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Ein zarter Zug ins Überirdische

Die Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller erhält den mit 25.000 Euro dotierten Wilhelm-Raabe-Preis für ihren Roman "Böse Schafe". Die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung wird alle zwei Jahre von der Stadt Braunschweig gemeinsam mit dem Deutschlandfunk vergeben und erinnert an den großen Schriftsteller Wilhelm Raabe, Ehrenbürger der Stadt Braunschweig.

Hubert Winkels im Gespräch mit Rainer B. Schossig |
    Rainer Berthold Schossig: Raabe lebte von 1870 bis zu seinem Tode 1910 in Braunschweig. Katja Lange-Müller, deutlich mehr als 100 Jahre jünger als Wilhelm Raabe, kann man gewissermaßen als eine deutsch-deutsche Autorin bezeichnen. Frage an Hubert Winkels, den Kollegen und Literaturredakteur beim Deutschlandfunk und Mitglied der Jury: Sie wird vor allem für ihren im vergangenen Jahr erschienenen Roman "Böse Schafe" ausgezeichnet. Und die Jury, zu der Sie, wie gesagt, gehörten, hat gesagt, das sei einer der schönsten deutschen Romane der letzten Jahre. Warum?

    Hubert Winkels: Diese weitreichende Formulierung in drei, vier Sätzen zu erläutern, ist nicht leicht. Ich versuche es ganz kurz. Es ist ein Roman, der eine äußerst zarte, hintergründige Liebesgeschichte erzählt, etwas rau verpackt, auch der Umgang der Liebenden miteinander ist von einer speziellen Rauheit, die die Situation erfordert, ein Junkie und eine lebenslustige ältere Frau. Und in diesem rauen Ton verbirgt sich einfach eine anrührende Geschichte. Das ist das Eine. Das Andere ist, diese extreme soziale Härte, die sichtbar wird durch diese Figuren, durch diese Szenerie. Das Dritte, was jetzt diese, wenn man so will, etwas sentimentale Schönheit auch zu einer literarisch artistischen Schönheit macht, ist die Form des Buches, die Anrede an den Toten der Frau, die erzählt, und zwar im Hinblick auf Aufzeichnungen, die der Tote gemacht hat über sein Leben, die sie postum zu Gesicht bekommt, darin liest, aber sich selber nicht findet, zu ihrem Entsetzen. Das heißt, sie komplettiert eigentlich sich in seinem Leben durch das Erzählen dieses Romans, den wir lesen. Und diese Dinge zusammen, dieser formale, dieser politisch-soziale und dieser inhaltliche Aspekt machen das Ganze zu einem ästhetisch außergewöhnlich guten und deshalb von mir aus auch schönsten Buch der letzten Jahre.

    Schossig: Da kommt die Rede gleichsam aus dem Jenseits, die Angesprochenheit des Lesers, ist das richtig, habe ich das jetzt falsch verstanden?

    Winkels: Nur insofern, als dass der Angesprochene, der Adressat im Jenseits ist, der Tote ist. Die Erzählende ist eine Lebende, aber sie adressiert sich an einen Toten und erzählt dem Toten das Leben von ihm und ihr noch einmal.

    Schossig: "Böse Schafe" ist zugleich ein Buch über die Liebe, über Erotik, über Mitleid, Sie haben es gesagt, auch über soziale Schranken hinweg, und die Jury wiederum, ein wunderschönes Zitat, das ich nicht auslassen möchte, hat dazu gesagt, damit bekomme der Roman einen zarten Zug ins Überirdische. Was haben Sie damit gemeint?

    Winkels: Nun, Sie haben selber schon zwei Aspekte der Liebe angesprochen. Einmal die erotische und einmal auch die karitative, im engeren Sinne, Karitas. Wir erinnern an den Papst, in diesen beiden Formen der Liebe, der kürzlich so betont hat, diese zusammen tragen ein Verhältnis zwischen den Personen, das von einer Absolutheit getragen ist, die im Kern eigentlich nicht mehr menschenmöglich ist. Sie hat genau dieses Gran zu viel, dass man sagt, es ist nicht mehr von dieser Welt. Sie hat etwas Bedingungsloses. Es ist ein absoluter Zug darin. Man muss sich ja klarmachen, er betrügt sie ununterbrochen, er ist ein Junkie, er ist gar nicht da. Sie ist für ihn gar nicht da, und ihre Liebe hat eine Form von überwältigender Absolutheit, die sie leicht vom Menschenmöglichen entfernt. Man ist aber darüber nicht düpiert und denkt, oh, da hat die Autorin aber übertrieben, sondern im Gegenteil. Man ahnt, dass sie an einer Liebesidee partizipiert, die für die Menschen ein wenig zu groß ist.

    Schossig: Zum Schluss noch eine knappe literaturpolitische Frage zu diesem Preis. Die Geschichte ist ja eine aus den Umbruchjahren. Wir haben es vorhin angesprochen, Wendezeit und deutsch-deutsche Autorin. Auf der anderen Seite hat man lange, vielleicht vergeblich auf den deutschen Wenderoman gewartet. Müssen wir eigentlich auf den noch weiter warten oder könnte man sagen, es wird eine Reihe solcher Romane noch geben und den wird es nie geben und "Böse Schafe" ist vielleicht so ein kleines Zwischenfazit?

    Winkels: Na ja, wir haben jetzt so viele Romane, die diese Zeit behandeln. "Böse Schafe" von Katja Lange-Müller oder einer ihrer besten Freunde, Ingo Schulze, hat gerade mit "Adam und Evelyn" dieselbe Zeit behandelt und auch in einem sehr schönen Roman. Mittlerweile haben wir eine Fülle so guter Bücher, dass wir den Roman, den es sowieso nicht gibt, auch nicht mehr brauchen. Er ist in der Fülle mehrerer Romane und Bücher schon lange geschrieben, so würde ich es formulieren.

    Schossig: Das war Hubert Winkels, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk über die diesjährigen Wilhelm-Raabe-Preisträgerin Katja Lange-Müller und ihren Roman "Böse Schafe". Der Preis wird im November in Braunschweig übergeben.