Freitag, 19. April 2024

Archiv


Ein zu Unrecht vergessener Autor

Seine Abneigung gegen den Nationalsozialismus prägte ihn, seine späten Texte wirken verzweifelt. Am Ende geriet der Lyriker Oskar Loerke in Vergessenheit, vielleicht auch, weil er keinen eigenen Ton entwickelte. Eine neue Gesamtausgabe bündelt sein Werk für eine Neuentdeckung.

Von Matthias Kußmann | 21.02.2011
    Selten genug ist heute noch von Oskar Loerke die Rede, und wenn, fallen die gleichen Stichworte: Naturlyrik, unpolitisch, innerer Emigrant. All das stimmt nur zum Teil, wie die Gesamtausgabe seiner Lyrik zeigt. Denn Loerke schrieb auch expressionistisch, liebte die Großstadt und kommentierte die NS-Zeit kritisch in Gedichten. Er gab sie an Freunde weiter, V. O. Stomps druckte zwei Sammlungen privat – hätte man ihn verraten, wäre es sein Ende gewesen. Doch auch ohne Verrat starb Loerke zu früh, mit erst 56 Jahren, herzkrank, am 24. Februar 1941. Er starb an "gebrochenem Herz", meint Uwe Pörksen, der die Ausgabe mit Wolfgang Wenzel herausgegeben hat. Loerke, selbst hochmusikalisch, bezog sich in Essays oft auf Bach:

    "Er sieht in Bach einen Welt-Dichter, einen, der die Welt musikalisch, nach allen Dimensionen, auslotet. Er beschreibt ihn ähnlich, wie er über Goethe hätte schreiben können. Und hier gibt es ja auch eine gewisse Nähe. Er sieht Bach als eine Art musikalischen Weltschöpfer. Das ist sein Vorbild. Und dazu gehört auch eine Bejahung der Welt, eine Zustimmung, eine grundsätzliche Haltung des Erstaunens, des Hinnehmens aller Seiten. Diese Haltung des Weltvertrauens, die erfährt dann einen ungeheuren Knick. Schon '32 hält er die Nationalsozialisten für die "Totengräber Deutschlands" und es entsteht in seiner Dichtung ein seltsamer Riss. Die späte Dichtung hat gelegentlich kurze Verse, in der ein Fluch, ein Verdammen dieser neu aufgestandenen Hölle ablesbar ist, den man überhaupt nicht bei ihm erwartet – so sehr er auch in frühen Gedichten einen sehr genauen Blick für die Realitäten hat und bereits den Ersten Weltkrieg vollkommen abgelehnt hat."


    Ein neues Lied
    Nah kreist der Geier, bereit,
    den Schnabel in Menschenhirn zu picken.
    Ich sehe weit, ganz weit,
    meine Schaukelpferde nicken.

    Die alten Schaukelpferde ruhn,
    Spinnweb in den Mähnen.
    Herbeigekommen ist ja nun
    die Zeit der täglichen Tränen.


    Loerke wird 1884 in Westpreußen geboren, studiert in Berlin und ist ab 1907 freier Autor. Von wenigen Reisen abgesehen, verlässt er die Stadt nie mehr. Er schreibt Romane und Erzählungen, die kaum Erfolg haben. Doch die "Neue Rundschau" bringt einen Text von ihm, so entsteht der wichtige Kontakt zum Fischer-Verlag. Loerke befreundet sich mit dem Lektor Moritz Heimann und wird später selbst Lektor bei Fischer. Zu seinen Autoren gehören Döblin, Thomas Mann und Gerhart Hauptmann, dessen schludrige Manuskripte er redigiert. Zwischen 1911 und '36 erscheinen sieben Lyrikbände von Loerke. Sie sind, von ein paar Essays abgesehen, das Zentrum seines Werks. Am Anfang steht er im Bann des Expressionismus. Immer wieder beschwört er die Großstadt Berlin und den Blick aus seiner engen Hinterhofwohnung.


    Gewölk wie schwefelgelbe Leichentücher
    mit einem Schein von Blut wirft sich und flattert,
    doch läßts die Stadt, die es in sich gewickelt,
    nicht los. Die Tücherzipfel klatschen auf die Türme.


    Doch schon früh schreibt er Gedichte, die einen eigenen Ton finden, musikalisch, sensibel, mit überraschenden Bildern – und manchmal konzentriert in wenigen Versen, auf engstem Raum:

    Lindenblüte

    Träume gehen
    mir voran
    wie auf Füßen,
    und sie stehen
    dann und wann
    unter süßen
    Bäumen still und sehn mich an.

    Doch sie lassen
    ungesehn
    mich vorüber.
    ... Düfte fassen
    sie und drehn
    kreisend über
    Erd und Wipfel ihre Zehn.



    In den nächsten Büchern weitet sich sein lyrisches Repertoire immens. Er schreibt gereimte, aber auch freie Verse, oft lange, fast hymnische Texte. Ein schier enzyklopädisch gebildeter Autor: In Gedichtzyklen durchmisst er die Welt, handelt von Orient und Okzident, Mythos und Religion, Kunst-, Kultur-, Musik- und Literaturgeschichte.

    1926 wird er Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, zwei Jahre später Sekretär der Sektion für Dichtkunst. Es sind Loerkes erfolgreichste Jahre. 1930 zieht er mit seiner Frau und einem Freund nach Berlin-Frohnau in ein eigenes Haus. Aber das Glück währt nicht lang; seine Frau wird alkoholkrank und die Nazis entlassen ihn 1933, nach der "Gleichschaltung" der Akademie, aus dem Amt. Mit 87 andren Autoren unterzeichnet er, auch auf Druck des Verlags, ein "Treuegelöbnis" für Hitler. In den Tagebüchern derselben Zeit sieht man, wie sehr er die Nazis verachtet; bis zu seinem Tod schämt er sich seines Opportunismus'. 1936 publiziert er mit "Der Wald der Welt" seinen letzten Lyrikband. Er kann noch bei Fischer erscheinen, enthält aber schon Kritik am NS-Regime. Zum Abschluss seiner sieben Gedichtbände notiert er:


    Nun geh, mein Siebenbuch, gesellt
    den Trümmern, dem Gerölle;
    begonnen in der lieben Welt,
    vollendet in der Hölle.


    Loerke schreibt weiter, veröffentlicht aber keine Bücher mehr. Seine späten Texte werden immer knapper, wirken oft verzweifelt. Doch daneben stehen leichte, freundliche Verse, die er für Nachbarskinder schrieb. Vielleicht war das seine letzte Möglichkeit, auf die Barbarei der Nazis zu antworten. Nach dem Krieg ist er schnell vergessen; obwohl Freunde wie Hermann Kasack und Wilhelm Lehmann für ihn werben und obwohl sich damals junge Autoren wie Krolow, Huchel und Eich auf ihn beziehen.
    Pörksen : "Er ist ein Mann ganz hoher Qualität, nicht so leicht zugänglich. Die Sprache ist teilweise so reich an Vokabeln, die aus unserem heutigen Wortschatz verschwunden sind, dass er manchem der heutigen Generation Schwierigkeiten machen würde. Wir haben der Sache deswegen auch ein Glossar beigegeben. Trotzdem muss ich gestehen, dass ich's nicht ganz verstehe, warum nicht 15, 20 seiner Gedichte zum allgemeinen Kanon gehören."

    Vielleicht liegt es daran, dass dieser hochgebildete Autor zu fast allem etwas zu sagen hatte, im besten Sinn – doch keinen prägnant eigenen Ton, keine typische Form entwickelte. Und vielleicht braucht es gerade das, eine sogenannte "Marke", um in der Literaturgeschichte, die nicht gerechter ist als jede andre Geschichte, zu bestehen. Loerke schrieb anfangs expressionistisch, war aber kein tragisch Frühvollendeter wie Trakl. Und trotz der Reife seines Spätwerks war er kein Charismatiker wie George, auch kein nihilistisch-schnoddriger Benn. Sein Leben verlief unspektakulär, ohne Selbstinszenierung; stattdessen setzte er sich für andere Autoren ein.


    Von einer bitteren Orangenschale
    ein wenig auf die Fingerkuppen reiben,
    man mags, mein eingedenk.
    Wie man mich rief, kann man zu einem andern Male
    verlöschlich auf die Schiefertafel schreiben:
    für mich ein kleines Weihgeschenk.


    Die "Sämtlichen Gedichte" erschienen erstmals 1958, noch einmal 1984. Dann wurde es endgültig still um Loerke. So füllt die neue zweibändige, sorgfältig kommentierte Ausgabe endlich eine Lücke. Sie ist schön gestaltet, wenn auch der froschgrüne Leineneinband etwas knallig wirkt – und der einleitende gute Essay des Lyrikers Lutz Seiler geschmäcklerisch in grüner Schrift gedruckt ist. Aber sei´s drum. Die Arbeit der Herausgeber überzeugt. Sie haben den Bänden die Edition von 1984 zugrunde gelegt, die Texte aber kritisch durchgesehen und Druckfehler verbessert. Zudem wurden wichtige Essays Loerkes aufgenommen, in denen er über seine lyrische Arbeit schreibt. Und es gibt einige bislang nicht oder verstreut gedruckte Gedichte aus dem Nachlass, während die gesamten Nachlasstexte sinnvoll in vier Abteilungen gegliedert wurden. Abschließend skizzieren die Herausgeber Loerkes Leben und Werk, seine Freundeskreise und seine Arbeit als Lektor. Damit ist der Weg frei für eine Neuentdeckung dieses zu Unrecht vergessenen Autors. In seinem Essay schreibt Lutz Seiler:

    "Loerkes Werk ist ein Bergwerk mit unterirdischen, nie ganz zu Ende denkbaren Gängen und Winkeln, in denen die Schätze nisten. Und wie gut wäre es, wenn wir ihn so ansehen und lesen könnten: Als Schatzgräber, die hoffen dürfen, alle paar Seiten auf etwas Unvergleichliches zu stoßen, das auch im Licht und nach langem Anschauen nicht verblasst."

    Buchinfos:
    Oskar Loerke: "Sämtliche Gedichte." Hg. von Uwe Pörksen und Wolfgang Menzel. Mit einem Essay von Lutz Seiler. Wallstein Verlag, zwei Bände, 1080 Seiten, 49 Euro.