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Ein vergessener jiddischer Troubadour

Als der angehende Dichter Itzik Manger in einer Bukarester Kneipe den letzten Überlebenden einer Gruppe fahrender jiddischer Sänger hörte, beschloss er, einer von ihnen zu werden. Aus ihren Volksliedern wob Manger, der vergessene jiddische Troubadour, der 1969 in Israel starb, seine Balladen und Gedichte.

Von Brigitte Van Kann | 30.06.2005
    Kurz nach dem ersten Weltkrieg hörte der angehende Dichter Itzik Manger in einer Bukarester Kneipe den letzten Überlebenden einer Gruppe fahrender jiddischer Sänger und beschloss, "einer von ihnen" zu werden. Ihm fielen die Volkslieder wieder ein, die er in der Schneiderwerkstatt seines Vaters gehört hatte: "Was für eine Orgie an Farbe und Klang. Ein verlassenes Erbe, Gold, das als Niemandsgut mit Füßen getreten wurde."

    Aus diesem Gold wob Itzik Manger, der vergessene jiddische Troubadour, seine Balladen und Gedichte. Der Jüdische Verlag hat ihm nun ein spätes Denkmal gesetzt - mit einer Auswahl seiner Texte, in deutscher Übersetzung und im jiddischen Original, von der Herausgeberin Efrat Gal-Ed übertragen sowie mit Kommentar und Nachwort versehen. Zu dem sorgfältig edierten Band gehört eine CD - Manger hat 1966 in Tel Aviv, drei Jahre vor seinem Tod, eine Schallplatte mit seinen Texten aufgenommen:

    " Stiller Abend. Dunkelgold.
    Ich sitz beim Gläschen Wein.
    Was ist geworden aus meinen Tagen?
    Ein Schatten und ein Schein -
    ein Augenblick von Dunkelgold
    soll in mein Lied hinein."

    Das "Abendlied", dessen Dunkelgold dem Buch seinen Namen gegeben hat, ist eins der späten Gedichte Itzik Mangers. Es stammt aus seinem letzten Gedichtband, der 1967 in New York erschien und den er "Sterne im Staub" genannt hat. "Die Sterne, die einmal auf dem Dach funkelten", schrieb er im Vorwort, "ziehen jetzt im Staub umher. Die letzten, die noch auf dem Weg spazieren gehen, halten noch nicht einmal an - entweder verstehen sie die Sprache nicht oder bevorzugen andere "Geschäfte"." Das Vorwort ist Klage und Abgesang. Der Dichter verabschiedet sich von seinen Lesern wie ein Sänger von seinem Publikum: "Sei's wie es sei, ich fühle die Schatten länger werden. Es wird Abend. Es wird Nacht. Gute Nacht, meine Herrschaften."

    Mit der Vernichtung der Juden Osteuropas starb ihre Sprache - das Gold der jiddischen Volkspoesie dunkelte und verlor seinen lebendigen Glanz. Itzik Manger hat den Schatz noch einmal gehoben und zum Funkeln gebracht. Am Vorabend des Holocaust implantierte der jiddische Dichter seinen Liedern ausgerechnet das Bilder- und Formenrepertoire der deutschen Romantik, des deutschen Volkslieds und der deutschen Ballade. Weiß und Schwarz, Silber und Gold sind die heraldischen Farben dieser Verse, die die nahe Verwandtschaft der beiden Sprachen und Kulturen beschwören. Aus Mangers frühen Balladen steigen jiddische Erlkönige, dunkle Schatten auf, die ins Verderben locken und drohen. Später wird Manger den Schatten einen Namen geben: deutsche Soldaten, SS, das "deutsche Mörder- und Irrenhaus".

    Seine Heimatstadt Czernowitz, aber auch das rumänische Jassy und Warschau, wohin es ihn zwischen den beiden Weltkriegen verschlug, waren damals multiethnische Städte mit einer Vielzahl an Sprachen, Kulturen und Glaubensbekenntnissen. Der jiddische Dichter Itzik Manger kannte keine Berührungsängste, und so verdanken wir ihm Gedichte, in denen Christus am Kreuz in jiddischer Sprache zu einem Bettler spricht.

    Geradezu familiären Umgang pflegte Manger mit seinen jüdischen Erzvätern. Er erzählte - fast möchte man sagen "vertonte" - das Alte Testament in jiddischen Versen neu und siedelte die biblischen Helden kurzerhand in einem osteuropäischen Schtetl an.

    "... Noomi schweigt. Die Öllampe brennt,
    und es summt der Samovar..."

    Der russische Samovar und die biblische Öllampe sorgen vereint, über die Schranken von Zeit und Religion hinweg, für Trost und Licht im Haus der Witwe Noomi, die ihre Söhne verloren hat und nun mit ihren Schwiegertöchtern allein ist. Itzik Manger holt das "Buch Ruth" mit seiner praktischen Toleranz und Solidarität heim in die Alltagswelt seiner Leser. Sein Abraham gibt dem Postillon Bakschisch, sein Jakob nennt Rachel eine "schöne Mademoiselle" ... Orthodoxen Rabbinern war das ein Gräuel, und selbst Marc Chagall sah sich nicht imstande, Mangers Bibel-Balladen zu illustrieren: Manger gehe allzu "kumpelhaft" mit den "biblischen Eltern" um. Im Grunde schöpften der weltberühmte Maler und der vergessene Dichter aus der derselben Quelle, aus der Volkspoesie mit ihrem reichen Inventar an Bräuten, Bettlern, weißen Zicklein und Sternen auf dem Dach. Doch wo Chagalls Liebende am Himmel fliegen, erdet Manger seine Helden im Hier und Jetzt, wo es Eisenbahnen und Nähmaschinen, natürlich nur von Singer, gibt:

    Die goldene "pawe", der goldene Pfau, wettet mit Kaiser Franz Joseph, dass er mit Hilfe der Schneidergesellen schneller ist als dessen edle Pferde. Der Pfau gewinnt die Wette und wünscht sich vom Kaiser das Privileg,

    " dass der goldene Pfau darf fliegen
    über das Land ab sofort
    und tragen die Liebesgrüße
    frei von Ort zu Ort."

    Der Kaiser erfüllt die Bitte und

    " Der bleiche Schneidergeselle
    singt bei der Singer-Maschin
    und freut sich über den Sieg
    des goldenen Pfaus in Wien..."

    Die goldene "pawe", der Märchen- und Zaubervogel, ist eine Chiffre für die jiddische Poesie und ein Sinnbild für etwas Unerreichbares, während der Kaiser in Wien für die glücklichen, gleichberechtigten Zeiten der Habsburger Juden steht. Geschrieben hat Manger den historisch-utopischen Traum von goldenen Pfau im Londoner Exil, wo er nach langen Irrfahrten landete und den Holocaust überlebte. Es waren einsame und arme Jahre, erst in New York und in Israel fand Itzik Manger, der Prinz der jiddischen Ballade, wieder ein Publikum und eine, wenn auch nur provisorische Heimat.