man eigentlich nicht möchte, weil man das Gefühl hat, hier müsste ich doch Einfluss nehmen können. Hier weiß man, es ist passiert, es war so, und es gibt immer wieder kleine Anzeichen der Hoffnung, kleine positive Farben im allgemeinen Horror drin, und die herauszuholen und aufzubewahren scheint mir auch wichtig."

    Auf der anderen Seite steckt viel Fiktion in diesem Roman, der auch die private Geschichte von Kurt Gerson erzählt. Der verwöhnte Sohn wohlhabender Berliner Textilhändler wurde mit 17 Jahren im Ersten Weltkrieg an die Front geschickt und kam mit einer Verletzung zurück, die eine Drüsenfunktionsstörung beinhaltete, was massives Übergewicht zur Folge hatte. Lewinsky zählte zwei und zwei zusammen und beschreibt, wie es ist, wenn man im Lazarett erfährt, dass einem eine Granate die Hoden abgeschossen hat. Wie man sich neben den anderen Kriegsverletzten fühlt mit seiner unsichtbaren Versehrtheit, über die keiner spricht. Und wie man auf Frauen zugeht, im Wissen, nur noch ein halber Mann zu sein.

    "Gerron" berichtet, wie ein erfolgreicher jüdischer Künstler ausgegrenzt, erniedrigt und schließlich vernichtet wird. Aber es ist auch eine Art Theaterroman, der von einem Menschen erzählt, der die Welt als Bühne erlebt. Gerron inszeniert sich die Wirklichkeit so zurecht, wie er sie ertragen kann, phantasiert sich etwa schlechte Erfahrungen in Triumphe um. Lewinsky hat so auch ein Buch über Künstler im Elfenbeinturm geschrieben, aber das war nicht sein zentrales Anliegen, wie er sagt:

    Kurt Gerron wurde ja beauftragt, den verlogensten Film, ich würde sagen der Filmgeschichte zu drehen, nämlich das ziemlich scheußliche Ghetto von Theresienstadt als Paradies zu schildern. Und das führt automatisch natürlich zur Reflexion: Habe ich nicht mein Leben lang als Filmregisseur dasselbe gemacht? Ich habe nur anders gelogen. Ich habe den Leuten in Zeiten der Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit Happy Ends vorgespielt, ich habe Filme gedreht, in denen am Schluss immer alle reich, glücklich und verheiratet waren, obwohl ich wusste, dass die Welt natürlich nicht so ist. Und ich habe mir damit eine private Karriere verdient. Und genau das, was in seinem Leben erfolgreich war, kommt jetzt in perverser, verdrehter Form wieder auf ihn zu, nur jetzt ist es die schlimmstmögliche Strafe.

    "Ich spiele Kurt Gerron. Stecke mir beim Diktieren einen Bleistift in den Mund und kaue darauf herum. Warum ich das tue, hat mich Frau Olitzki gefragt. "Weil ich ohne Zigarre nicht denken kann." Sie hat mich sehr zweifelnd angesehen.
    Zusammen mit ihr stelle ich Listen auf. Themen, die im Film vorkommen müssen. Mögliche Drehorte. Probleme.

    "Verpflegung", diktiere ich. "Bis zum Rand vollgeschöpfte Teller. Tischtücher. Besteck. Mehrere Gänge. Weiße Handschuhe für das Personal an der Essensausgabe."
    Die Schreibmaschine hört auf zu klappern. Frau Olitzki schaut mich an. "Das mit den Handschuhen – war das ein Witz, oder soll ich das wirklich schreiben?"
    Der ganze Film ist ein Witz Frau Olitzki.
    "Schreiben Sie es hin", sage ich.
    Weiße Handschuhe für das Personal an der Essensausgabe. Schnabulierende Kinder.
    Damals bei der Stadtverschönerung, als das Rote Kreuz zuschaute, haben die Kinder Sardinenbrötchen bekommen, und man hatte ihnen beigebracht zu sagen: "Nicht schon wieder Sardinen, Onkel Rahm!"
    Man hat ihnen vorher erklären müssen, was Sardinen sind.
    "Kochende Frauen", diktiere ich. "Eine dicke Köchin, die in einem riesigen Kessel rührt. Sie sagt etwas, und die anderen Frauen lachen."
    "Ich glaube nicht, dass Sie hier in Theresienstadt eine dicke Frau finden", sagt Frau Olitzki.
    "Dann machen Sie eine Anmerkung in der Rubrik Probleme."


    Der Roman beschönigt nichts. Dass die Häftlinge, die in der Küche arbeiten, Essen für sich und für die jüdische Lagerverwaltung abzweigen, beschreibt Lewinsky ebenso wie die fatale Eitelkeit Kurt Gerrons, die ihn sogar daran gehindert hatte, rechtzeitig in die USA zu emigrieren. Auch die "Zwanziger Jahre" werden nicht rückblickend vergoldet, sondern realistisch als Unterhaltungsindustrie mit starken Konkurrenzkämpfen geschildert. Bertolt Brecht zum Beispiel kommt gar nicht gut weg in Lewinskys Roman, er wird als Luxusprolet und Egomane gezeichnet. Das sei aber nicht sein persönliches Brecht-Bashing, sagt der Autor:

    "Das Verhältnis zwischen Brecht und Gerron war ein Verhältnis eines totalen Krachs. Die Beiden haben sich gegenseitig gehasst wie die Pest, und es ist ein nicht von mir erfundener, sondern historisch belegter Satz, dass Bert Brecht, als er als Emigrant den Emigranten Kurt Gerron in Paris antraf, sagte: "Diesen Riesenhaufen Scheiße konnte noch nicht mal Adolf Hitler wegschaffen."

    Charles Lewinskys Roman ist voller Respekt für seine Figuren geschrieben, aber ohne die tiefe Ehrfurcht, mit der den Opfern des Holocaust meistens begegnet wird. Das kann zuweilen befremden, führt aber unmittelbar und lebensnah in die Vergangenheit hinein.

    Charles Lewinsky: "Gerron",
    Nagel & Kimche Verlag, München 2011

    Besprochen von Eva Pfister.