Sonntag, 12. Mai 2024

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Ein unvergleichliches Naturell: Wieland und Goethe

Am Anfang jener faszinierenden Epoche, die Heine die "Kunstperiode" nannte und in der Weimar zum Mekka der europäischen Literatur aufstieg, steht Christoph Martin Wieland. Dass er heute wenig gelesen wird, sagt nichts über die enorme Wirkung auf seine Zeitgenossen: als kosmopolitischer Aufklärer, als geistreicher Prosaist, als Verserzähler, Essayist und Übersetzer.

Von Albrecht Betz | 22.06.2008
    Der Berg kreißt und gebiert eine Maus: welch poetischeres - und zugleich krasseres - Bild lässt sich finden für politische Mega-Inszenierungen, deren horrender Aufwand in umgekehrtem Verhältnis steht zum meist kärglichen Resultat? Ironie der Geschichte sagen manche ...

    Sie meinen den G-8-Gipfel in Heiligendamm vor einem Jahr ...

    Ich meine den Erfurter Fürstentag vor 200 Jahren, im Herbst 1808; selbst das historische Recycling beansprucht noch große mediale Aufmerksamkeit: in Erfurt bereitet man zur Zeit die Feier der Wiederkehr im Oktober vor, mit enormem Aufwand: als touristisches Großevent.

    Warum? Weil Napoleon - als Gastgeber - auch Goethe und Wieland in Audienz empfing?

    Derlei lässt sich spektakulär in Szene setzen, vor allem, wenn der berühmte Dom als Kulisse dient. - Politisch war der Fürstentag - trotz drei Dutzend versammelter "regierender Herrscher" - eher ein Flop.

    Was hatte sich Napoleon erhofft?

    Im Zentrum stand ein prunkvolles Treffen mit dem Zaren Alexander I. Napoleon wollte sein Bündnis mit Russland festigen, um sich den Rücken freizuhalten: aus Spanien wurden Volksaufstände gegen die französische Besatzung gemeldet und Österreich rüstete auf. Es bereitete sich vor, was später als antinapoleonische Befreiungskriege in die Geschichtsbücher einging. In Erfurt ging es vor allem um Machtdemonstration. Napoleon hatte die Fürsten des Rheinbundes herbeizitiert, die als Vasallen mit ihm kollaborierten. Alle waren mit beträchtlichem Anhang angereist: für die damaligen Journalisten wurde aus der eher unbedeutenden Provinzstadt: "Erfurt in seinem höchsten Glanz"; eine Schlagzeile, die auch die Gedenkfeier im Herbst zieren soll.

    Wenn man an die späteren Folgen des Treffens denkt - ein paar Jahre danach leitete gerade der Russlandfeldzug Napoleons Untergang ein ...

    - scheint der kulturelle und gesellschaftliche Rahmen in der Tat am aufregendsten gewesen zu sein: die täglichen Empfänge, Feste, Ballette und Theateraufführungen. Erfurt geriet für einige Wochen ins Blickfeld Europas. Napoleon hatte sogar die Theatertruppe der Comédie Francaise eigens aus Paris anreisen lassen, mit Talma, dem berühmtesten Schauspieler seiner Zeit. Und er fand Zeit für Wieland und Goethe, dessen Werther zu den vierzig Büchern seiner Reisebibliothek gehörte.

    Wieland soll schon zehn Jahre zuvor in seinem Teutschen Merkur Napoleons Aufstieg als Retter der Nation aus den Revolutionswirren vorhergesagt haben ...

    ... aber nicht deswegen gewährte er ihm eine Audienz, sondern weil er in ihm einen großen Kulturträger Deutschlands sah, der, wie Goethe, in ganz Europa übersetzt wurde. Dass Wieland zu den einflussreichsten und meistgelesenen Autoren seines Jahrhunderts gehört, ist heute kaum mehr bekannt, trotz vieler Bemühungen der Rehabilitation.

    An wen denken Sie?

    Zum Beispiel an Arno Schmidt, der behauptete, einen deutschen Intellektuellen erkenne man daran, dass er Wieland liebe - und damit vielleicht etwas zu sehr verallgemeinerte. Schmidt dekretierte:

    " Jeder Prosafachmann sollte daran interessiert sein, von Wieland zu lernen; einem Manne, durch dessen Schreibtisch wir Schriftsteller unseren ersten Meridian ziehen müssten. "

    Man muss es einen Glücksfall nennen, dass Wielands Werk in jüngerer Zeit einen ebenso intelligenten wie vermögenden Förderer in Jan Philipp Reemtsma gefunden hat, der- zugleich als Literaturwissenschaftler und Mäzen - viel für seine Verbreitung tut; sicher nicht zuletzt aus Sympathie für Wielands Verbindung von Aufklärung und Skepsis, von Kosmopolitismus und sinnlichem Charme, von Ironie und Eleganz.

    Wielandsche Elemente, die man bei Heinrich Heine wiederfinden kann.

    Davon soll später die Rede sein. Dass die deutsche Literatur im 18 Jahrhundert an die westeuropäischen Standards anschließen konnte, ist in hohem Maß Wieland zu verdanken; dass er der Sprache eine neue musikalische Geschmeidigkeit verlieh - und dadurch den Ausdruck vieler Nuancen erst möglich machte - ist eines seiner Verdienste, das schon Goethe rühmend hervorhob, so gegen Eckermann:

    " Wielanden verdankt das ganze obere Deutschland seinen Stil. Es hat von ihm gelernt, und die Fähigkeit, sich gehörig auszudrücken, ist nicht das Geringste. "

    Mir ist aufgefallen, wie oft Erstes mit Wieland verbunden wird, so als habe man mit einem wahrhaften Avantgardisten zu tun.

    Der Eindruck trügt nicht. Er schreibt den ersten deutschen Bildungsroman - den Agathon -, er ist der erste deutsche Shakespeare-Übersetzer, er schreibt das erste deutsche Drama in Blankversen, auch das erste deutsche Singspiel und gründet, mit dem Teutschen Merkur, die erste deutsche Kulturzeitschrift; ohne sie hätte Weimar vielleicht weniger Ausstrahlungs- und Anziehungskraft entwickelt. Dass Weimar zum Mekka, zum Pilgerzentrum der literarischen Welt werden konnte, verdankt es vor allem - und in dieser zeitlichen Reihenfolge - Wieland, Goethe, Herder und Schiller.

    Anders gesagt: was Heine im Rückblick die deutsche "Kunstperiode" nennen wird, beginnt damit, dass der berühmteste Autor der mittleren Generation - Wieland - und der vielversprechendste der jüngeren Generation - Goethe - in Weimar einen ersten Kern bilden ...

    Wieland als erster, Wieland am Anfang ...

    Am Anfang steht eine Frau, Anna Amalia. Sie, die verwitwete Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, Nichte Friedrichs des Großen, eröffnet den Weimarer Musenhof mit der Berufung Christoph Martin Wielands zum Prinzenerzieher. Das ist 1772. Drei Jahre später übernimmt Karl August das Zepter und holt den 26jährigen Sturm-und-Drang-Autor Goethe an den Hof. Für den bereits berühmten Wieland hat die zweite Lebens- und Schaffensphase begonnen; er hat seine pädagogische Mission erfüllt, behält sein Gehalt und kann sich hinfort ausschließlich seinen dichterischen und publizistischen Aktivitäten widmen : eine seltene und beneidenswerte Situation.

    Für die jungen Wilden in Weimar ist der Vierzigjährige damals schon "der alte Wieland": ein zierliches, graziles Männchen mit schwarzer Samtkappe, berüchtigt für seine Eitelkeitsanfälle und seinen Hang zum Jähzorn. - Andererseits ein gut sorgender Familienvater mit einer an Johann Sebastian Bach erinnernden, kaum übersehbaren Kinderschar. Er hielt das für eine beneidenswerte Situation ...

    Die er der Herzogin verdankte ...

    Was ihn nicht hinderte, im Verlauf zu anti-absolutistischen Positionen zu gelangen, schon mit dem liberalen Rechtsstaat am Horizont.

    In seiner ersten Arbeit für Weimar - wenn ich nicht irre dem Singspiel Aurora, zum Geburtstag der Regentin 1772 - lässt Wieland die Titelgestalt, also die Göttin der Morgenröte, des Anbruchs preisen:

    "Ich, ich glücklichster der Tage, Ich gab Amalien der Welt!"

    Die Licht- und Sonnenmetaphorik gehört zur Tradition des Fürstenlobs. Als drei Jahre später der junge Genius Goethe in Weimar eintrifft, schreibt Wieland begeistert und im gleichen Bildbereich bleibend:

    " Seit dem heutigen Morgen ist meine Seele so voll von Goethen wie ein Tautropfe von der Morgensonne. "

    Alles Bilder von Aufbruch und Beginn, wie bei der Grundsteinlegung eines künftigen Zentrums ...

    ... zu denen sich schon wenige Jahre später im Weimarer Kreis ein weiterer Vergleich hinzugesellt: der des kleinen, aber um so bedeutenderen Bethlehem in Juda, dem Geburtsort Christi im Heiligen Land: da Weimar als Wohnort der berühmtesten zeitgenössischen Dichter alle anderen deutschen Residenzen, auch die größten, überragt. 1776 schreibt Wieland an Gebler:

    " Ich bin einige Gegennachricht von unserm kleinen Weimar schuldig, welches, wie ehemals Betlehem-Juda, jetzt nicht die kleinste unter den Töchtern Deutschlands scheint und gewissermaßen der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden ist. "

    Im Gedicht Auf Miedings Tod, 1782, kann Goethe schon reimen:

    " O Weimar! Dir fiel ein besonder Los: "
    " Wie Bethlehem in Juda, klein und groß! "

    Hat die freundschaftliche Beziehung Wieland-Goethe nicht mit einem Krach begonnen?

    Goethe, der ihn nach seinem Tod "ein so seltenes Talent" und einen "Stern erster Größe" nannte, der "unter allen das schönste Naturell besaß", hatte als junger Heißsporn ein - in eigenen Worten - "schändlich Ding ... auf Wielanden" drucken lassen, die Farce Götter, Helden und Wieland. Er hatte sein Singspiel Alceste aufs Korn genommen und ihm, in wildgenialischem Sturm-und-Drang-Furor, eine gänzlich verfehlte, verzärtelnde Auffassung der Griechen vorgeworfen. Später hat er eingesehen, dass ohne dieses Vorbild seine Iphigenie in ihrer reinen Humanität nicht möglich geworden wäre; mehr aber beschämte ihn die überlegene Großzügigkeit Wielands, der des Jungen beißendes Pasquill in seinem Merkur, wenngleich ironisch, als Beispiel der Satire lobte.

    Man könnte vermuten, dass dem künftigen Erotiker Goethe gerade Wielands Verständnis für Sinnlichkeit imponiert hätte, die Wiedergewinnung des Natürlichen in den zwischen-menschlichen Beziehungen, vielleicht sogar der in Deutschland fehlende Ton graziöser Anmut ...

    Erst später hat er dies indirekt zugegeben, man kann das im siebten Buch von Dichtung und Wahrheit finden:

    "Musarion" wirkte am meisten auf mich ... Hier war es, wo ich das Antike lebendig und neu wiederzusehen glaubte. Alles, was in Wielands Genie plastisch ist, zeigte sich hier aufs vollkommenste ... "

    Gemeint ist das Wieder-ins-Recht-setzen des Körperlichen, der federnd tänzerische Rhythmus, die Leichtigkeit, mit der Bewegung und Geist - hier Witz genannt - einer, nach Wielands Ausdruck, Philosophie der Grazien in der Gestalt der Musarion zum Ausdruck kommen. Sie wird, gleich eingangs, so geschildert:

    " Schön, wenn der Schleier bloß ihr schwarzes Aug entdeckte,
    Noch schöner, wenn er nichts versteckte;
    Gefallend wenn sie schwieg, bezaubernd, wenn sie sprach:
    Dann hätt ihr Witz auch Wangen ohne Rosen
    Beliebt gemacht; ein Witz, dems nie an Reiz gebrach,
    Zu stechen oder liebzukosen
    Gleich aufgelegt, doch lächelnd wenn er stach
    Und ohne Gift. Nie sahe man die Musen
    Und Grazien in einem schönern Bund;
    Nie scherzte die Vernunft aus einem schönern Mund;
    Und Amor nie um einen schönern Busen. "

    Das muss damals kühn geklungen haben aus der Feder eines schwäbischen Pfarrerssohns ...

    ... der viel von solch schwebender Leichtigkeit und Freiheit von Vorurteilen seiner intimen Kenntnis nicht nur der zeitgenössischen französischen Literatur verdankte, sondern der der griechischen und römischen Klassiker; schon als Knabe übersetzte er ihre Gedichte.

    Er scheint ein Sprachgenie gewesen zu sein. Wenn ich Hebräisch und Englisch hinzurechne ...

    In jedem Fall war er einer der kultiviertesten Autoren seiner Epoche. Zu recht eröffnet Madame de Stael - in ihrem berühmten Buch Über Deutschland - die Galerie der großen Schriftsteller mit Wieland: als einem Autor von europäischer Resonanz, in dem sich ein deutscher Dichter und ein französischer "philosòphe" (im Sinn von ‚Aufklärer') verbänden.

    All dies klingt nach Literatur aus Literatur, mit einer vergleichsweise schmalen Erfahrungsbasis. Der Vorwurf der Künstlichkeit liegt nahe.

    An solchen Vorwürfen hat es in der Vergangenheit nie gefehlt, heute sehen wir das anders. Künstlichkeit kann eine spezifische Qualität des Kunstwerks sein. Wichtiger ist, dass es beiden, Wieland wie Goethe darum gehen wird, die theologisch ständig reproduzierte Leibfeindlichkeit zu überwinden. Sie wollen weg von moralisierenden Begriffen wie Laster oder Sittenlosigkeit und wollen das Ensemble von Triebfeindschaft und Sündenbewusstsein verabschieden, eine vitale Harmonie von Körper und Geist wiedergewinnen. Die Antike gilt ihnen deshalb als Vorbild, weil in ihr, wie Goethe in seinem Essay über Winckelmann schreibt, ...

    " ... jene kaum heilbare Trennung in der gesunden Menschenkraft (noch) nicht vorgegangen war. "

    Die wechselseitige Durchdringung von Sinnlichkeit und Vernunft, in der die Sinnlichkeit vergeistigt, das Denken hingegen sinnlich werden soll, setzt zunächst - nach jahrhundertelangen kirchlich gesteuerten Verkrampfungen - die Befreiung der Sinnlichkeit voraus, konkret: die ihrer Basis, der natürlichen menschlichen Sexualität. Dabei helfen kann das Wissen um das bloß Relative von Moralvorstellungen; sie wechseln je nach Raum und Zeit.

    Wielands Erfahrungen beschränken sich auf Deutschland und die Schweiz.

    Goethe erfährt seine Wiedergeburt in Italien: die Römischen Elegien zeugen vom gelungenen Brückenschlag zur Antike und zugleich von der neuen Erfahrung nichtrepressiver körperlicher Liebe. ROMA-AMOR ist ein ganzes Programm, Inszenierung einer Privat-Mythologie mit Amor im Zentrum. Unter dem Schutz des antiken Paradigmas entstehen dichterische Erotica Romana (so der ursprüngliche Titel), in einer in Deutschland bislang ungehörten Weise - Liebesgeschichte als Körpergeschichte.

    " "Uns ergötzen die Freuden des echten nacketen Amors
    Und des geschaukelten Betts lieblicher knarrender Ton."

    Universalität heißt eben auch - und dahinter steht ein Gedanke der Aufklärung - Gleichheit, hier die der Körper, jenseits des sozialen Standes, zumal der höfisch-feudalen Zwänge. Daher dieses Bild des "Lagers":

    "Ohne das seidne Gehäng und ohne gestickte Matratzen
    Stehet es, zweien bequem, frei in dem weiten Gemach."

    Von der Verwandlung unmittelbarer körperlicher Inspiration in Poesie zeugen die Verse der fünften Elegie:

    " Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet
    Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand
    Ihr auf den Rücken gezählt ... "

    Die Rehabilitierung des Sinnlichen gipfelt in den Römischen Elegien in einer gewagten Schlusspointe: der Dichter setzt, dank seiner Kunst und mit einem Pfeil gegen die "entnervten Heuchler", den so lange schon heruntergekommenen und ausrangierten Gott Priap in seine Rechte wieder ein und gewinnt als Dank die Verheißung seines Beistands in jenen Situationen, da er seiner bedarf.

    Ich erinnere mich, dass von Stendhal bis Adorno Schönheit definiert wurde als Glücksversprechen, dem ein sexuelles zugrunde liege. Dann muss es die sprachliche Schönheit der Elegien sein, die - mit dem Inhalt ineins - dem Leser Glück verheißt. Die Teilhabe an diesem ganzheitlichen Sensualismus wäre dann das Angebot: eines zu sinnlicher Selbstbefreiung.

    Richtig, aber da ist ein Kampf an vielen Fronten zu führen.
    In den zwei Jahre nach den Elegien, 1790 entstandenen Venezianischen Epigrammen tritt das Erotische in den Dienst der Zeitkritik: Gegenwartsschelte des katholischen Italien vom antikisch-neuheidnischen Standpunkt aus, gerichtet gegen Jenseitsvertröstung, Entsagung, Enthaltsamkeit.

    "Sauber hast du dein Volk erlöst durch Wunder und Leiden
    Nazarener! Wohin soll es, dein Häufchen, wohin?"

    So beginnt eines der Epigramme, um dann, im gleichen protestierenden Tonfall zu enden, wiederum die Spaltung von Leib und Geist anprangernd:

    "Komm noch einmal herab du Gott der Schöpfung und leide,
    Komm, erlöse dein Volk von dem gedoppelten Weh!
    Tu ein Wunder und rein'ge die Quellen der Freud und des Lebens.
    (Dann): Paulus will ich dir sein, Stephanus wie du's gebeust."

    Nicht fehlen können bei solcher Bestandsaufnahme des unglücklichen Bewusstseins religiöse Intoleranz und Fanatismus. Seit Lessings Nathan nichts gelernt ließe zu folgendem Epigramm sich anmerken:

    "Juden und Heiden hinaus! So duldet der christliche Schwärmer.
    Christ und Heide verflucht! Murmelt ein jüdischer Bart.
    Mit den Christen an Spieß und mit den Juden ins Feuer!
    Singet ein türkisches Kind Christen und Juden zum Spott.
    Welcher ist der klügste? Entscheide! Aber sind diese
    Narren in deinem Palast, Gottheit, so geh ich vorbei."

    Goethe exponiert seine erotisch-hedonistische, neu-heidnische Position als uneingeschränkt oppositionell zu konfessionellen Auffassungen stehend, als Diesseitsreligion sui generis:

    "Ob erfüllt sei was Moses und was die Propheten gesprochen
    An dem heiligen Christ, Freunde, das weiß ich nicht recht.
    Aber das weiß ich: erfüllt sind Wünsche, Sehnsucht und Träume,
    Wenn das liebliche Kind süß mir am Busen entschläft."

    Freundschaft und Komplizität gibt es mit den antiken Göttern und ihrer Freude am erotischen Spiel - da ist Glaube nicht mehr gefordert, ihre Impulse strömen im Kraftfeld des Ästhetisch-Anschaulichen und steigern den élan vital. Die galanten Doppeldeutigkeiten fokussieren meist eine Idee. Bei Goethe, hier in ironischen Hexametern, die der rivalisierenden Anziehungskraft :

    " Kehre nicht, liebliches Kind, die Beinchen hinauf zu dem Himmel;
    Jupiter sieht dich, der Schalk, und Ganymed ist besorgt. "

    Bei Wieland, der im Oberon im Fluss der Jamben eine Perlenkette von Abenteuern aneinanderreiht, geht es an einer Stelle um die zugleich heikle und charmante Balance von Verborgenem und Sichtbarem:

    " Die Gaze, die nur, wie ein leichter Schatten
    Auf einem Alabasterbild,
    Sie hier und da umwallet, nicht verhüllt,
    Scheint mit der Nacktheit selbst den Reiz der Scham zu gatten. "

    Über solchen Reizen sollte man den Romancier Wieland nicht vergessen, nicht nur den Autor der philosophischen Geschichte des Agathon, sondern auch den der Geschichte der Abderiten: einer in die griechische Antike verlegten, freundlich einherkommenden aber mit bösem Blick geschriebenen Kleinbürgersatire; deren Befunde werden auch heute jedem in einer Kleinstadt lebenden in die Augen springen.

    Als engagierter Publizist erscheint mir Wieland im späten 18. Jahrhundert als ebenso gebildeter wie fortschrittlicher Solitär. Ich bin im Teutschen Merkur auf seinen Aufsatz Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller gestoßen ; der enthält eine Passage zur Pressefreiheit, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt - Ausdruck eines angewandten Humanismus, vier Jahre vor der Französischen Revolution:

    " Freiheit der Presse ist Angelegenheit und Interesse des ganzen Menschengeschlechts. Ihr haben wir hauptsächlich die gegenwärtige Stufe von Cultur und Erleuchtung, worauf der größere Teil der europäischen Völker steht, zu verdanken. Man raube uns diese Freiheit, so wird das Licht, dessen wir uns gegenwärtig erfreuen, bald wieder verschwinden; Unwissenheit wird bald wieder in Dummheit ausarten und Dummheit uns wieder dem Aberglauben und dem Despotismus preisgeben ... Freiheit der Presse ist nur darum ein Recht für Schriftsteller, weil sie ein Recht der Menschheit ... ist." "

    Es scheint wenig bekannt, dass Wieland den Begriff "Aufklärung" in die deutsche Sprache eingeführt und von Beginn an zur vollen Geltung erhoben hat, als allgemeinen Fortschritt von Vernunft und Kultur. Im Agathon findet man den Satz:

    " Er sah also, dass wahre Aufklärung zu moralischer Besserung das Einzige ist, worauf sich die Hoffnung besserer Zeiten, das ist, besserer Menschen, gründet. "

    Auch der Ausdruck "Staatsbürger" stammt von Wieland: die Differenz zum "Bürger" ist die, die im Französischen den "citoyen" vom "bourgeois" unterscheidet. Im aktuellen, parteipolitischen Sprachgebrauch wird - wenn von "die Bürgerlichen" die Rede ist - genau dies verwischt.

    Was den Publizisten Wieland auszeichnet, ist die Kombination von Weitblick und Sachverstand, von aufklärerischem Verantwortungsbewusstsein und skeptischer Gelassenheit.

    Das befähigt ihn zu abgewogenen Urteilen, eine Trennung zwischen Bildung und Politik erkennt er nicht an. "Grundverfassung", "Naturrecht", "Vernunft" sind wiederkehrende Leitworte. Die große Umwälzung von 1789 - man vergleiche damit Goethes ablehnende, nicht selten spöttische Haltung - nennt Wieland von Anfang an ...

    " ... diese für Frankreich, für ganz Europa, für die ganze Menschheit so unendlich wichtige Revolution. "

    Ob sie in ihrem ganzen Anspruch von den Zeitgenossen erkannt wird, ist nicht sicher. Sie ist die Umwälzung einer weltlichen und geistlichen Hierarchie zugunsten einer egalitären Ordnung, wo der wichtigste Bezugspunkt der Mensch ist - und nicht mehr Gott.

    Gleichwohl sieht Wieland klar den Beginn eines neuen europäischen Zeitalters, eingeleitet durch einen Umsturz, dessen Notwendigkeit er als Akt der Notwehr des Volkes gegen den "unleidlichsten Despotismus" erklärt; stets eingedenk des drohenden, zumindest möglichen Bürgerkriegs. Er reflektiert über die Chancen der Republik im Umfeld der bestehenden Monarchien, kritisiert den aufflammenden Fanatismus. 1790 wendet er sich mit Unparteiischen Betrachtungen, einem seiner rhetorisch brillantesten Aufsätze, an die "Freunde der Freiheit" und blickt auf das große Jahr zurück:

    " Sie wussten, dass es immer für unmöglich gehalten worden war, dass eine große Monarchie, nachdem sie durch alle Stufen der sittlichen und politischen Korruption gegangen und bis zum höchsten Grade des tollsten Leichtsinns, der übertriebensten Üppigkeit und des insolentesten Übermuts auf der einen und der schmählichsten Unterdrückung und Misshandlung auf der anderen Seite herabgesunken, wieder in ein neues Leben zurückgerufen werden könne. Aber sie hofften alles von den unzerstörbaren Kräften zu einer schönen, edeln und glücklichen Existenz, welche die Natur in den Menschen gelegt hat. Sie hielten das, was sie unternahmen, für etwas, das in einer Zeit zustande kommen könne, wo die Vernunft schon so viele große Siege über die Vorurteile und Wahnbegriffe barbarischer Jahrhunderte erhalten hatte; in einer Zeit, wo ihre Nation an Aufklärung keiner andern wich und durch manche scharfsinnige, ausführliche und tief durchdachte Theorien über die wesentlichsten Rechte und wichtigsten Angelegenheiten der bürgerlichen Gesellschaft, der Staatsökonomie, der Gesetzgebung und der Gerechtigkeitspflege sowohl als durch die Freimütigkeit und Energie, womit Voltaire, Helvetius, Rousseau und andere große, aber kühne und vor ihnen selten gehörte, nur behutsam in sichere Ohren geflüsterte oder in Allegorien und Märchen verkleidete Wahrheiten laut vor ganz Europa gesagt hatten, mehr als jemals zu einer durch die bloße Übermacht der Vernunft zu bewirkenden Revolution vorbereitet schien. "

    Wieland, der die römischen Historiker studiert hat und viel über die Gefahren weiß, die den Wechsel von Staatsformen begleiten, warnt vor der Möglichkeit der Konterrevolution. Er gibt eine Analyse der Interessen.

    " Der Ausgang ist noch sehr ungewiss. Niemand kann daran zweifeln, dass an einer Gegenrevolution gearbeitet wird ... Denn ohne dass eine Verabredung oder Zusammenverschwörung nötig wäre, arbeiten alle diejenigen, deren Interesse es ist, die Sachen wieder auf den alten Fuß zu bringen, mit vereinigtem Willen und mit einem ganz anderen Eifer, als den der bloße Patriotismus einflößen kann, der Nationalversammlung entgegen. Ihr Name ist Legion. Der größte Teil der hohen Geistlichkeit und des Adels, die Hofleute, die Parlamenter mit ihrem ganzen Anhange, die Finanzleute mit dem ganzen ungeheuern Schweife, den dieser vielköpfige Drache nach sich schleppt, kurz, eine Menge der Angesehensten und Reichsten, die bei der neuen Konstitution nur verlieren können, hingegen genug gewonnen haben, wenn sie sich im Besitz ihrer althergebrachten Vorteile erhalten, sind ebenso viele natürliche Feinde der Revolution, die das Mögliche und Unmögliche versuchen, sie noch vor ihrer Vollendung wieder umzustürzen. "

    Die Tendenz zu revolutionären Exzessen in den 1790er Jahren hat er aber doch verurteilt?

    Sicher hat ihn die Entwicklung enttäuscht, er hätte sonst kaum auf die starke Hand eines Militärs wie Napoleon gesetzt, um sein geliebtes Frankreich vor der Anarchie bewahrt zu sehen. Auch dazu gehörte eine aus politischem Tatsachensinn - und umfassender Kenntnis der Antike - gewonnene Weitsicht.

    Goethe sah in Napoleon offenbar das große, weltgeschichtliche Individuum, für das er sich selber hielt. Im Jahr 1808, dem Jahr des Faust, ernannte Napoleon beide, Wieland und Goethe, zu Rittern der Ehrenlegion. Im Rückblick erscheint ein solches Detail fast ohne Belang. Über ihre Resonanz waren sich beide, selbstbewusst, im klaren. Wieland schrieb:

    "Ich habe aber seit fünfzig Jahren eine Menge Ideen in Umlauf gesetzt, die den Schatz der Nationkultur vermehrt haben und nun gar nicht mehr den Stempel ihres Urhebers tragen. Dies ist mein Verdienst."

    Wichtig bleibt beider Beitrag zur unwiederholbaren Konstellation Weimars in den Jahrzehnten der Sattelzeit um 1800 und beider Bedeutung für die - und ihr Interesse an der - nicht nur deutschen Literatur. 1825 blickt Jean Paul in seiner Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule darauf zurück.

    " Wieland, Herder und Goethe ... verbrüderten sich in hoher Eigentümlichkeit der Weltanschauung der Poesie, die sie mit einer parteilosen Allseitigkeit erkannten und anerkannten. "

    Jean Paul bescheinigt ihnen ...

    " ... weltbürgerliche Vielseitigkeit (und) Kosmopolitismus des Blicks. "

    Damit ist man schon in der Nähe von: Weltliteratur.