Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


Ein wildes Stück Land

In der Gegend von Passau hat sich die Donau den Weg durch den uralten Granit der Böhmischen Masse gebahnt. Der Großteil des Granits befindet sich nördlich der Donau. Ein bisschen was davon aber auch südlich von ihr, auf österreichischer Seite. "Sauwald" heißt das waldreiche und hügelige Gebiet. Nur selten verirren sich Touristen dorthin, wo bis vor nicht allzu langer Zeit des Sonntags nach der Kirche noch zum Zeitvertreib gerauft wurde.

Von Lothar Bodingbauer | 02.09.2012
    Es gibt Hinweise darauf, dass man als Fremder im Sauwald nie ankommen kann, denn wenn man sich dem Gebiet nähert, und fragt, "bin ich schon da", sagen die Leute dort gerne "nein", "weiter da oben" sagen sie, und sie sagen "weiter dahinten". Das setzt sich so fort, bis der Suchende lange Zeit niemanden mehr trifft, dann plötzlich an der Donau steht, den Passauer Dom sieht und erkennen muss: im Sauwald bin ich gerade gewesen.

    Er muss es daher mit einem Trick versuchen und fragt die Menschen dort nach ihrer Sprache, am besten einen Schübel Kinder. Er bittet sie zu zählen und wenn es sich so anhört, dann weiß er, ja, jetzt bin ich wirklich da.

    Sprachlich ist unüberhörbar Bayern nahe.

    "Wir im Sauwald haben einen Dialekt, wir gehören zum Bayrischen Dialektkreis dazu. Am Anfang verstehst du es sicher schwer, aber mit der Zeit gewöhnst du dich daran."

    Hier in Wernstein und Neuburg, nur noch einige Kilometer vor Passau, wird es eng für den Inn, kurz vor seiner Mündung in die Donau. Straße, Fluss und Bahn teilen sich das enge Tal. - Wer den Kopf hebt, sieht die vielen Flugzeuge von und nach Deutschland, und wer sich umdreht und über kleine eingeschnittene Bach-Schluchten hinweg bergan geht, der erreicht nach einigen Stunden Wanderung den höchsten Punkt des Sauwalds.

    "Ich bin am Haugstein, 895m Seehöhe in einem Fichtenwald, durchzogen von Buchen, einige Schritte weiter noch, und dann bin ich oben an der höchsten Stelle. Kein Gipfelkreuz sondern unzählige Granitblöcke, verwittert und zerfurcht, eine hohe Waldlichtung mit einer Buche ganz im Mittelpunkt eines Kultplatzes, so sieht es aus, von Granitsteinen, die wie von einem Riesen hingeworfen, hier herumliegen."

    Angeblich war der Wald hier an manchen Stellen so dicht, dass der Kaiserliche Bote erst mit zwei Wochen Verzögerung den Eintritt Österreichs in den ersten Weltkrieg bekannt geben konnte. Wer heute hier wandert, wird aber schnell bemerken, dass der Wald sich wandelt, dass er vielseitig ist, sich immer wieder ändert, und das auf kleinem Raum. 23 verschiedene Waldarten haben unermüdliche Alles-Zähler hier gezählt. Vom Eichen- und Birkenvorwald, der von den Einheimischen auch "Hoad" genannt wird, zu Tannen-, Föhren-, Fichtenwäldern, Waldmeister-Ahorn-Buchen-Mischwäldern, Moorwäldern, Schlucht und Hangwäldern bis hin zu Schwarzerlen-Ufer-Auwäldern.

    "Es ist der Wald, der dir Schutz gibt."

    Sagt Stefanie Haidinger, eine Pensionistin aus Viechtenstein, eine der 30 Gemeinden der Gegend mit etwa 700 Einwohnern.

    "Es gibt verschiedene Wälder. Und der Sauwald ist ein freundlicher Wald."

    Als Kinder sind sie mit dem Postbus um die Wette gelaufen, der Postbus von der Donau herauf schnaufend und langsam fahrend über Serpentinen, die Kinder durch den Wald auf direkter Linie. Gewonnen haben die Kinder meistens, bergan. Und bergab mit dem Schlitten im Winter haben sie immer gewonnen.

    "Du hast irgendwie das Gefühl in dem Wald, da ist etwas um dich herum, das beschützt dich. Also der Wald hinter dir gibt dir Schutz und nach vorne hast du das Gefühl. Hurra, mir gehört die ganze Welt."

    Die ringsherum zu Füßen liegt, denn immer wieder sieht man durch lichte Stellen weit hinab ins Umland. Der Blick ins Innviertel:

    Stefanie Haidinger:"… und der Blick nach Bayern."

    "Ja ich denke, dass man da einfach wandern geht","

    sagt Gabi Bernauer, die auch hier wohnt.

    ""Es ist im Viechtenstein genauso, wenn man raufgeht zum Jagabild. Oder da in Wernstein, wenn man hinunterschaut. Da gibt es schon so Stellen, wo Blicke frei werden, wo man wirklich die Burg Wernstein, die Burg Neuburg, die Innenge bei Schärding, wo man das wirklich schön sieht. Wenn man dort hinkommt, dort kommt man wirklich nur mit dem Fahrrad oder zu Fuß hin, und da kann man es dann bewusst wahrnehmen, wie schön es da ist."

    Gabi Bernauer betreut mit ihrem Mann das einstige Wohnhaus und Museum von Alfred Kubin in Zwickledt bei Wernstein.

    "Kubinhaus Zwickledt, es steht an der Tür."

    Alfred Kubin war ein österreichischer Künstler, der ab 1906 hier gelebt und gearbeitet hat. Kubin war Zeichner, er illustrierte Bücher, hat auch Horrorzeichnungen gemacht für Bücher von Edgar Allan Poe. Kubin war Mitglied der Künstlergruppe "Der Blaue Reiter" in München, und er war damit Wegbereiter der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts. Auch Wasiliy Kandinski gehörte dieser Gruppe an. Die künstlerische Moderne - und das mitten im Sauwald. Schloss Zwickledt in Wernstein am Inn war während der Weltkriege jahrzehntelanger Wohnsitz des Ehepaares Kubin. Der Künstler schätzte den Sauwald wegen der Ruhe. Selbst eher nervös und immer wieder in Sorgen verwickelt, liebte er den Garten und die Gegend rund ums Haus.

    "So ein schöner Garten! – Ja, der Garten ist so belassen wie zu Kubins Zeiten. Früher war es ein Gemüsegarten, der ist aber dann umfunktioniert worden in einen Ziergarten und so ist es jetzt ein gewachsener, wirklich schöner alter Garten."

    Ein Bauerngarten, mit allen Farben, so scheint es, die es gibt in dieser Welt. Kubins Zeichnungen hingegen sind meist Schwarz-Weiß. Angst hatte der Künstler oft, wenn er bei seinen ausgedehnten Spaziergängen länger wo ausblieb, beim Kartenspielen zum Beispiel, in den umliegenden Wirtshäusern. Karl Bernauer führt durch das Kubinhaus.

    Karl Bernauer: "Da hängt Kubin, ich sag das einfach einmal so. Wenn er draußen einmal unterwegs war, und er ist viel zu Fuß gegangen, dann hat er fast immer diesen Wetterfleck getragen. So haben ihn die Leute gesehen und kennengelernt. Er ist oft nach Wernstein gegangen zur Eisenbahn, man kann nach Passau und Linz fahren. Wenn es einmal später geworden ist, dann war es oft so, dass der Franz, der jetzige Bauer, der damals ein kleiner Bub war, mit Kubin mitgehen hat müssen, denn wenn es dämmrig war, hat er sich nicht mehr so wohlgefühlt, wenn er alleine heimgehen musste. Der hat ihn dann heimgebracht und ihn nach Zwickledt zum Hausherrn begleitet."

    und der kleine Bauernbub ging dann seinerseits alleine durch den dunklen Wald nach Hause. Aber Bauernbuben haben keine Angst vorm Wald, sondern Respekt, sagt einige Kilometer weiter in Kopfing, dort wo der Sauwald am dichtesten ist, der "große Bauernbub" Hans Schopf:

    "Das ist einfach der Unterschied von Tag und Nacht. Und es heißt nicht umsonst, der Wald hat tausend Augen. Die hat er auch in der Nacht. Und Geräusche noch viel mehr. Wir sind halt das gewöhnt als Bewohner von da, da sehr viel Wald ist und dass man immer wieder durch den Wald gehen muss. Ich weiß es als Kind noch, wenn wir bei der Musik dabei waren, nach der Musikprobe ist man zu Fuß zum Teil heimgegangen, immer durch den Wald gehen müssen, da hätte ich mir nie was gedacht. Das war halt so."

    Hans Schopf hat in der Sauwaldgemeinde Kopfing einen Baumkronenweg errichtet. Besucher können durch seinen Wald auf hölzernen Brücken durch die Kronen der Bäume gehen, und ihnen dabei in die Augen schauen, wie er sagt. – In die Augen schauten sich die Männer der Region bis vor kurzem auch ganz gerne, und zwar besonders fest, wenn gerauft wurde.

    "Wir haben sogar für's Raufen ein eigenes Gesetz gehabt. Da hat es ein eigenes Landesgesetz gehabt, dass die Kopfinger nur die Hälfte an der Zeit verurteilt wurden, als andere. Weil das war bei uns so überbracht, dass die Kopfinger das so geregelt haben. Das war halt einmal so. Das ist Vergangenheit. Das Raufen hat sich dann aufgehört, ist auch kein System. Aber dass wir ein wenig härter sind, ein wenig rauer in der Mentalität, aber ich sage immer, im Herzen dann doch sehr, sehr weich sind."

    In sogenannten Zechen waren die Menschen früher hier organisiert, kulturell. Brauchtum, Volkstanz und dort und da auch eine Kegelbahn. Das gesellige Beisammensein wird auch heute hochgehalten. Mostverkosten, Traktoren zeigen. Wie zum Beispiel den hier, einen alten "Lanz Pampa" - aus Argentinien.

    Bauernbub: "Jetzt muss ich einmal die Heizlampe aufheizen, dass der Glühkopf einmal warm ist, und dann muss ich warten, bis der Glühkopf glüht, dann kann ich ihn anwerfen. – Ein bisschen weggehen, nicht dass er zu brennen beginnt. – Nein, da kann nichts passieren."

    Jetzt läuft er. Der Jungbauer lacht, holt sich ein hübsches Mädchen im Dirndlkleid und fährt mit ihr ganz stolz davon.

    Ich fahre auch weiter, ein schöner Sonntag, im Autoradio aus dem nur kilometerentfernten Deutschland: der "Sonnstagsspaziergang" eine Reisesendung, die Lust macht aufs Verreisen, zum Beispiel nach Ferrara.

    Ferrara. Mein Kollege kann hier aus dem Vollen schöpfen. Leben und Kultur auf jeden Meter dieser Stadt. Ich aber fahre durch eine fast menschenleere Landschaft. Die Geschichte präsentiert sich hier, so scheint es, vorwiegend als Verwitterung. Links ein aufgelassener Schilift, wegen der wenigen Touristen zahlt sich der Betrieb im Winter nicht aus. Überwachsene Granitblöcke, die in den Feldern und im Wald liegen. Wollsackverwitterung heißt das, wenn das Wetter den Granit über Jahrtausende an Rissen zerfurcht, und die Blöcke dann aussehen, wie aufgestapelte Leinensäcke mit Wolle. In den Feldern wurden diese "Blockhalden" meist weggeräumt, aber in den Wäldern sind noch viele zu sehen. Die Landschaft prägen neben den vielen Waldteilen ebenso viele bunte Wiesen, wogende graue Kornfelder und kleine bäuerliche Siedlungen. Die Gehöfte wurden an den Hängen errichtet, kaum einmal auf flachem Grund, denn dieser ist kostbar. Ein Mosaik auch das Klima. Vom Warmen Hügel her kommend taucht man oft hinab und hinein in einen Kaltluftsee.

    Erfrischend kühl ist es im Sommer auch in der Erde selbst. Ich bin im verabredet mit Hilde Ganglmaier, im Ort Raab. In der "Kellergröppe".

    "Sie sind den ersten Teil der Kellergröppe schon gegangen."

    Gröppe ist ein altes Wort und bezeichnet einen vom Wasser ausgespülten Graben, einen schattigen mittelalterlichen Hohlweg, und in der Kellergröppe in Raab wurden links und rechts in die Wände des Hohlweges 26 Keller in den Sand gegraben, oft 70 Meter tief in den Hang hinein.

    "Die großen Keller werden auch heute noch genutzt von den Baumschulen im Winter zum Pflanzen einlagern. Weil die Temperatur konstant 9 Grad Sommer wie Winter ist. Und wenn Sie wollen, das ist mein eigener Keller, Sie können reinschauen, das ist ein Haushaltskeller, da können wir reinschauen, dürfen Sie sich nicht schrecken, es ist finster (ATMO). Vorsicht! Sie sehen, das ist ein typischer Haushaltskeller. Man lagert Äpfel, ich habe einen Kren herinnen, und die Äpfel können Sie kosten, die kann man noch essen. Ich suche Ihnen einen schönen aus."

    Und wirklich, der Apfel schmeckt gut, vom letzten Herbst den Winter hinüber gerettet, und das ohne Strom. In den großen Kellern wurde auch, als es noch drei Brauereien im Ort gab, Bier gelagert. Ein begeisterter Biertrinker war damals auch Franz Stelzhammer, Dichter und Schöpfer der oberösterreichischen Heimathymne. Ihm wird heute hier gedacht.

    Hilde Ganglmeier: "Der war ja Wanderer, war früher immer zu Fuß gewesen, und ist ganz viel nach Raab gekommen, weil ihm das Raaber Bier so geschmeckt hat. Da hat er so ein liebes Gedichtl geschrieben.- (Räuspert sich). Aber jetzt frisch voran, übers Viechtstein und Fran, wo es das Beste Bier oh gad. Z'Raab halt dich staad. Raaber Bier, Raaber Bier, bist wie ein Graberstier. Haust um dich, schlagst um dich. Sakaratie. – Die Kellergröppe, jede Jahreszeit hat ihren Reiz. Jetzt ist es wunderschön, wenn es grün ansticht. Wunderschön im Frühling, im Winter wenn es hereinschneit ist es wunderschön. Im Sommer ist es sehr kühlend, und im Herbst ist die Laubfärbung das Besondere, das Ganze Flair vom Herbst kommt dann zum Vorschein."

    OT Kinder: "16, 17, 18, 19, 20."

    Zurück in der Schule, bei den zählenden Kindern. Sie haben hier ausreichend Platz zum Spielen und zum Aufwachsen. Wenn sie aber eine höhere Schule besuchen möchten, müssen sie weg aus ihrer Heimat, sagt ihre Lehrerin, die aber selbst nach Jahren im Ausland mit ihrer Familie wieder zurückgekommen ist:

    "In unserem Bekanntenkreis sind viele, die wirklich wo anders studiert haben, etwas gesehen haben von der Welt. Und wieder zurückgekommen sind. Das zeichnet eine Gegend aus, dass nicht nur die Leute abwandern, sondern dass auch wieder Leute zurückkommen."

    Und ein Geheimnis müssen wir noch lüften, sagt der Heimatkundelehrer: warum der Sauwald Sauwald heißt.

    "Der Name Sauwald leitet sich ab vom Passauer Wald, und nicht wie viele meinen würden, von den vielen Wildschweinen, von den Wildsauen. Also: Passauer Wald, Sauwald. Daher kommt der Name."