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Ein unversöhnlich sanftes Ende

Nach seinen Ausflügen in die dekadente Welt des italienischen Dichterfürsten Gabriele d'Annunzio - in zwei Romanen - ist Hermann Peter Piwitt wieder ganz bei sich selbst, gewissermaßen "heimgekehrt". Das neue Buch, wenngleich provokant "Roman" genannt, sprengt im traditionellen Sinne die Gattung. Darin werden Episoden geschildert, Beobachtungen reflektiert und Geschichten erzählt, die romanhafte Stoffe par excellence in Hülle und Fülle enthalten. Und die oft so angelegt sind, daß eine Geschichte überraschend in mehrere neue ausbricht und barock ausufert. Man könnte meinen, das Leben habe sie geschrieben.

Hans-Jürgen Schmitt |
    Doch ihr so sprachgewandter Verfasser heißt Hermann Peter Piwitt, der es nicht auf die Tränen provozierende Fernsehschmonzette anlegt. So sei der Leser, der Gemütliches erwarten könnte, gleich gewarnt. Piwitt zeigt sich, wie in seinen frühen Essays und Prosastücken, als ein unerbittlicher Beobachter, der die Realität wie mit einem Feldstecher so überscharf heranholt, daß die von ihm fokussierte Wirklichkeit Phantasma,Karikatur, Satire als Wahn-Fiktion zu einem in sich stringten Buche wird. "Ich ist gar nichts, man hat es am Hals", heißt es an einer Stelle: Hat es abgedankt, fragten wir den Autor: "Ich kehre immer wieder auf das Ich zurück, aber es ist in dem Sinne keine runde Persönlichkeit. Es sind tief Verletzte, und es sind zum Teil ganz normal angepaßte Irre, es sind Menschen, die vielleicht nur dumpf herumsitzen und mit sich selbst reden. Ich kenne immer mehr Menschen, die nur noch mit sich selbst reden. Das Buch ist eine Promenade durch die geschlossene Anstalt, die unser Leben geworden ist. Wenigstens scheint es, als sei es das Leben selbst, so wahnwitzig, wie wir wirtschaften. Das ist alles akzeptiert. Und ob ich nun in der dritten oder zweiten Person rede oder wir sage - es ist immer ein Mensch, mit dem ich mich identifiziere. Dann sage ich auch ‘Ich’."

    Das erklärt, warum Piwitts Buch in verschiedenen Rollen erzählt wird: Mal ist der Erzähler der Reisende, mal Gärtner, Beamter, Musikkritiker, einmal auch der Schriftsteller. Der Ich-Erzähler ist oft ein seltsamer Reisender, der in Piwitts Worten, "im Irrgarten des Territoriums", das ist Deutschland, umherstreift. Er liebt es, von Bahnhöfen aus zu starten, und sei es, nur zur Provinzstadt Uelzen, nicht, weil er sich dort etwas Besonderes erhofft, sondern weil er auf Reisen die Menschen, die ihm zu Hause auch begegnen, noch genauer wahrnimmt. "Uelzen, dachte ich, vielleicht hält es sich dort, am belanglosesten aller vorstellbaren Orte, versteckt, das Leben, da es an den angeblich erregendsten sich nicht zu erkennen gibt."

    Tatsächlich ist verblüffend, wie Piwitt etwa in einem Vorortzug das Outfit der modisch gekleideten Jugend so haargenau beschreibt, als sei er ihr Couturier. Nein, Piwitt ist kein Maßschneider für Wirklichkeiten, sondern Aufspürer ihrer Verwerfungen. Verwandelt sich der Reisende gar in einen begehrten Dokumentaristen, ergeht's ihm schlecht: eingeladen von der professoralen Elite eines fernen asiatisches Landes, nach vielen Stunden Flug dort angekommen, findet er nicht Einlaß - vor dem Gesetz - ohne Paß. Abgeschoben wird er wie ein Asylant bei uns. Reist er in Deutschland, dem sogenannten "Territorium" , muß er sich fast unter Androhung von Gewalt in einem Zug die Lebensgeschichte eines Stewarts anhören; eine glänzend untergründig komponierte, grotesk komische Story, bei der der Leser in Lachen ausbricht. Oder: welche Verrücktheit, welche Pervertierung: Die Verdächtigung eines Mannes durch eine Mutter der betuchten Hamburger Gesellschaft, er könnte vielleicht Hunderte von Kinder verführen, ist ein Wahnstück der Sonderklasse.

    Piwitt, 1935 in Hamburg geboren, meint, das "Territorium" sei ein Ort, das vor allem in den Köpfen gegenwärtig ist. Mit Geld komme man zwar noch überall hin, aber aus dem Wahnsystem nicht mehr heraus. Im brillant verzweigten Prosastück über Hamburg, in dessen Mittelpunkt ein begabter Komponist mit seiner Verachtung von beiderlei Geschlecht und des eigenen Werkes steht, kommt die Hafenmetropole besonders schlecht weg. In der Stadt der Kaufleute und Journalisten, Werber, Entwerfer und Modisten sei alles aus zweiter Hand, sogar die Sonne, wenn sie scheint, wie aus dem Süden entliehen!

    Aber auch das "südliche Territorium" bietet keine Ausflucht. Kettensägen und Betonmischmaschinen vertreiben ein Paar, das sich zur Ruhe setzen möchte. Eine Mordserie, von Piwitt in einem kühl minutiösen Bericht-Stil erzählt, wirkt wie ein Schauerroman und läßt die südliche Idylle vollends umkippen: Jemand bringt Jäger zur Strecke und weidet sie aus, wie man erjagtes Wild ausweidet. Einzig sein Hamburger Freibad, ein mooriges zudem, irgendwo draußen, gibt dem Erzähler das Gefühl, sich noch dann und wann außerhalb des alltäglichen Irrsinns zu bewegen.

    "Das Leben vernichtet uns auf zweierlei Weise: indem es uns erschlägt oder sich, uns Liebenden, entzieht. Und so bin ich vielleicht nur davongekommen", kommentiert Piwitt einmal in der Rolle eines Schriftstellers. Gefragt, ob er sich nach diesem Buch noch ein weiteres überhaupt vorstellen könne, antwortet er: "Es gibt den schönen Satz von Titus Livius aus der ‘Römischen Geschichte’, aus der Vorrede. Marius und Sulla, die Klassenkämpfe sind zu Ende gegangen, Kaiserzeit, die Klassensgesellschaft ist schlimmer als vorher, und er sagt: ' Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir weder unsere Laster noch die Mittel dagegen ertragen können.’ Was bleibt im Augenblick ist für mich auch das Gelächter über das Wahnsystem, in das man uns gestürzt hat. Das macht villeicht auch die Bitterkeit des Buches aus, daß es dies spiegelt. Letztes Buch? Weiß ich nicht. Ich glaube, es ist wenig Hoffnung im Augenblick. Was kann man noch retten? Es ist schon zuviel unwiderbringlich verloren. Man kann also als Dichter sich durchaus mal erlauben, melancholisch zu sein."

    Ein Roman also doch? Piwitt beweist aufs eindringlichste mit seiner das Absurde dingfest machenden Wahrnehmung, daß seine romanhafte Kunstfertigkeit den Leser vor dieser depravierten Welt noch einmal mit Schaudern und einem trockenen Lachen davonkommen läßt.