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Ein wunderlich chaotisches Wörterbuch

Es war eine übermenschliche Aufgabe, der sich die Brüder Grimm stellten: Ein vollständiges Wörterbuch der deutschen Sprache zu erarbeiten. Das Monument der deutschen Sprache konnte erst 1961 abgeschlossen werden.

Von Florian Ehrich | 04.01.2011
    Walter Jens: "Aber wie viel Spaß dabei, unablässige Belehrung noch durch die scheinbar stupidesten Artikel. Und dann plötzlich Erholung nach angestrengter Lektüre - wer "Zischen" bewältigt hat, sieht sich durch 'Zislaweng' rasch wieder erfrischt."

    So Walter Jens in einer Rede über das "Deutsche Wörterbuch", dessen letzter Band am 4. Januar 1961 in Berlin erschien. Das lexikalische Unikum ist eng mit der Geschichte Deutschlands seit dem Vormärz verbunden. Durch fürstliche Willkür 1837 aus Göttingen nach Kassel vertrieben, schlossen die Gelehrten Jacob und Wilhelm Grimm im folgenden Jahr einen Vertrag über die Erarbeitung eines historischen Wörterbuchs, das den Wortschatz von Luther bis Goethe umfassen sollte.

    In den Zeiten deutscher Kleinstaaterei hatte das Projekt einer Bestandsaufnahme der Sprache eine patriotische Bedeutung. Die lexigrafische Arbeit stellte sich allerdings als viel aufwändiger heraus, als die Brüder Grimm ahnten. Die Ehefrau Wilhelm Grimms, Dorothea, bezeichnete die mittlerweile in Berlin lebenden Brüder nach beinahe 20 Jahren Arbeit an dem Projekt als "völlig verwörterbucht" und klagte:

    "Heraus müssen die Männer, sonst verschimmeln sie ganz, das Ackern geht vom Morgen bis in die Nacht, es ist mir oft ganz Angst dabei."

    Die Brüder arbeiteten täglich bis zu 14 Stunden. Unterstützt wurden sie von etwa hundert Mitarbeitern, die an die 600.000 Belegstellen sammelten und an die Gelehrten verschickten. Dieser Strom der Worte nahm kein Ende, wie Jacob Grimm in seiner Vorrede zum ersten Band, der 1854 erschien, schrieb:

    "Wie, wenn tagelang feine, dichte Flocken vom Himmel niederfallen, bald die ganze Gegend in unermesslichem Schnee zugedeckt liegt, werde ich von der Masse aus allen Ecken und Ritzen auf mich andringenden Wörter gleichsam eingeschneit."

    Nach dem Tod der Brüder wurde das Deutsche Wörterbuch von verschiedenen Gelehrten fortgeführt. Veränderte wissenschaftliche Standards und der Eigenwille der beteiligten Philologen führten dabei zu einem uneinheitlichen Erscheinungsbild. Rudolf Meißner, Anfang des 20. Jahrhunderts selbst Mitarbeiter an dem Großprojekt, schrieb:

    "Mit der Ausführlichkeit in Darstellung und in Belegen, der Heranziehung der Mundarten, der Benutzung der mittelalterlichen Literatur oder der Literatur nach Goethe hielt es jeder, wie er wollte. Man erweiterte allmählich den Plan des Wörterbuchs, aber ohne jede Gemeinsamkeit, sodass das Wörterbuch einen wunderlich chaotischen Charakter annahm."

    Dieser eigentümliche Charakter unterscheidet das "Deutsche Wörterbuch" etwa von dem strenger verfahrenden englischen "Oxford Dictionary". Für Walter Jens liegt jedoch genau hier der besondere Reiz des "Grimm":

    "Aber diese Subjektivität, die Applaus und Widerspruch im gleichen Maße provoziert, sie ist es nicht zuletzt, die den Grimm zu einem Lese-, Debattier- und Schmökerwerk macht und einem Jahrhundertbuch im doppelten Wortsinn dazu."

    Während des Zweiten Weltkriegs ruhte die Arbeit, das Projekt wurde jedoch unter den Bedingungen der deutschen Teilung von zwei Arbeitsstellen, der Ostberliner Akademie und der Akademie der Wissenschaften in Göttingen wieder aufgenommen. Der Symbolcharakter des Wörterbuchs als nationales Kulturgut wurde damit wieder aktuell, wie Walter Ulbricht in einem Brief an den Leiter des Ostberliner Instituts für Sprache und Literatur anlässlich des Erscheinens des letzten Bandes in Berlin erkannte:

    "Sie und alle Mitarbeiter am Grimmschen Wörterbuch haben bewiesen, dass trotz unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen eine fruchtbare Zusammenarbeit im Interesse unserer deutschen Nation möglich ist."

    Mit der Auslieferung des 32. und letzten Bandes am 4. Januar 1961 war die Geschichte des Deutschen Wörterbuchs noch nicht zu Ende. Gegenwärtig wird in Berlin und Göttingen an der Neufassung der ersten, noch von den Brüdern Grimm erstellten Bände gearbeitet. Christiane Unger, Leiterin der Arbeitsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften:

    "Die Bedeutung des Wörterbuchs insgesamt ist beispielgebend für Europa. Es ist das erste große Nationalwörterbuch und war Vorbild für alle möglichen neuen Wörterbücher in Europa, zum Beispiel in den Niederlanden, Norwegen, England, die sich dann auch diesen lexikografischen Projekten zugewandt haben."