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Ein Vernunftrepublikaner in Amerika

Als die französische Regierung 1831 den jungen Alexis de Tocqueville beauftragt, das Rechtssystem und den Strafvollzug in den Vereinigten Staaten zu studieren, leben dort etwa 14 Millionen Menschen. Tocqueville bereist ein Land, dass gerade die Erschließung des Westens vorantreibt, dem der gigantische Strom neuer Einwanderer aber erst noch bevorsteht. Und er kehrt zurück mit einer Analyse, die heute als Pionierleistung der vergleichenden Politikwissenschaft gilt. Christian Hacke hat sie in die Hand genommen.

03.11.2008
    Das prägende Moment in Tocquevilles Leben und Werk ist die politische Krise, die er im nachrevolutionären Frankreich der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts erlebt. Er interpretiert diese nicht als Einzelereignisse, sondern als Erscheinung der Gesamtkrise politischer und gesellschaftlicher Ordnung der europäischen Zivilisation. Folglich konzentriert sich sein Denken auf die Suche nach vernünftiger Ordnung, in der Freiheit, Gleichheit und Würde des Menschen verwirklicht werden. Als er 1831 in diesem Sinn in Amerika die Gesellschaft studiert, ist er fasziniert wie private Interessen mit dem Allgemeinwohl zu harmonisieren scheinen:

    Eine Art von verfeinerter und intelligenter Selbstsucht scheint die Achse zu sein, um die sich die ganze Maschinerie dreht,

    notiert er und sieht im Vergleich zu Frankreich eine Neue Welt in der sich eine stärkere Gleichheit mit einer größeren Freiheit zu vertragen scheint:

    Der reichste Mann und der ärmste Handwerksgeselle geben sich auf der Straße die Hand,

    staunt der adelige Franzose, der im faszinierenden Andersartigen zugleich das Problematische notiert:

    Wahrheiten, die man dem Volk nicht sagen kann wie zum Beispiel Sklaverei.
    1831 lebten in den Staaten mit abgeschaffter Sklaverei lediglich 120.000 Schwarze, aber in denen mit fortgesetzter Sklaverei noch mehr als 2,2 Millionen. Vor allem im Süden wird deshalb Tocqueville bewusst, dass die amerikanische Gleichheit kein allgemeingültiges Prinzip ist, sondern eine Aristokratie der Rasse dominiert. Trotz allem prognostiziert er die Rolle der amerikanischen Gesellschaft als Schrittmacherin der Gleichheit,- vor allem mit Wirkung auf Frankreich und Europa. Dabei gilt es zu bedenken, dass für Tocqueville Demokratie im Sinne der "egalité des conditions" weder gut noch böse ist, vielmehr hält er ihre Verbreitung für unabwendbar. Daraus erwächst für ihn die Schlüsselfrage ob und wie eine Gesellschaft, in der die Menschen vereinheitlicht werden, davor bewahrt werden kann, in Despotie zu entarten.

    Seine Schilderung der Demokratie in Amerika als Ganzes dient nicht der blinden Nachahmung, sondern kann als Lehrstück gelesen werden, denn, so Tocqueville, er habe dort

    ein Bild der reinen Demokratie gesucht, um wenigstens zu erfahren, was wir von ihr zu erhoffen und zu befürchten haben.

    Ihm kam es darauf an zu sehen, ob Gleichheit zur Knechtschaft oder zur Freiheit führt. Nüchtern wie ein Arzt diagnostiziert er die Gesellschaftsbedingungen. Und in der Analyse Amerikas wird ihm der bis dahin nur undeutlich bewusste elende Zustand Frankreichs überaus klar. Als 1835 der erste Band und 1840 der zweite Band des Buches erscheinen, wird er weltberühmt.

    Ohne gemeindliche Institutionen kann sich eine Nation zwar eine freie Regierung geben, aber den Geist der Freiheit besitzt sie nicht.
    Zu Recht betont Hereth in diesem Zusammenhang Tocquevilles Werben um Dezentralisation und Engagement in der lokalen Politik, der Bürger erlerne Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten durch den Umgang in der Praxis. Freiheit werde praktisch.

    Tocqueville plädiert also für eine Balance zwischen Freiheit und Gleichheit, wobei er einer utilitaristischen Interpretation von Freiheit und Gleichheit widerspricht: Beide dürfen nicht verstanden werden als Verfolgung privater und ökonomischer Ziele, sondern die Balance zwischen beiden soll durch praktische Klugheit erreicht werden. Folglich plädiert Tocqueville nicht für eine Freiheit des "laissez faire - laissez aller", sondern für gesellschaftspolitisch verantwortete Freiheit unter Berücksichtigung des Gleichheitsgedanken. Seine Schlussfolgerung, dass

    der Freiheit in der politischen Welt deshalb die gleiche Bedeutung zukommt wie der Atmosphäre in der physikalischen Welt,

    ist bildlich gesehen angemessen, denn der Aristokrat Tocqueville wurde konsequenterweise zum Vernunftrepublikaner. Doch schauderte ihm vor den Folgen einer unbegrenzten, nicht mehr durch sittliche Kräfte geläuterten Demokratie.

    Christian Hacke über Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. Das Buch ist in mehreren Taschenbuchausgaben erhältlich, bei Reclam etwa zum Preis von Euro 9,00.