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Ein Zeitgenosse Vermeers

Am 12. Oktober anno 1654 flog der Pulverturm der Stadt Delft in die Luft, eine verheerende Katastrophe, die an die 500 Menschenleben forderte und ein Drittel der blühenden Stadt in Schutt und Asche legte. Zu den Opfern gehörte auch ein aufstrebender junger Maler namens Carel Fabritius, einer der brillantesten Lehrlinge der Rembrandtschule. Hätten Leben und Werk des damals gerade 32-Jährigen nicht ein so tragisch-abruptes Ende gefunden, wäre aus dem damals schon hochgeschätzten Künstler vielleicht ein mindestens ebenso bedeutender Maler geworden wie der - wenig später die Delfter Szene bestimmende - Jan Vermeer. Eines der wenigen erhaltenen Fabritius-Werke besitzt das Schweriner Museum: "Die Torwache", ein nicht eben großes, fast ein wenig Spitzwegisch anmutendes Bild mit einem vor einer in die Tiefe führenden Toreinfahrt eingeschlummerten Wächter, nur der Hund ist noch wach. Doch die Malerei ist aufregend modern für ihre Zeit, nicht nur Licht- sondern auch Materialgetränkt erscheint sie. Die bröckelnde Architektur und der die Augen niederschlagende Soldat sind aufs sensibelste, bis in die letzten Feinheiten in weichem, schläfrigen Nachmittagslicht durchgearbeitet.

Von Rainer Berthold Schossig |
    Um dieses Gemälde herum wurde nun in Schwerin – gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Den Haag – die erste Retrospektive für Carel Fabritius zusammengestellt. Eine kleine aber feine Zeitreise durch die Malerei des Goldenen Zeitalters, beginnend bei Rembrandt und seiner Schule, die Fabritius allerdings früh verlässt. Sehr bald entwickelt er eine Auffassung von Malerei, die sich deutlich von "Rembrandts Manier" verabschiedet. Fabritius entwickelt Zeitgenossenschaft, indem er den eigenen Alltag rings um sich herum zum Thema macht, schlicht die Realität seiner Umgebung zeigt. Dies beweist auch eine winzige, nur 15 cm hohe und 31 cm breite, minutiös gemalte Ansicht von Delft: Fabritius vereinigt in diesem atmosphärisch ungeheuer komprimierten Gemälde, das in der National Gallery London zu Hause ist, auf einer Fläche von wenigen Quadratzentimetern gleich drei simultane Blicke auf die Stadt: Die Vedute zeigt im Vordergrund ein schattiges Ladenlokal mit einem vor sich hin sinnenden Lautenspieler, dahinter eine halbe Umrundung der Stadtkirche und dazu den langen Blick über eine Brücke, hinter der sich die fein gepflasterte Straße zwischen schmalbrüstigen Giebeln weit in die Tiefe senkt. Ermöglicht wird dieses Panorama durch eine optische Verzerrung, wie wir sie von der modernen Froschaugenkamera kennen. Ein Effekt, der auch in den Augentäuschenden Guckkästen jener Zeit angewendet wurde.

    Die neue Malfreiheit des Fabritius wird vor allem an seiner Bearbeitung christlicher und mythologischer Themen ablesbar. Er geht dergestalt souverän und zugleich kunstvoll mit den überlieferten antiken oder biblischen Inhalten um, kombiniert sie scheinbar umstandslos mit Accessoires, Kleidung, den Stadtlandschaften, kurz mit den Alltagssituationen der eigenen Zeit, dass sie Gegenwartsbilder seines Publikums werden. Damit bereitet er das Terrain, auf dem wenig später Vermeer und Pieter de Hooch eine neue Seite im Buch der niederländischen Malerei aufschlagen konnten. Fabritius findet früh und geradezu spielerisch zu einer Frische der Malerei, die wir erst bei Frans Hals wieder finden. Einfache Gegenstände, aber auch einzelne Gesichtszüge, Wangen oder Lippen, seiner Portraits sind gemalt wie aus Einzelteilen, die dem Auge erst beim Betrachten zu einem Ganzen zusammenschnurren. Ein besonders schönes Beispiel dafür der berühmte kleine Distelfink, der sonst im Haager Mauritshuis hängt, direkt neben Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring. Die vornehme Farbigkeit des Gefieders ist wie eine Vorahnung des weichen Pinsels von Chardin. Die grobe, graue Wand dahinter wird durch eine - wie mit der Hand greifbare - Sitzstange aus golden schimmerndem Messing nobilitiert.

    Nach dem frühen Tod des Künstlers wurde es stiller um Fabritius. Viele seiner Gemälde wurden umsigniert und als Rembrandt verkauft, was immerhin verdeutlicht, welche Wertschätzung diese Bilder genossen. Erst im frühen 19. Jahrhundert taucht sein Name wieder auf: Napoleon hatte das Schweriner Gemälde als Beutekunst mit nach Paris genommen, wo französische Restauratoren die Fabritius-Signatur unter späteren Übermalungen wieder freilegten. Die Ausstellung und das begleitende Symposium vermessen das Werk des Carel Fabritius kunsthistorisch neu. Diese Werk-Zusammenschau aus 14 verschiedenen großen Museen zwischen Moskau und Los Angeles, Amsterdam und Boston, Hannover und Glasgow macht das Oeuvre eines Künstlers lebendig und plastisch, dessen plötzlicher Tod der Nachwelt viele Rätsel aufgegeben hat. Zum ersten Mal scheint es gelungen, eine Ahnung davon zu vermitteln, welchen Innovationsschub Carel Fabritius seiner Zeit gegeben hat.