Der unvermutete Zusammenstoß mit der Dichtung brachte mir Vor- und Nachteile. Der folgenschwerste Nachteil war der, dass eine Karriere als Ingenieur oder Wissenschaftler untergraben und zerstört wurde, als wäre ein korrodierender Stoff in sie eingedrungen, gegen den keine Formel mehr half. Eine beinahe schon greifbare Laufbahn als seriöser Mann, eine Karriere, für die ich feig und geschickt genug gewesen wäre. Da jedoch die Versorgung der Bevölkerung mit prominenten Persönlichkeiten gesichert ist, war mein Ausscheiden nur ein unbedeutender Betriebsunfall.
Wer ausscheidet, muss erst einmal eingetreten sein, und daran hapert es bei diesem Autor offenbar grundsätzlich. Allen Zusammenrottungen feindlich gesonnen, blieb er auch dem Literaturbetrieb stets fern, obwohl der heute 75-Jährige ihn mit verblüffenden Beiträgen bereichert hat. Was nützt es, wenn das niemand wahrnimmt? Wenn die Feuilletons alle Jubeljahre mal eine Kritik veröffentlichen, und die Leser auf wohlmeinende Buchhändler und Antiquare angewiesen sind, um eines der mittlerweile 25 Amanshauser-Bücher in die Hände zu bekommen? Natürlich ist der Salzburger Musensohn selbst schuld an seiner Isolation, das gibt er unumwunden zu. Denn friedvolle Bejahung, wie man sie in der Festspielstadt erwarten darf, ist seine Sache nicht:
An einem Ort, der so viel positive Kunst hervorbringt (...) kann man über meine winzige Negativität einfach hinwegsehen. N ist deutlich kleiner als P, wie ein Mathematiker sagen würde; N kann also vernachlässigt werden. Jede Stechmücke, die in einem erstklassigen Salzburger Hotelzimmer auftaucht, wird sich weit negativer auswirken können als ein gedruckter Satz zwischen Buchdeckeln.
Das muss ein seltsamer Kauz sein, der als Belletrist in mathematischen Variablen denkt und die eigenen Texte aus statistischen Erwägungen für rekombinierbar hält. Aber es kommt noch schlimmer: All jene, die glauben, eine Eins in Deutsch setze die Fünf in Mathematik voraus, werden von Gerhard Amanshauser am Schlafittchen gepackt. »Über den Stellenwert der ersten drei Vokale im österreichischen Dialekt« lässt sich beispielsweise nur formelhaft sinnieren:
Um die Bivokale vollständig zu erfassen, müssen wir die Mathematik, und zwar die sogenannte Kombinationslehre, zu Hilfe nehmen. Wollen wir etwa alle zweigliedrigen Ausdrücke erhalten, die sich aus den drei Elementen a,e,i bilden lassen, so beweist uns die Kombinationslehre, dass es 32=9 Variationen gibt. Wenn wir auf Verdoppelungen, also auf (a,a); (e,e); (i,i) verzichten, so verbleiben 3!/(3-2)=6 derartige Ausdrücke. Verdoppelungen treten ja im allgemeinen nur bei Exklamationen auf (wenn wir von dem Ausdruck »a a« absehen, der auch eine beschönigende, nur wenig volkstümliche Bezeichnung für Exkremente darstellen kann).
Horribler Abstraktionswahn? Mitnichten. Denn nach der respekterheischenden, aber mathematisch ziemlich sinnlosen Formel – Divisionen durch Eins zeitigen keinerlei Nutzen –, folgt ein gänzlich unmathematischer Parforceritt durch die Welt der Ein-Buchstaben-Worte, wie sie nur der österreichische Dialekt hervorgebracht hat. Und was für ein Parforceritt! Karl Valentin lugt um die Ecke, Ernstl Jandl ist auch nicht weit.
1) (a,e) Die Bemerkung »a e!«, bei der die Betonung auf dem gedehnten e liegt, ließe sich etwa mit »ach, ohnedies!« ins Hochdeutsche übersetzen und käme etwa als Replik auf die Versicherung »er kommt e a« (er kommt ohnedies auch) in Frage.
2) (a,i) »a i?« bezeichnet eine ungläubige Frage (ach so, ich?), wenn jemandem der Verdacht kommt, er könnte gemeint sein.
3) (e,a) siehe Beispiel 1.
4) (e,i) »e i« (ohnedies ich) ist z.B. eine differenzierte Antwort auf die Frage »wer hat denn dann zahlt?«
5) (i,a) Mit »i a« wird in Österreich nicht ein Eselsruf bezeichnet (niemand, der je den Schrei eines Esels gehört hat, wird den Ruf mit »i a!« wiedergeben), sondern »i a« heißt einfach »ich auch«. Die sozusagen keuchende Umständlichkeit des Hochdeutschen wird hier auf die kürzeste und leichteste Weise beseitigt »Des kann i a!«: Ein Ausruf, wie er etwa einem österreichischen Schriftsteller unwillkürlich entschlüpfen mag, wenn er das Werk eines Konkurrenten durchblättert.
6) (i,e) Dieser Ausdruck erscheint z.B. in der Replik »Waß i e« (das weiß ich ohnedies), die in wegwerfendem Tonfall verwendet wird, wenn ein anderer sich anschickt, sein Wissen auszubreiten. In der Melodie dieser Replik liegt die Abgebrühtheit dessen, der ein Kaiserreich verspielt hat.
Wo, mag sich der Leser fragen, bin ich da nur hingeraten? Schwer zu sagen, denn das Universum des Gerhard Amanshauser lässt sich literaturgeographisch kaum eingrenzen. Es kennt keine Genre-Ländereien und keine Zäune zwischen den Parkanlagen der ernsten und den Gärten der heiteren Kunst. Hilfsweise hat ihn die Kritik als Satiriker eingestuft, aber das ist angesichts der Bedeutungsschrumpfung des Begriffs auf Fernsehcomedy-Format heutzutage eher eine Beleidigung. »Akrobat des Geistes« wäre der passendere Titel, schlagen Akrobaten doch unvorgesehene Pirouetten und erstaunen durch ihre Biegsamkeit. Zirzensische Kunstfertigkeit beschreibt dabei nicht nur die Methode Amanshausers – Tänzeln auf dem Hochseil als liebste Beschäftigung –, sie liefert auch manches Mal den Stoff für seine Miniaturen. Allerdings auf andere Weise als etwa bei seinem Landsmann André Heller; von Sentimentalität keine Spur. Hören wir die »Aussage eines Löwen zum Ableben eines Dompteurs«:
Nach der Löwenpyramide gibt es Fleisch, das weiß jeder. Die Peitsche knallt, wir springen herunter und rennen durch den Gittergang hinaus in die dunklen Käfige zu den Fleischbrocken. Der Aufbau der Pyramide, die wir aus unseren Leibern bilden, ist unangenehm und offenbar sinnlos. Wir sind aber trotzdem mit Eifer dabei, weil es die letzte Anstrengung vor dem Essen ist. Um so lästiger war es mir immer, dass es mir als einzigem Löwen nicht erlaubt war, mit den anderen sofort Aufstellung zu nehmen. Ich sollte vielmehr auf das Peitschenzeichen nicht reagieren, auf meinem Hocker sitzen bleiben und den Aufbau der Pyramide verzögern. Doch nicht nur das; auch brüllen sollte ich womöglich und die Pranke gegen den Dompteur erheben. Mit nüchternem Magen! Und das alles nur deshalb, weil dieser Mensch vortäuschen wollte, dass seine Arbeit gefährlich sei. Aber schließlich bin ich ein Löwe und kein Clown. Ohne Pyramide gibt es nachher kein Essen, gut, das ist der Lauf der Welt. Aber diese betrügerischen Verzögerungen müssen den Sanftesten ärgern. Und wenn ich schon vor dem Essen noch einmal die Pranke erheben musste, dann wollte ich wenigstens einmal ehrlich zuschlagen. Niemand kann von einem Löwen verlangen, dass er die Stärke von menschlichen Hirnschalen kennen soll. Ich weiß, was Löwenschädel aushalten. Dass Menschenköpfe so schwach sind, konnte ich nicht wissen. Im übrigen soll man sich nicht aufregen. Der nächstbeste Stalljunge kann die frei gewordene Stelle des Dompteurs einnehmen. Er soll nur den Bau der Pyramide nicht verzögern, während man draußen schon das Fleisch riecht.
Nein, kein aktueller Kommentar zum traurigen Fall des Showstars Roy Horn, dessen Raubkatzen sich nicht bis zum jüngsten Tag herumkommandieren lassen wollten. Vor dreißig Jahren erstmals publiziert, ist der Text seither mehrfach von der Wirklichkeit beglaubigt worden. Seine hinter dem harmlosen Tonfall lauernde Bösartigkeit verweist aufs universale Prinzip: dass Bändigungsnummern im hellen Scheinwerferlicht weitaus freundlicher aussehen als hinter den Kulissen. Egal ob im Zirkus oder in Beziehungen, in Politik oder im Kulturbetrieb – Dompteure glänzen nur so lange, wie die Domestizierten deren Drohungen ernst nehmen. Die erhobene Pranke der Unterdrückten, das weiß
Amanshauser freilich nur zu genau, ist dabei eher Wunschvorstellung denn konkrete Verheißung. Als Abkömmling eines stramm nationalsozialistischen Elternhauses in die HJ-Uniform gleichsam hineingeboren, fällt das Resümee des 1945 radikal Bekehrten bitter zynisch aus:
Viele meiner Bekannten, unzählige meiner Altersgenossen mussten, als ihre Kindheit verdorben war, um den Besitz von Wüsten kämpfen, die sie zum Teil selbst hergestellt hatten.
Wer kämpft, bezieht Position, und Positionen können im undurchsichtigen Wechselspiel der Werte schnell auf die falsche Seite führen. Wie viele seiner Altersgenossen, die bei Kriegsende ums Soldentenleben und -sterben gerade noch herumgekommen waren, wurde Amanshauser zum radikalen Zweifler. Allerdings weitaus radikaler als jene Salonskeptizisten, die in ihren Schriften und Reden die Flagge der Bedenklichkeit hissen und dann unter Applaus die Gratifikationen der besseren Gesellschaft annehmen. Amanshauser desertierte nicht nur aus dem bürgerlichen Leben, er begab sich gleich auf eine interstellare Umlaufbahn. Denn sein Werk – selten in der deutschen Hochliteratur – scheut vor Berührungen mit dem Science-Fiction nicht zurück, ermöglicht diese Gattung doch die schonungslose Beobachtung des irdischen Gewimmels. 1979 erfand er eine extraterrestrische »Sonde«, um das merkwürdige Treiben der Erdlinge zu explorieren. Zunächst die Definition ...
Sonden sind Apparate, die in fremde Umgebungen und Atmosphären eintauchen, um sie zu erforschen.
... dann die Besonderheit des Amanshauserschen Exemplars:
Schließlich können die Emittenten von dem, was erst erforscht werden soll, keine erschöpfende Kenntnis haben. Also wird es sich bei den Sonden immer um mangelhaft angepasste Vehikel handeln, die sich in fremder Umgebung durch eine Eigenschaft bemerkbar machen, die wir als Torkeln bezeichnen wollen. Das Maß des Torkelns, für das eine mathematische Basis existiert, gibt uns den Grad der Anpassung. Je geringer das Torkeln, desto vollkommener die Anpassung. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass stärkeres Torkeln unheimlicher erscheint als schwächeres. Die stärkste Wirkung des Unheimlichen auf einen Beobachter ergibt sich dann, wenn eine Sonde, die so gut angepasst war, dass sie nicht als Sonde erkannt wurde (dass also ihr Torkeln unterhalb der Wahrnehmungsschwelle lag), plötzlich so stark zu torkeln beginnt, dass die Wahrnehmungsschwelle überschritten wird und ihre Fremdheit in Erscheinung tritt. Jede Sonde wird versuchen, solche Entgleisungen zu vermeiden.
Da sind sie wieder, die Zentralmotive Anpassung und Abweichung, Spurtreue und Entgleisung. Keine Frage, Gerhard Amanshauser ist selbst eine Sonde! Belege finden sich zuhauf, etwa in scheinbar autobiographischen Aussagen:
Infolge eines psychischen Mangels war es mir unmöglich, den jeweiligen Lebensstandard, der doch das wichtigste Glücksziel bezeichnete, mitzuerleben. In Bezug auf den Lebensstandard war ich gleichsam frigid.
Typisch Android-Sonde der ersten Generation, und die extraterrestrischen Intelligenzen, denen wir das Modell Amanshauser verdanken, machten noch weitere Fehler: Zwar spricht ihr Spion ausgezeichnet deutsch, doch unterlaufen ihm hin und wieder sondenbare Formulierungen, von seiner eindeutig verzerrten Perspektive auf felix Austria ganz zu schweigen. So geraten seine Erzählungen, Miniaturen und Essays regelmäßig ins beschriebene Torkeln und treten den Menschen dann in ihrer Fremdheit als Kunstwerke entgegen. Zugegeben, die Wächter im Feuilleton haben das nie bemerkt, womit die absolute Unauffälligkeit Amanshausers gewahrt blieb. Doch wozu, ihr Herren im Weltall? Wozu überhaupt jemanden über Österreich absetzen, dessen Bewohner alles andere als exemplarische Erdlinge darstellen, da sie sich hauptsächlich damit beschäftigen, was sie von ihren nördlichen Nachbarn unterscheidet?
Ein Sprichwort sagt ''Daheim ist daheim''. Aber manche sind daheim viel daheimer als andere. Bei uns in Österreich scheint es sich nun so zu verhalten, dass die meisten, die hier daheimer als daheim sind, sich auch wesentlich deutscher als die anderen fühlen. Natürlich gehen sie nicht so weit, dass sie sich etwa nicht über die Deutschen mokieren, wenn diese leibhaftig über die Grenze kommen. Offenbar ist Deutschsein nicht etwas banal Praktisches, sondern eine Art inneres Fest. Da mag es dann ein besonderes Festvergnügen sein, sich als Österreicher intensiv deutsch zu fühlen, weil man gleichsam deutscher ist, als es ein Deutscher je sein könnte. Für ihn ist Deutschsein mehr oder weniger selbstverständlich, so dass es ihm schwerer fällt, das Aparte daran herauszufinden. Für den Österreicher dagegen hat Deutschsein offenbar einen historischen Hautgout. Er kann also penetrant deutsch sein.
Ja wäre Gerhard Amanshauser wirklich eine Sonde, müsste man sich keine Gedanken machen, wie man ihn von falschen Zuschreibungen erlöste. Dann kehrte er nach Ende seines Auftrags auf seinen Heimatplaneten zurück oder zerschellte, verglühte, vereiste im All. Die literarische Fiktion täuscht jedoch nur mühsam darüber hinweg, dass die splendid isolation des Salzburger Autors einen bitteren Beigeschmack hat. Als einziger der österreichischen Schriftsteller seiner Generation hat er den Weg über die Grenze in den deutschen Kulturbetrieb nicht geschafft, und das, obwohl – oder weil? – er der unösterreichischste von ihnen ist.
Gewiss, er kann lautmalen wie Ernst Jandl, Granteln wie Thomas Bernhard, Sprache zerlegen wie die Wiener Schule, aber sein eigentlicher Vorzug liegt in der spielerischen Verknüpfung von naturwissenschaftlichem Interesse und erzählerischer Artistik. Darin gleicht er dem K.u.K.-Maschinenbauingenieur Robert Musil, dessen Projekt des »essayistischen Zeitalters« in Gerhard Amanshausers Prosa seine Fortsetzung findet. Essayismus ist eine Form der Philosophie, weil er überall Sinn entdeckt, ohne dass sich der Entdecker bemüßigt fühlen müsste, gleich ein System darauf zu errichten. Wer dieses frei vagabundierende, spekulative und manchmal etwas spinnöse Denken liebt, findet bei Gerhard Amanshauser sein Glück, gleichgültig, ob er genuin essayistische Texte, erzählerische oder autobiographische Prosa liest.
Im vorliegenden Sammelband unter dem bizarren Titel »Entlarvung der flüchtig skizzierten Herren« wird aus der Unart des literarischen Verschnitts eine Tugend, treten doch die vielfältigen Beziehungen im Œvre des Autors zutage. Dass dem Buch eine 74-minütige CD mit historischen Lesungsaufnahmen beiliegt, fällt hingegen eher in den Bereich Marketing. Wie die allermeisten Schriftsteller ist Amanshauser nicht der beste Interpret seiner Werke. Doch gemach – lesen muss man diesen Autor, hören nur wenn man sich beide Arme gebrochen hat! Seine Texte bieten eine solche Fülle an sprachlichen Genüssen und geistigen Anregungen, bereiten ein solches Lesevergnügen, dass man gar nicht nachvollziehen kann, warum er in seinem 76. Lebensjahr noch immer auf den gebührenden Ruhm warten muss. Neben den üblichen Verschwörungstheorien – dass jemand, der die Ruhmverleiher verachtet, kaum von ihnen bekränzt werden wird –, trifft Amanshauser selbst ein gerüttelt Maß Schuld:
Für Kunst als Bildungsstoff hatte ich nichts übrig. Unerklärlich blieben mir die Alleskenner, die angebliche Meisterwerke verschiedenster Zeiten und Kategorien »genießen«, ohne dass man irgendwelche Folgen an ihnen bemerkte. Ich ließ mich nur von meinen Vorlieben leiten. Mit Sehenswürdigkeiten sollten sich die anderen befassen.
Hilft nichts – und sei es auch gegen den Willen des Mannes – er muss als Sehenswürdigkeit ausgerufen werden! Nur dann nehmen ihn diejenigen wahr, denen bislang noch gar nicht bewusst geworden ist, dass sie geborene
Amanshauser-Leser sind. Ihr Persönlichkeitsprofil verquickt eine Vorliebe für Stanislaw Lem mit einer Schwäche für die Herbert Achternbusch. Sie haben in grauer Vorzeit Wolfgang Hildesheimer und Donald Barthelme bewundert und finden an Robert Musil gut, was er aphoristisch kann, aber schlecht, dass er es immer so breit auswalzt. Sie lieben das Schräge in prägnanter Kürze, nur dumm darf es nie sein. Ein Schuss Morbidität als Memento mori tut dagegen immer gut:
Manchmal schlief ich zufrieden unter zehn Mückenleichen, die an meinen Wänden klebten. Wäre dagegen die Leiche einer Maus neben meinem Bett gelegen, so hätte ich sie entfernt. Je ähnlicher ein Tier uns ist, mit desto größerer Abneigung betrachten wir seine Leiche.