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Ein Wunder am Ende der Welt

Freunde literarischer Monumentalwerke werden an diesem Bonsai-Roman wenig Gefallen finden. Auf ganze 128 Seiten bringt es der Text, schön groß gedruckt und mit komfortablen Seitenrändern versehen. Das Werk heißt im italienischen Original "San Isidro Futból", was man leicht mit "San Isidro Fußball" hätte ins Deutsche schmuggeln können; aber da auch der Übersetzer gerne dichtet und in diesem Fall wohl auf die Volksfrömmigkeit des deutschen Lesers zielte, wird ein wenig religiöser Aufwand betrieben. Ein verkaufsförderndes Wunder musste also als Titel her, und dieses Wunder vollzieht sich im Text tatsächlich:

Helmut Kasper |
    San Isidro, das ist ein Ort irgendwo - beziehungsweise: nirgendwo in Mexiko. "Nirgendwo", weil seine 22 Hütten aus Holz und Blech auf keiner offiziellen Landkarte verzeichnet sind. Auch ist bislang völlig unentschieden, welcher der mexikanischen Staaten - und in Frage kämen Veracrus, Puebla und Oaxaca - die Oberhohheit über diesen Flecken ausübt. San Isidro, eine Utopie aus Winzigkeit - zu klein, um wahr zu sein.

    Nun gilt die komödiantische Hausregel, dass zwergwüchsige Gemeinwesen als Biotope für kauzige Kreaturen taugen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die betreffende Miniatur-Siedlung wie Suleyken in Masuren liegt, eine italienische Mondo piccola wie die Heimat von Don Camillo und Peppone ist oder ein namenloses, von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf. Und San Isidro erscheint wie eine Synthese solcher Ortschaften, die sich literarisch bewährt haben. Die San Isidroianer sind so bauernschlau, so liebenswert-verschlagen und sympathisch-brutal wie ihre europäischen Verwandten. Sogar den Zaubertrank gibt es hier auch, wenn der auch in Pulverform verabreicht wird; aber wie die gallische Rezeptur wirkt er im Wettkampf Wunder:

    San Isidro hat nämlich eine turnierwillige Fußballmannschaft. Auf der ortsansässigen Fußballplatz erhebt sich jedoch in Höhe Anstoßkreis ein Mangobaum. Außerdem ist das Feld so abschüssig, dass gegnerische Mannschaften es für unbespielbar halten. Infolge dessen muss San Isidros Team, wenn es zum Match kommt, immer auswärts antreten. Zum Ausgleich trägt die Dorfgemeinschaft zur Instandhaltung des gegnerischen Platzes bei. Also verpflichtet der örtliche Gemeinderat, der unter der weisen Diktatur eines beinahe lesekundigen Revolutionsveteranen steht, den Bürger Alvaro Cristobal zur freiwilligen Spende eines Sackes voller Dünger. Dieser Dünger ist kalkweiß und seine Herkunft dunkel. Und damit kommt die Geschichte in Gang. Man weißt die Linien des Spielfeldes nach, Anpfiff, und San Isidros sportlicher Untergang nimmt seinen Anfang. Bald liegt man 15:0 hinten. Endlich sinkt Quintino Pólvora, der Stürmerstar des Dorfes, der sich in der Nacht zuvor natürlich bei der Dorfschönheit verausgabt hat, ermattet zu Boden. Und dabei fällt er mit der Nase exakt auf die weiße Linie und inhaliert bei dieser Gelegenheit von dem Pulver. Und von dem weißen Pulver wunderbar beflügelt, schießt Quintino Tor auf Tor auf Tor, und seine Mannschaft siegt. Nachforschungen des Athleten ergeben, dass Cristobal seinen Dünger aus dem Wrack eines kleinen Flugzeuges bezieht, das im Dschungel abgestürzt ist. Dort liegt der Wunderdünger sackweise. Quintino entdeckt, dass sein Pulver auch bei den Arbeitern und Angestellten der nächstgelegenen Ranch auf Interesse stößt, obwohl diese nichts und niemanden zu düngen haben.

    Quintino verdient prächtig, sein Angebot spricht sich herum, offenbar bis weit über die Dorfgrenzen hinaus, denn bald tauchen in San Isidro zweifelhafte Gestalten auf: Volkszähler auf Kleinlastern, die auf der Suche nach versteckten Staatsbürgern selbst Schränke öffnen und Matratzen lüften; Justizbeamte, die nach Nachwuchsfußballspielern wie eben Quintino fahnden, Kräfte der landwirtschaftlichen Gegenreformation und anderer imaginärer Behörden. Als dann diese auswärtigen Konkurrenten um das weiße Pulver sich bei einem nächtlichen Showdown im Dschungel gegenseitig lustig über den Haufen schießen, klingen die Schüsse und die Explosionen der Handgranaten nur von ferne an die Ohren der Dorfbewohner.

    Pino Caccucci, der Wahlmexikaner aus Italien, hatte bislang - unter anderem mit dem furiosen Roman "Puerto Escondido" - von Welten erzählt, die einerseits wie das Produkt eines amoklaufenden Zufallsgenerators erschienen, andererseits bei allen Kapriolen, die die Handlung schlug, wunderbar glaubwürdig blieben.

    Das vorliegende Romanolett wirkt dagegen geradlinig, bieder, manchmal schier idyllisch, und die Pointen liegen hart an der Klamaukgrenze: der Entdecker der Drogensäckchen heißt nach dem Entdecker Amerikas Christobal, und der erste Drogenkonsument heißt Polvora, das Spanischen Wort für Pulver oder Schießpulver. Dabei wird nicht einmal das hohe Lied auf Drogenkonsum und Doping gesungen, was doch nahegelegen hätte, wenn man von der schönen Karriere eines Sportlers erzählt, der mal nicht nach deutschen Reinheitsgebot trainiert.

    Stattdessen übergibt der Dorfpriester - natürlich einer von Don-Camillöser-Statur - den Rest vom Kokain einem Drogenhändler, der als Gegenleistung dem Dorf die langersehnte Kirche baut. Halleluja.

    Das alles ist natürlich lustig, und kurzweilig erzählt ist es auch, aber etwas mehr Scherz wäre dem Leser schon zumutbar gewesen. Man schmunzelt; mehr nicht.