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Ein verwirrender Roman über Vater und Sohn

Während eine Fülle niederländischer Romane den hiesigen Buchmarkt erreicht, tun sich die Verlage schwer bei der Entdeckung der großen Autoren jenes Landes. Diese Lücke schließt der 1884 geborene Ferdinand Bordewijk, der in seiner Heimat gleichermaßen als morbider Romantiker und magischer Realist mit surrealistischem Einschlag gehandelt wird. Sein 1938 geschriebenes Buch "Charakter" zeigt die konsequente Dekonstruktion des Vater-Sohn-Verhältnisses.

Von Dorothea Dieckmann |
    In der dunkelsten Zeit, um Weihnachten herum, wurde dem Kind Jacob Willem Katadreuffe im Rotterdamer Kreißsaal mit der Sectio caesarea auf die Welt geholfen. Seine Mutter war das achtzehnjährige Dienstmädchen Jacoba Katadreuffe, der Kürze halbe Joba genannt, sein Vater der Gerichtsvollzieher A.B.Dreverhaven, ein Mann an die Vierzig, schon damals jedem Schuldner, der in seine Hände geriet, als das Schwert ohne Gnade bekannt.

    Unter wahrhaft dunklen Vorzeichen beginnt das Leben des jungen Katadreuffe, der unehelich aufwächst, weil die Mutter sich weigert, den Vater zu heiraten. "Nein" heißt daher auch das erste Kapitel. Erst spät macht der junge Mann den Versuch, auf eigene Füße zu kommen. Als sein kleiner, auf Kredit gekaufter Laden pleite macht, verklagt ihn der heimliche Besitzer der Wucherbank; es ist niemand anders als sein Vater.

    Ausgerechnet bei seinem Konkursanwalt bemüht sich der junge Schuldner um eine Stelle und wird prompt eingestellt. Von da an setzt er alles daran, sich neben der Arbeit die Schulbildung anzueignen, die ihm seinem ehrgeizigen Ziel näherbringt: Er will studieren und Anwalt werden. Im Büro taucht immer wieder sein monströser Vater auf, doch kein Wort fällt zwischen den beiden, bis der Alte unversehens wieder zuschlägt und das Gehalt des strebsamen Sohnes pfänden lässt. Zum ersten Mal sucht er den gnadenlosen Vater in seinem verwahrlosten Domizil auf.

    Er sah den plumpen, wulstigen Kopf auf der Brust, die Augen lagen noch genau im Schlagschatten des Hutrands. ... Die behaarten Hände ruhten gefaltet auf seinem Bauch, vielleicht schlief der Mann, vielleicht war er auch ins Gebet oder in eine teuflische Gotteslästerung versunken. Die Augen öffneten sich, der Blick stach. "Und?" fragte die Stimme. In seiner überreizten Nervosität begriff Katadreuffe dieses Wort auf der Stelle. Es schlug eine Brücke über die Lücke in einem Gespräch, das nun schon so lange andauerte. Keine Begrüßung einer neuen Gestalt, eines nie angesprochenen Sohns. Wie die natürlichste Sache der Welt ein Bindewort, das sagen wollte: Wir sitzen hier noch immer zusammen. Ein Wort, drei Buchstaben - alles.

    Die stumme Verbindung, das stumme Gespräch zwischen Vater und Sohn, Gläubiger und Schuldner hat eine mythische, geradezu alttestamentarische Logik: hier das grausame, unantastbare, zermalmende Gesetz, dort das Opfer, das sich zugleich unterwirft und um Emanzipation ringt. In diesem Prozess ist Katadreuffe gefangen, er verleiht dem Roman eine Spannung, die durch Bordewijks Hang zur Groteske, durch die suggestiven Schauplätze und die surrealen Personenbeschreibungen noch gesteigert wird, etwa bei einem der dämonischen Vollstreckungsgehilfen des alten Dreverhaven:

    ... der Anblick wurde vollends zum Schrecken, wenn man in seinem Gefolge den Riesen heranschlenkern sah mit dem schlaffen Hals, dem großen, pendelnden Kopf und einem Maul, das sich über der Beute weit auftun konnte. Wie ein Hafenkran mit einer Stahltrosse und einem daran hängenden Trog ...

    Unterm väterlichen Damoklesschwert verfolgt Katadreuffe eisern seine Ziele und nimmt dabei zwanghafte Züge an. Sein Kräftemessen mit dem drohenden Vollstrecker trägt Zeichen von Selbstbestrafung, spätestens dann, wenn er seinerseits den Vater zu weiteren Schikanen provoziert. Er übt sich in pedantischer Selbstkasteiung, er lehnt jede finanzielle Erleichterung ab, wehrt sich gar gegen eine Gehaltserhöhung, und er weist - wie vordem seine Mutter den Heiratsantrag des Vaters - alle Frauen ab, auch das edle, schöne, gebildete Fräulein te George. Es ist kein Zufall, dass beide, Vater und Sohn, von der Mutter nur in Form eines Personalpronomens reden. Jacoba Katadreuffe heißt immer nur "sie"; ihre Namenlosigkeit entspricht dem im Namen des Vaters ausgesprochenen Nein.

    Auch er sprach so von der Mutter. Und es stellte jäh eine Verbindung her, er fühlte, dass dieser Mann trotz allem sein Vater war, er konnte es nicht begründen, er hörte die Stimme desselben Bluts. Dieser Mann würde immer sein Vater bleiben, in Gedanken und Worten würde er nie anders sein als sein Vater, er war immer wie sein Vater gewesen.

    Die größte Überraschung dieses beklemmenden, in allen entscheidenden Aspekten an Kafka erinnernden Romans ist das Ende, das unter solchen Vorzeichen eine gelungene "Charakterbildung" des Protagonisten behauptet, ja suggeriert, dass die schändliche Hintertreibung durch den Vater Katadreuffes Entwicklung befördert habe. Nichts kann den Leser stärker verunsichern, nichts kann die Verwirrung archaischer Kategorien durch die Moderne prägnanter illustrieren als diese konsequente Dekonstruktion des Vater-Sohn-Verhältnisses.